Menschen und das Land: Ein Thema unserer Zeit
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Von Christine Argyle
Das Thema für ein Weltsymposium über Chormusik auszuwählen muss zwangsläufig eine längere Debatte über eine Fülle möglicher Themen auslösen. Aber für John Rosser (Künstlerischer Leiter des 12. World Symposium on Choral Music) und die New Zealand Choral Federation war die Wahl für das WSCM2020 nicht schwierig. Man könnte sagen, dass sie ganz selbstverständlich zustande kam.
‘He tangata / He whenua – Menschen und das Land’ ist abgeleitet von tangata whenua (wörtlich ‘Menschen des Landes’), dem Namen, den die indigenen Māori von Aotearoa Neuseeland nutzen, wenn sie von sich sprechen. Der Begriff tangata whenua wird von Neuseeländern aller Kulturen allgemein verwendet und verstanden, und er impliziert das Konzept von kaitiakitanga – die Sorge für und den Schutz des Himmels, des Meeres und des Landes. In der Weltsicht der Māori gebiert das Land alles, einschließlich der Menschheit, und bietet die physische und spirituelle Grundlage des Lebens.
Eine Aussage auf der Website des Symposiums lautet: “Im WSCM2020 wollen wir durch die Chormusik jene Verbindung erforschen, die Menschen mit dem Land haben, das sie trägt – das Bewusstsein, das sie daraus entwickeln und die Spannungen, die daraus entstehen. Wir glauben, dass dies ein Thema ist, das jeden von uns auf irgendeine Weise berührt und Assoziationen weckt, wie Familie, Pflege, Identität, Stelle, Gemeinschaft, Kultur, Feiern, Nationalismus, Kolonisation, Enteignung, Fremdheit, Partnerschaft, Freiheit, Entwicklung, Verbundenheit, Umweltschutz, urbanes Leben, die natürliche Welt, die Jahreszeiten, Stress und Heilung, Schönheit, Nostalgie, Utopia…”
Man muss nicht weiter blicken als bis zu den großen Komponisten der Romantik, um ein reiches, von der Natur und der Befindlichkeit des Menschen inspiriertes Repertoire von Chorwerken zu finden, und es gibt zahlreiche Beispiele aus den Epochen davor und danach. Aber viele der Chöre, die für das WSCM2020 nach Neuseeland reisen, haben sich entschieden, neue Werke in Auftrag zu geben, die die Beziehung zwischen Mensch und Land untersuchen, während andere auf der Suche nach Inspiration die traditionelle Musik der indigenen Kulturen ihrer Länder erforscht haben. Die reichen und vielfältigen Antworten auf das Thema führten zu innovativen und gedankenanregenden Programmen, die ganz gewiss die Teilnehmer und das Publikum fesseln und begeistern werden , welchen Hintergrund und welchen Geschmack sie auch haben.
The Silent City von Michael Ostrzyga, einem der Gastreferenten beim WSCM2020, ist ein neu in Auftrag gegebenes Werk, das der Stuttgarter Kammerchor unter Frieder Bernius aufführen wird Dieses a cappella Stück beschwört die ehrfurchterregende Landschaft des Bryce Canyon herauf und untersucht die menschliche Antwort auf diese einzigartige Umgebung, einschließlich eines Bezugs zum Schöpfungsmythos eines indigenen Paiute Stammes. Ostrzyga verwendet eine Textkollage, die von Worten auf Paiute bis zu zeitgenössischer Lyrik reicht und Obertongesang von Anna-Maria Hefele (ebenfalls Referentin beim WSCM2020) einschließt.
Dominick DiOrio, Leiter des NOTUS Contemporary Vocal Ensemble, hat auf das Thema mit zwei sehr unterschiedlichen eigenen Werken reagiert. Er schreibt: “Als ich begann, über ‘People and the Land’ nachzudenken, konnte ich nicht anders als zu berücksichtigen, dass in dieser Zeit der Weltgeschichte so viele Menschen vertrieben werden aus den Ländern, die sie seit Langem Heimat nannten. Flüchtlinge in der ganzen Welt leben im Krisenmodus, fliehen vor Verfolgung im Land ihrer Vorfahren, um anderswo eine neue Heimat zu finden. Es ist nicht möglich über das Land zu singen, ohne diese Misere zu berücksichtigen.” Er beschreibt sein Stück You Do Not Walk Alone (2014) als “ein beruhigender Balsam für jene, die fliehen”. In A Dome of Many-Coloured Glass (2010) sagt DiOrio: “die endlosen Weiten der Natur stehen vorne und in der Mitte, und die Dichtung von Amy Lowell beschwört Bilder des Meeres, der Sterne und den Bergen als Vertreter unserer große Gaia Erde herauf ”.
Das Konzept von Gaia – der Ahnenmutter allen Lebens – ist ein wiederkehrendes Thema in WSCM2020-Programmen. My Mother the Earth von Frank Harvøy (Referent beim WSCM2020) bringt in das Programm des Norwegian National Youth Choir und der Nordic Voices eine nordische Perspektive auf die Vorstellung von Mutter Erde, während das mexikanische Ensemble Voz en Punto sein abendfüllendes Konzert mit Xochipitzahuatl beginnen wird, einem Lied an Mutter Erde in der Sprache der Azteken. Zum Programm des Ensembles Vocapella Limburg wird Papatūānuku von dem neuseeländisch-englischen Komponisten Chris Artley gehören. In dem Schöpfungsmythos der Māori hatte Papatūānuku, die Mutter Erde, viele Kinder mit dem Himmelsvater Ranginui, aber sie liebten sich so sehr, dass Erde und Himmel in einer Umarmung verschlossen blieben, die alles Licht ausschloss. Schließlich zwangen ihre Kinder sie auseinander, so dass Licht und Luft es den Wäldern, Meeren, Vögeln, Fischen und Tieren ermöglichten aufzublühen.
Der New Zealand Youth Choir blickt in einem bewegenden Chorarrangement von Tuirina Wehis Waerenga-a-Hika von Robert Wiremu (ein Referent des WSCM2020) nicht auf Sagen der Māori, sondern auf die Geschichte der Māori und auf Kampf um Land. Das Stück erinnert an eine Episode der Landschlachten Neuseelands: die Belagerung 1865 einer befestigten Māori-Siedlung durch Kolonialsoldaten, die zu einem beträchtlichen Verlust an Leben und die Gefangennahme und Deportation der Überlebenden führte.
Ähnliche Ereignisse auf der anderen Seite des Meeres in Australien inspirierten Paul Stanhope zu Jandamarra: Sing for the Country. Das Werk ehrt einen Aborigine des Widerstands in den 1890ern, der weiße Siedler und die Polizei bekämpfte, um sein einheimisches Volk der Bunuba und ihr Land vor Invasion zu schützen. Der Schlusssatz des Werkes, ‘This is our Home’, ist Teil des Programms des australischen Gondwana children’s choir, zusammen mit Songs of the Torres Strait Islands, traditionellen Liedern der Bewohner der Inselgruppe, die zwischen der nördlichsten Halbinsel Australiens und Neuguinea liegt.
Afrika und seine Völker werden in Konzerten des Nairobi Chamber Chorus vertreten – von Liedern der Luo-, Digo- und Giriama-Gemeinschaften in Kenia bis zu Volksliedern aus Namibia, Nigeria und Liberia – während der Müller Chamber Choir of Taiwan ein vielfältiges Programm hat, das von Seppo Paakkunainens Dalvi duoddar luohti, auf eine Yoik Melodie aus Finnland unter Einbeziehung des traditionellen Kehlkopf-Singens, bis zu einem Jagdlied des für seine improvisierte polyphone Vokalmusik bekannten indigenen Bunun-Stammes in Taiwan reicht.
Robert Simpson, der Leiter des Houston Chamber Choir, sagt: “Menschen und das Land ist ein Thema, das in Texas tiefe Bedeutung hat. Wenn man durch seine 268,597 Quadratmeilen fährt, findet man Wälder, Feuchtgebiete, rollende Hügel und Ebenen. Texas ist reich an einheimischer amerikanischer und hispanischer Kultur und bekennt sich auch stark zum Erbe seiner vielen deutschen, tschechischen und polnischen Siedler, die einwanderten, um Farmen und Bauernhöfe aufzubauen. Das Land ist Teil der Menschen von Texas.” Der Chor wird ein Werk singen, das der amerikanische Komponist Pierre Jalbert ihm widmete: Desert Places, auf Texte von Robert Frost, Sappho und Walt Whitman, die die Interaktion der menschlichen Seele mit Kräften der äußeren Welt ansprechen.
Ethan Sperry, Leiter des Portland State Chamber Choir, nutzte das Thema des Symposiums als Anregung für zwei ganz unterschiedliche Konzerte. Das erste, mit dem Titel ’Legends of Rebirth‘, enthält seine eigenen Chorarrangements von Stücken, die von dem Zyklus der Jahreszeiten und dem Lebenszyklus in den Traditionen der amerikanischen Ureinwohner, der Hindu und des haitischen Voudou inspiriert sind, dazu ein Werk von Ēriks Ešenvalds über einen hinduistischen Schöpfungsmythos. In seinem zweiten Konzert wird der Chor ein großes Werk präsentieren: The Consolation of Apollo von Kile Smith. Sperry sagt: “1968 schaute die Welt staunend, als das Raumschiff Apollo 8 die ersten Bilder zeigte, wie die Erde über dem Mond aufstieg. Dieses neue Chorwerk verbindet die Worte der Apollo 8 Astronauten, als sie den Mond umrundeten und das erste Mal den Mondaufgang sahen, mit Worten des mittelalterlichen Gelehrten Boethius, in denen er über den Platz der Menschheit im Universum nachdenkt. Der Höhepunkt des Werkes ist erreicht mit dem Schöpfungstext aus Genesis, den die Astronauten der Welt vorlasen, als die Menschheit die Erde zum ersten Mal mit Hilfe einer Fernsehübertragung bestaunte.”
Das deutsche Vokalensemble Pop-Up Detmold wird ein Konzert mit Jazz, Pop und Musik im Ethno-Stil mit dem Titel ’It’s all about Nature‘ präsentieren, mit Songs von Kerry Marshs Chorarrangement von Woods von Bon Iver bis zu dem wortlosen Gøta von Peder Karlsson, geschrieben als Reaktion auf die Schönheit und die Einsamkeit der Färöer Inseln im Nordatlantik. Es wird auch das Take Six-Arrangement von Manuel Grundens Noah singen. Pop-Ups Leiterin Anne Kohler erwartet, dass die Geschichte einer großen Flut, die mit der Auslöschung von Mensch und Tier droht, das heutige Publikum tief berühren wird …
Der Umgang der Menschheit mit unserer kostbaren Umwelt wird thematisiert in einer Aufführung durch den Hamilton Children Choir von Kasar mie la gaji – The earth is tired, einem Werk, das der venezolanische Komponist Alberto Grau “für eine internationale Bewegung zur Rettung der Erde und eine bewusste Anstrengung in Bezug auf die Probleme der Umwelt” schrieb. Aber das Thema Menschen und das Land wird vielleicht am besten zusammengefasst mit den Worten eines kurzen Liedes, das im Programm der Cantabile Youth Singers of Silicon Valley erscheint: This We Know von Joan Szymko:
This we know, the earth does not belong to us.
We belong to the earth.
All things are connected
Like the blood that unites one family.
Whatever befalls the earth,
befalls the children of the earth.
Dies wissen wir, die Erde gehört nicht uns.
Wir gehören der Erde.
Alles ist mit allem verbunden
Wie das Blut, das eine Familie eint.
Was auch immer der Erde geschieht
Geschieht den Kindern der Erde.
Dieser Artikel erschien zuerst im Choral Journal. Die Erlaubnis zum Nachdruck erfolgte durch die American Choral Directors Association.
Christine Argyle ist Geschäftsführerin der New Zealand Choral Federation und gehörte zuvor dem Vorstand der NZCF an, zeitweise als Vorsitzende. Sie ist seit seiner Gründung 1998 Mitglied des Voices New Zealand Chamber Choir und ist Chorleiterin, Coach und Mitglied von Jurys. Christine Argyle war Gründungsleiterin zweier herausragender Chöre in Wellington: dem Nota Bene chamber choir und dem Wellington Young Voices children’s choir. Ehe sie im Kunstmanagement arbeitete, war Christine Argyle für Radio New Zealand Concert Moderatorin für klassische Musik, schuf Dokumentarprogramme und war Gastgeberin des täglichen Musiknachrichtenprogramms Upbeat dieses Netzwerks. Email: christine.argyle@nzcf.org.nz
Übersetzt aus dem Englischen von Lore Auerbach, Deutschland