Philippinische (Ch)Orale Traditionen: Gruppengesang in der Kultur der Kordilleren
Arjay Viray, Chorleiter und Wissenschaftler, Philippinen
Es ist gut dokumentiert, dass die Philippinen ein singendes Land sind. Von internationalen Gesangswettbewerben und Talentsuchen zu Filmmusik und Liedern für Hollywoods Filmproduktionen – Filipinos sind praktisch überall.
Auf der anderen Seite stehen die Vollblutchöre der Philippinen, die in zahlreichen Chorwettbewerben in den vergangenen Jahrzehnten überall auf der Welt immer wieder ausgezeichnet wurden. Die Ateneo Chamber Singers, die University of Santo Tomas Singers, die University of the Philippines Singing Ambassadors, der De La Salle University Chorale, der Ateneo College Glee Club, der Philippine Normal University Chorale, Imusicapella und die Philippine Madrigal Singers – um nur einige zu nennen, sind alle international anerkannte philippinische Chöre. Ich bin unzählige Male von Gleichgesinnten aus aller Welt gefragt worden, ob eine geheime Zutat hinter diesen außergewöhnlichen Gesangsgruppen steckt – etwas, über das ich nie nachgedacht habe, was ich nie beantwortet habe – bis vor Kurzem. Sicherlich, formelle Musikerziehung spielte eine große Rolle, aber ich glaube, da gibt es etwas Größeres, Tieferes – etwas eher Natürliches und Kulturelles.
Mündliche Überlieferung in kulturellem und künstlerischem Ausdruck ist immer noch gängige Praxis in vielen Gegenden der Philippinen. Sie wird im weiteren Sinne als Bewahrung und Förderung der Kultur nicht im formellen Rahmen von Schule und anderen Lerngruppen, sondern durch zwanglose Ausbildung und experimentelles Lernen definiert. Dieser Artikel untersucht einige dieser Übungen und Traditionen, die von den Kordilleren stammt, einer der meistbesuchten und meisterwähnten Eingeborenenkulturen der Philippinos,.
Die Geschichte des musikalischen Erbes
Die Kordilleren, formell geführt als Cordillera Administrative Region (CAR) sind eine der siebzehn Regionen der Philippinen. Sie liegen im nördlichen Teil von Luzon und bestehen aus sechs Provinzen – Abra, Apayao, Benguet, Ifugao, Kalinge und Mountain Province. Sie sind die Heimat unterschiedlicher Sprachen wie zum Beispiel Tinguian/Itneg, Ifugao, Kalinga, Ibaloi, Kankana-ey. Die Meisten sprechen und verstehen auch Iloco/Ilocano – die Sprache der Tieflandgegenden von Nord Luzon (Ilocos; Region1) ebenso wie in Cagayan (Region 2), und noch einem kleinen Teil von Zentral Luzon (Region 3).
Verschiedene ethnomusikalische Forschungsinitiativen wurden in den vergangenen Jahrzehnten durchgeführt, und es wurde verlässlich dokumentiert, dass die Bewohner der Kordilleren viele musikalische Traditionen in verschiedene Aspekte ihres Lebens integriert haben, unter anderem in die Landwirtschaft, die Wirtschaft, in soziopolitische Bereiche und Glaubenssysteme. Beispielsweise wurden die mündlichen Überlieferungen, wie literarische Epen wie Ifugao Huhud und Kalinga Ullalim, vermutlich während der Aussaat und der Ernte von Reis und manchmal bei Totenwachen gesungen. Der komplette Vortrag dieser Epen dauert mehrere Tage – manchmal auch Wochen – abhängig von der Funktion, in der das Lied genutzt wird. Die Funktion beeinflusst auch die Art des Vortrags, z.B. ist der Gesang bei einer Beerdigung oft unbegleitet und feierlich, während die Erntegesänge mehr festlichen Charakter hatten und wahrscheinlich auch von Instrumenten wie Gangsa (flache Gongs) und Bambusschlaginstrumenten begleitet wurden. Ein anderes Beispiel ist dasCanao unter den Kanakaney- und Ibaloi-Gruppen von Benguet. Das ist ein traditionelles Fest, bei dem es um Anerkennung, Besänftigung der Geister oder einfach Danksagung geht; und es beinhaltet viel gemeinschaftliches Singen, Bambus und Gong spielen und Tanzen. Aber gibt es einen Beweis dafür, dass diese Traditionen der Entwicklung und Verbreitung des Chorsingens dienen?
Ungeschriebene Traditionen von Polyphonie, Heterophonie und Polyrhythmen
Diese kordillerischen kulturellen Traditionen werden von Generation zu Generation weitergegeben. Die Lieder, die Tänze und die rhythmischen Muster der Instrumente wurden anders gelehrt als die jahrhundertealten Kunstlieder und Sonaten, die bis in die Gegenwart weitergegeben wurden. Stattdessen wurden sie von der nachfolgenden Generation direkt in der Gemeinschaft und durch das Beobachten der Älteren erworben. Da die meisten Traditionen und Bräuche Singen, Musik machen und Tanzen in der Gemeinschaft beinhalten, ist die Kunst und Übung des Singens in der Gruppe bei den Bewohnern der Kordilleren natürlich erworben. Sie sind mit Themen und Motiven von einfachen schrittweisen und pentatonischen bis hin zu komplexeren schöneren Melodien groß geworden. Ihre Sicherheit in der Intonation – obwohl als informell, subjektiv und vor allem vergänglich erlebt – basiert auf einer Klanglandschaft, die in ihrem Umfeld ständig präsent ist und damit eine klangliche Konstante bildet. Durch das häufige Spielen von Instrumenten und das viele Tanzen haben die Menschen dort ein sehr gutes Gefühl für Rhythmus. Raffinierte individuelle rhythmische Muster, die sich mit anderen zusammenfügen – üblicherweise in Sechsergruppen und nach Größe geordnet – um komplizierte Melodien zu schaffen, werden oftmals genutzt, um das Singen und Tanzen zu unterstützen. Die stimmliche Resonanz unter wissenschaftlichem Aspekt zu untersuchen, könnte eine ganze Forscherkarriere wert sein, aber wichtig ist zu bemerken, ist, dass die Menschen aus den höheren Lagen des Landes offensichtlich Vorteile durch die Höhe und den höheren atmosphärischen Druck auf ihrer Seite haben.
Großes rhythmisches Können, ausgezeichnete Fähigkeiten im gemeinsamen Musizieren, außergewöhnlicher Sinn für Melodie, Harmonie und stimmliche Resonanz – alles das, dann hat man die perfekten Voraussetzungen für den idealen zukünftigen Chorsänger. Noch wichtiger: all das sind natürliche Fähigkeiten der Menschen auf den Kordilleren, noch bevor sie irgendeine formelle musikalische Erziehung oder Unterricht erhalten haben.
Den Ton setzen und fixieren
Es ist kein Zufall, dass Klangfarbe, Melodie und Intonation und das philosophische Konzept der Einstimmung und sogar das der Versöhnung dieselbe etymologische Wurzel haben. Das lateinische tonus ist offensichtlich der Stamm von mehreren Ableitungen wie dem spanischen und italienischen tono und dem französischen ton, die alle musikalischer Natur sind. Auf der anderen Seite beinhaltet das ältere griechische tonos auch den Begriff straffen – was im Wesentlichen den Akt des Verringerns der Entfernung oder die Trennung von zwei Objekten zu verringern bedeutet – den Zusammenhalt sozusagen. Gemeinsames Singen ist hier nicht das Non-plus-ultra, es ist nur eine der unterschiedlichen Komponenten, die ihr Erbe und ihre Identität hervorheben. Gemäß Gardeners Multiple Intelligences sind das “Musiker Sein“ und die Musikalität, die die Menschen der Kordilleren zeigen, nicht einfach nur künstlerische und musikalische Intelligenz, sondern Ausdruck von einem Zusammentreffen von mehreren Arten der Intelligenz, einschließlich der visuell-räumlichen, interpersonalen, intrapersonalen und sogar die kürzlich hinzugekommene naturalistische Intelligenz. Eines der vielen Dinge, zu denen die COVID-19 Pandemie uns gezwungen hat, ist zu reflektieren und zu introspektieren. Für die Menschen hier ist das Singen in der Gruppe nicht nur eine Form von Kunst, es ist ihr enges Band zu ihrer Umwelt und ihre Bindung an die Erde. Aufgrund all dieser dokumentierten Beobachtungen und Sammlungen von Forschungsarbeiten, die bereits über diese kulturelle und musikalische Praxis der Menschen in den Kordilleren geschriebenen wurden, können wir den Mythos der “geheimen Zutat“ getrost zu den Akten legen. Es gibt keine geheime Zutat zu etwas Natürlichem und Biologischem. Sehen Sie sich nur einige der ausgezeichneten Chöre aus dieser Region wie die University of Baguio Voices, den Saint Louis University Glee Club, die Cordillera Chamber Singers und den University of the Cordilleras Chorale an. Sie wurden in den letzten Jahren ein Zuhause für viele wunderbare Sänger – einige von ihnen haben auch bei internationalen Wettbewerben beeindruckt.
Es ist gut, dass einige dieser kulturellen Praktiken ihren Weg in die Unterrichtspläne philippinischer Schulen gefunden haben. Singen, genau wie andere Formen künstlerischen Ausdrucks, ist immer besser, wenn es in der heimischen Kultur wurzelt. Es wäre gut, den gleichen Fokus zu nutzen, um die Traditionen der Volksmusik anderer philippinischer Gruppen aus anderen geografischen Bereichen (Küsten, Flachland usw.) zu untersuchen, aber das heben wir uns für einen anderen Artikel auf.
Arjay Viray schloss die Philippine Women’s University School of Music mit einem Master ab und arbeitet an seiner Doktorarbeit über Curriculum und Lehren an der Miriam College Graduate School. Er hat mit Chören wie den Philippine Madrigal Singers, dem Philippine Normal University Chorale und dem Ateneo Glee Club gesungen, bei dem er auch als assistierender Chorleiter für Chorentwicklung eingesetzt war. Er hat mit dem World Youth Choir von 2008 bis 2011 und mit dem Time Ensemble von 2014 bis 2019 gesungen. Aktuell singt er mit den Ateneo Chamber Singers unter der Leitung von Dr. Jonathan Velasco. Er ist gegenwärtig Mitglied der Philippine Choral Directors Association, des Philippine Center for Gifted Education, der Kodaly Society of the Philippines und der International Federation for Choral Music. Er ist Vollzeitlehrer für Musik und Darstellende Kunst am Guang Ming College. teacherarjayviray@gmail.com
Übersetzt aus dem Englischen von Andrea Uhlig, Deutschland