Die Orte Chorischen Auftretens und Singens

Nicht nur eine Frage des Raums…

 

Dario De Cicco

 

Nachzudenken über chorische Erfahrungen mit  Räumen, also mit der physischen Umgebung, heißt ein sehr variables Element musikalischer Tätigkeit zu untersuchen. Es beinhaltet notwendigerweise auch eine – wenngleich begrenzte und unvollständige –  Betrachtung der historischen Entwicklung des Chors. Die Räume, in denen gesungen wird, haben sich im Lauf der verschiedenen Kulturepochen geändert. Solche Änderungen sind als Zeichen von Vitalität zu sehen und stehen in engem Zusammenhang mit der ständigen musikalischen und gesellschaftlichen Entwicklung. Beide Bereiche gehören eng zusammen: das Wo des Auftritts eines Chores macht Teil seines Wesens aus.

Aber wie kommen wir heutzutage an Informationen zu diesen Fragen? Wir verfügen da über eine Reihe von Quellen – Historiker unterteilen sie in “direkte” und “indirekte” -, die sich folgendermaßen zusammensetzen: bildliche Darstellungen (die sogenannte “musikalische Ikonographie”), Erzählungen (nicht nur rein musikalische), höfische Chroniken und Register, Briefe, Traktate, Verwaltungsdokumente des kirchlichen Bereichs, etc. Es gibt eine ganze Anzahl aussagekräftiger Beweisstücke, deren Informationen, wenn sie fachkundig gelesen und verglichen werden, uns eine glaubwürdige Rekonstruktion der Entwicklungslinien dieses sehr speziellen Gebiets “gemeinsamen Musizierens” erlauben, das von jeher Teil menschlicher Erfahrung war.

Nach den Orten zu fragen, wo Chöre aufgetreten sind, heißt auch Überlegungen zu der Frage anzustellen, wie der physische Raum mit dem Entstehen und der Entwicklung des Repertoires zusammenhängt: wir denken hier an die Gregorianischen Gesänge, die in die Praxis des benediktinischen Ora et labora  – also in einen klösterlichen Kontext – eingebettet waren, und an die volkstümlichen Gesänge der Renaissance, die bei höfischen Festen und anderen Gelegenheiten vorgetragen wurden. Die Aufzählung könnte so weitergehen mit einer Reihe fast endloser Beispiele, was uns zur Definition einer ersten und wichtigen kreisförmigen Relation führt.

 

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Die Größe der chorischen Gebilde war nicht immer gleich: von zunächst kleinen Einheiten mit nur wenigen Mitgliedern gelangt man  zu Gruppen von 50 bis 60 Sängern, und im 19. Jahrhundert haben wir gewaltige Massenchöre. Solche numerischen Größen haben mit Sicherheit auch bei der Wahl der Ausführungsorte und Organisationsformen eine Rolle gespielt.

Die erste Etappe unserer gedanklichen Rekonstruktion setzt bei den vorchristlichen Kulturen ein, wo die Chorgesänge in Kulthandlungen und Theatervorstellungen eingebunden waren, was deren gesellschaftliche Existenz und Bedeutung legitimierte. Wenig später sehen wir den Chor um den Altar Gottes stehen, wo er sich in unmittelbarem Dialog mit den anderen Zelebranten und der Gottheit selbst befindet. Dieser direkte Bezug zeugt von einer starken kulturellen Stellung und legt den Gedanken nahe, dass Chöre integraler Bestandteil menschlichen Wesens sind. Bei der Aufführung tragischer Theaterstücke stand der Chor in einem eigens gebildeten Halbkreis, der als “Orchester” bezeichnet wurde, vor der Bühne, wo er singen aber auch tanzen konnte. Er war somit “einer der Akteure, Teil des Ganzen und Teilnehmer der Handlung”. Während der leidvollen Phasen der Konsolidierung des Christentums – für die Fragen, die uns hier interessieren, leider spärlich dokumentiert – wurde die chorische Praxis keineswegs vernachlässigt. Aus einigen Bildern, die im Innern der Katakomben in der Gegend um Rom entdeckt wurden, geht hervor, dass das gemeinsame Singen bei der Herausbildung der Liturgie gängige Praxis war. Im Mittelalter sind Aufführungspraxis und Orte chorischen Auftretens und Singens eng mit der Stellung verbunden, die die Musik und musikalische Praxis in dieser Gesellschaft hatte. Besonders bedeutsam ist hier die Verbindung zweier Aspekte menschlichen Lebens, der Bildung und des Glaubens. Hier entwickelte sich die chorische Tätigkeit in den abgegrenzten und stillen Räumen von Kirchen, Klöstern und den “Erziehungseinrichtungen” dieser Epoche, mit einem deutlichen Übergewicht geistlicher Räume gegenüber den weltlichen, auch wenn es heute als gesichert gilt, dass ein Großteil des weltlichen Repertoires des Mittelalters für Chöre gedacht war.

Die Tatsache, dass Benedetto da Norcia (480-547) einige Artikel seiner Regula Monasteriorum der Ausführung von Chormusik widmete, bezeugt deren wichtige Stellung, die sich in den nächsten Jahrhunderten gehalten hat. Für ihn stellt  die konkrete Aufstellung des Chores die Metapher einer geordneten und maßvollen Übereinstimmung zwischen Körper und Geist dar. Und die Anordnung der Mönche beim gesungenen Gebet ist beredter Ausdruck des Willens, Gott zu loben und zu preisen. Aus dieser Sicht sind auch seine genauen Anweisungen zur Art des Sich-Setzens, des Umgangs miteinander etc. zu verstehen: keine sterile Ordung, sondern Ausdruck der Werte, die dem klösterlichen Leben zugrunde liegen.

Im ausgehenden Mittelalter (1000 – 1492) entwickelten sich innerhalb der Kirchen auch gewisse Formen des Theaters, die ihre Anregungen aus den Evangelien bezogen. Bei derartigen Darstellungen spielte auch der Chor eine wichtige Rolle. Hier wurden die ersten Schritte zur Entwicklung und Festigung eines spezifischen Repertoires – den Lauden –  getan, und es bildeten sich Gruppen zu deren Aufführung heraus: die Bruderschaften. Hier führte die chorische Praxis also auch zur Bildung sozialer Gefüge. 

Die Renaissancezeit war für den Chorgesang sowohl in geistlicher wie weltlicher Hinsicht eine fruchtbare Epoche. Die Herausbildung höfischen Lebens als gesellschaftliche Organisationsform war eine gute Basis für immer zahlreichere Auftritte von Chören bei wichtigen höfischen Anlässen. Die dabei benutzten Räume waren die prachtvollen Säle, die im Entstehen begriffenen höfischen Theater etc.. Das Ganze wurde begleitet von der blühenden Entwicklung eines Repertoires, dessen Lieder in einem fruchtbaren Dialog mit der Poesie entstanden. Dank der Räume chorischen Auftretens erstarkten in dieser Zeit die Höfe als Zentren sozialer und kultureller Entwicklung, was insgesamt zu einem Aufschwung der Künste führte. Gleichzeitig kam es auch zu einer Blütezeit der Komposition und des Aufführens geistlicher Musik, begünstigt durch die Ausbreitung kirchlicher Gesangsschulen (scholae cantorum), deren Ziel die Ausbildung von Berufssängern war, die den vielfältigen Formen polyphonen Gesangs die zahlenmäßig notwendige Stabilität geben sollten. Die Notwendigkeit, auf die professionellen Kompetenzen von Berufssängern zurückzugreifen, wurde durch einen beträchtlichen Anstieg der Komplexität der Vokalkompositionen (contrappunto) bedingt, die komplexe Gestaltungs- und Ausdrucksfähigkeiten erforderten, so dass eine einfache sängerische Begabung nicht mehr ausreichte. Die musikpädagogischen Erfolge führten zu zahlreichen Aufführungen an den schönsten Orten der Christenheit, deren Räume sich durch große Pracht auszeichneten und gewissermaßen zu  einem Dialog zwischen darstellender Kunst und Musik einluden, in deren Mittelpunkt der Mensch mit seiner Stimme stand.

In dieser Zeit war die Zweiteilung geistlich/ weltlich auf einer Reihe von Ebenen deutlich – bei der Musiknotation, beim formalen Aufbau der Stücke und den Aufführungsorten von Chören  – was diese in einen Kontext kultureller Dynamik einbettete. Im profanen Bereich halten allmählich eine Reihe von Musikinstrumenten ihren Einzug, was – wie in einer Reihe von Bildern ersichtlich – mit Sicherheit gewisse Anforderungen an ihre Positionierung und das Gleichgewicht mit den Sängern stellte.  Einer der Fälle, in denen die Kreisform benutzt wurde, auf wir  zu Beginn hingewiesen haben, ist in Abbildung 3 zu sehen:

 

Beispiel eines sakralen Barockkonzerts. Die Miniatur stellt die Verleihung der Kardinalswürde an Alfonso Litta dar, die 1666 durch den Gesandten des Papstes, Kardinal Carafa, vorgenommen wurde. Sie stammt aus den “Insignia degli anziani del Comune dal 1530 al 1796”, bei E. MAULE, Momenti di festa musicale sacra a Bologna nelle Insignia degli Anziani (1666–1751), aus «Il Carrobbio», XIII, Luigi Parma, Bologna 1987, p. 261. Der Chor ist in der Mitte zu sehen, die beiden Instrumentalensembles (die cori battenti) jeweils seitlich davon, dahinter die beiden Orgeln.
Beispiel eines sakralen Barockkonzerts. Die Miniatur stellt die Verleihung der Kardinalswürde an Alfonso Litta dar, die 1666 durch den Gesandten des Papstes, Kardinal Carafa, vorgenommen wurde. Sie stammt aus den “Insignia degli anziani del Comune dal 1530 al 1796”, bei E. MAULE, Momenti di festa musicale sacra a Bologna nelle Insignia degli Anziani (1666–1751), aus «Il Carrobbio», XIII, Luigi Parma, Bologna 1987, p. 261. Der Chor ist in der Mitte zu sehen, die beiden Instrumentalensembles (die cori battenti) jeweils seitlich davon, dahinter die beiden Orgeln.

 

Mit dem Aufkommen der opera lirica im 16. Jahrhundert betritt der Chor erneut die Bühne, das Theater. Wir können dies als ein Wiedererlangen der Stellung sehen, die ihm von Anfang an eigen war. Man wies ihm nicht nur einen speziellen räumlichen Standort zu – entsprechend seiner Rolle innerhalb des Theaterstücks – sondern übertrug ihm einen wesentlichen, mit den übrigen Handelnden gleichwertigen Teil des Bühnenspiels.  Die Rolle, die der Chor in der Oper erlangte, war im Lauf der Jahrhunderte und den verschiedenen europäischen Regionen nicht einheitlich. Bei der Durchsicht der Literatur zur opera lírica ist es dementsprechend leicht, in seiner zeitlichen wie räumlichen Verwendung viele Unterschiede  zu finden.

Die musikhistorischen Forschungen haben auch die Bedeutung des Standorts des Chores im Verhältnis zum Orchester betont. Auch auf diesem Gebiet gab es signifikante Unterschiede: von einer Aufstellung des Chores auf der Bühne bis  zu seiner Positionierung hinter oder seitlich zu den Instrumenten. Jede Lösung verfolgte ihre eigene Strategie mit Blick auf die klangliche Wirkung, aber auch auf die Erfordernisse des aufkommenden – und (vom heutigen Standpunkt aus gesehen) noch unsicheren – Dirigats, das oft von mehreren Personen übernommen wurde. Es handelt sich also nicht um eine einzige Anordnung sondern um eine Reihe verschiedener Modelle mit Mischformen. In dieser Hinsicht sind auch die verschiedenen Bühnenformen sehr interessant, sogar bei einzelnen Aufführungen.

 

Joseph Cristophe, Taufe des Dauphins in Gegenwart Lullys, Öl auf Leinwand, Versailles, Schloßmuseum, in AA.VV. (hrsg. G.Taborelli e V.Crespi), Ritratti di compositori, Officine grafiche De Agostini, Novara 1990, pp. 42-43
Joseph Cristophe, Taufe des Dauphins in Gegenwart Lullys, Öl auf Leinwand, Versailles, Schloßmuseum, in AA.VV. (hrsg. G.Taborelli e V.Crespi), Ritratti di compositori, Officine grafiche De Agostini, Novara 1990, pp. 42-43

 

Bei der Aufstellung des Chores hängt – und hing in der Vergangenheit – vieles  vom Stil des Dirigenten ab. Die Verwendung (oder Nicht-Verwendung) eines Taktstocks zusammen mit der Entwicklung einer echten, speziellen “Theorie” des Dirigats gaben den Anstoß zur Festlegung bestimmter szenischer Anordnungen des Chores: vor, seitlich oder hinter dem Orchester. Eine besonders hervorragende Rolle wurde dem Chor in den Opern von Guiseppe Verdi zuteil, wo er oft die sensible Aufgabe eines Interpreten der Wertvorstellungen einer bestimmten Gesellschaft erhielt.

Die vorliegende Untersuchung konzentriert sich vor allem auf die sichtbaren Aufführungspraktiken, jedenfalls solche, die an Orten bzw. in Räumen stattfanden, die dem Publikum offenstanden. Man muss aber auch auf das Vorhandensein chorischer Aktivitäten in klösterlichen Gemeinschaften hinweisen, die – vor allem wegen der Strenge früherer Zeiten – dem Publikum oft nicht zugänglich waren. Dort war die Praxis gemeinsamen Singens Teil der Religionsausübung (wie es heute noch ist). Sind Aufführung und Art des Zuhörens heute noch dieselben? Liegen der früheren Aufführungspraxis andere Parameter zugrunde? Und wie war das klangliche Resultat? Welches Verhältnis besteht bei der Konzertpraxis von heute zwischen visuellen und akustischen Aspekten?

Ein weiterer wichtiger Gegenstand unserer Überlegungen betrifft die Auswahl der Baumaterialen für die Räume, in denen gesungen wird: warum wurde im Mittelalter und danach fast ausschließlich mit Stein gebaut? War er einfach reichlich vorhanden, oder war es eine bewusste Entscheidung? Auf den ersten Blick scheint das nicht so wichtig, aber wie viele Chöre verlassen die “dumpfen” Betonbauten, in denen sie ein Konzert gegeben haben, mit einem Gefühl von Frustration, weil das Ergebnis ihrer Bemühungen so unbefriedigend war?

Überlegungen zu diesen Fragen sind heute deshalb wichtig, weil wir in einer auf das Visuelle ausgerichteten Gesellschaft leben, selbst bei musikalischen Aufführungen und den damit verbundenen Hörgewohnheiten. Es wäre gut, wenn bei der Vorbereitung eines Chorkonzerts bei allen Aspekten auch solche Überlegungen bewußt mit einbezogen würden. Allzu oft werden die Entscheidungen über Anordnung und Stellung des Chores allein vom Chorleiter gefällt oder von demjenigen, der die Vorbereitungen trifft: das sollte aber besprochen und einsichtig gemacht werden: warum macht der Sopran links statt rechts, der Chor hinter der Orgel oder davor den Unterschied? Ich glaube, dass solche Überlegungen bei allen Beteiligten ein kritisches Bewusstsein für die verschiedenen Aspekte eines Chorkonzerts schaffen können, ganz gleich, ob es sich um Amateur- oder professionelle Sänger handelt, und ich bin der Überzeugung, dass eine Kenntnis der Aufführungspraxis vergangener Zeiten kein Spezialwissen für raffinierte Kenner der Musikgeschichte ist sondern lebendige Grundlage für “musikalisches Tun”, das uns noch nach vielen Jahrhunderten begeistern und wachsen lassen kann.

 

Hier haben wir außer den Instrumenten noch zwei (gemeinsam mit den Orgeln) dialogisierende Chöre. Im Presbyterium von San Petronio findet in Anwesenheit von Jakob III von England mit seiner Frau  Clementina Sobieski gerade die Feier zum Namenstag des Heiligen statt, 1722, in E. MAULE, Momenti di festa musicale, Op.cit., p. 260.
Hier haben wir außer den Instrumenten noch zwei (gemeinsam mit den Orgeln) dialogisierende Chöre. Im Presbyterium von San Petronio findet in Anwesenheit von Jakob III von England mit seiner Frau Clementina Sobieski gerade die Feier zum Namenstag des Heiligen statt, 1722, in E. MAULE, Momenti di festa musicale, Op.cit., p. 260.

 

Dario De CiccoDario De Cicco hat einen Hochschulabschluss in Klavier, Musik- und Gesangserziehung sowie Chorleitung. Er hat sich an den Zentren Italiens und europaweit in Chorgesang und Gregorianischem Gesang spezialisiert. Seine musikwissenschaftlichen Forschungsergebnisse veröffentlicht er regelmäßig in einer Reihe von Zeitschriften (einschließlich Bequadro, Musica Domani, Il Rigo Musicale und andere). In einer Reihe von Klöstern in Italien und Europa gibt er Kurse in Chorgesang, Semiologie und Gregorianischer Paläographie. Er arbeitet mit Éditions de Solesmes zusammen, wo er verantwortlich war für die italienische Ausgabe eines Textes von G. Hourlier, die 2006 als “La notazione dei manoscritti liturgici” veröffentlicht wurde. Für die OTOS Herausgeber in Lucca hat er Oratorien von Giacomo Carissimi ediert: “Felicitas beatorum” (2004), “Lamentatio damnatorum” (2004), “Jephte” (2006). Er ist Präsident der Sektion La Spezia der  SIEM (Italienische Gesellschaft für Musikerziehung) und dort auch Mitglied des nationalen Exekutivkomitees, in dem er für die Aktivitäten verschiedener Bereiche verantwortlich ist. Er ist ebenfalls Mitglied verschiedener ständiger Komitees für nationale Studien und Forschungen, die mit SIEM verbunden sind. Er arbeitet mit einer Reihe von Schulen und musikalischen Einrichtungen auf nationaler Ebene als Berater bei Projekten auf dem Gebiet experimentellen Unterrichtens in der Hörerziehung und im Musikunterricht von Kindergärten und Grundschulen. Email: dariodecicco@alice.it