Polyfollia 2012

Francesco Leonardi, IFCM Projektmanager und künstlerischer Leiter der ‘Associazione Jubilate’

 

In den Mauern der normannischen Stadt Saint-Lô hat die fünfte Veranstaltung der Polyfollia stattgefunden, das Chorfestival, dessen großartige Vokalmusik die Kirchen und Theater dieser Region alle zwei Jahre zum Klingen bringt. Die besondere Struktur dieses Festivals begünstigt die vier Herzstücke der Chormusik: Amateur-, professioneller, spielerischer und didaktischer Bereich. Polyfollia ist die Schnittstelle dieser Bereiche, der fruchtbare Boden für neue Kooperationen und neue künstlerische Wege.

 

Mrs. Broadbent, wife of Peter, holding up the huge ‘Spem in Alium’ score - Virginie Meigné © Polyfollia
Mrs. Broadbent, wife of Peter, holding up the huge ‘Spem in Alium’ score – Virginie Meigné © Polyfollia

 

Der typische Tagesablauf für alle, die nichts von diesem Ereignis verpassen wollen, beginnt morgens um neun mit der Auswahl des Workshops, an dem man teilnehmen möchte: amerikanische oder asiatische Musik, Begegnungen mit Chören und Komponisten und vieles mehr. Ich habe mich entschieden zuzusehen, wie man ein Stück mit vierzig Stimmen gestaltet. Unter der Leitung von Peter Broadbent sang eine Gruppe von circa hundert Amateursängern, angereichert mit einigen ausgezeichneten “Zaungästen”, die Motette Spem in Alium von Tallis. Etwa zweieinhalb Stunden Probe (die Sänger hatten die Noten natürlich schon vorher bekommen und einstudiert), dann das Konzert vor einem zahlreichen Publikum von Neugierigen und Berufsmusikern. Ein Workshop, der nicht nur die Sänger begeisterte, die sich einem besonders schwierigen Stück gewidmet hatten, sondern auch die Zuhörer, die das komplette Stück als Zugabe verlangten.

 

Peter Broadbent conducting ‘Spem in Alium’ by Thomas Tallis - Virginie Meigné © Polyfollia
Peter Broadbent conducting ‘Spem in Alium’ by Thomas Tallis – Virginie Meigné © Polyfollia

 

Nach dem morgendlichen Gesang muss man einen Augenblick innehalten, um sich in dem für alle Teilnehmer als Restaurant eingerichteten Raum zu stärken: mehr als tausend Liebhaber der Chormusik um den Mittagstisch vereint! Berufsmusiker und Amateure, die sich unbedingt kennenlernen und über Musik unterhalten möchten, ein ständiger Austausch von Ideen, Fragen, Fotos und einem gelegentlichen Autogramm!

 

Philippine Madrigal Singers. Director: Mark A. Carpio - Virginie Meigné © Polyfollia
Philippine Madrigal Singers. Director: Mark A. Carpio – Virginie Meigné © Polyfollia

 

Dann geht es wieder ins Stadtzentrum, wo es an der Zeit ist, sich den nächsten Workshop oder Runden Tisch auszusuchen. Da sich alle Räume mit didaktischen Aktivitäten in unmittelbarer Nachbarschaft befinden, beschließe ich, meinen Nachmittag zweizuteilen. Zunächst werde ich einem Treffen beiwohnen, das Berufsmusikern vorbehalten ist, und wo es um die Ausstrahlung von Chormusik im Rundfunk geht. Der Moderator dieser Veranstaltung ist George Laverock, ein Kanadier, der seit jeher mit dem Rundfunk befasst ist, sowie Vertreter der wichtigsten Radiosender aus aller Welt.

Eine Stunde Geplauder über die Lage der Welt und mögliche Zukunftsszenarien. Trotz der Konkurrenzprobleme mit der Diskographie bleibt das Radio ein wichtiges Mittel zur Verbreitung der Chormusik, und die ihr gewidmeten Programme werden weiterhin viel gehört, wenn auch nicht immer über das “traditionelle Radiogerät”, sondern eher über das Internet.

 

Cadence from Canada - Virginie Meigné © Polyfollia
Cadence from Canada – Virginie Meigné © Polyfollia

 

Stets mit meiner Tasche über der Schulter mache ich mich auf den Weg zur Kirche Notre-Dame, wo sich die aus ganz Frankreich stammenden Amateur-Chöre bei der Veranstaltung Chaînes Chantantes präsentieren. Wie gesagt ist alles nah beieinander, etwa fünf Minuten zu Fuß, so dass ich Zeit habe, auf einen Sprung ins Kulturzentrum zu gehen, das als Ausstellungszentrum genutzt wird, wo ich die Partituren von ‘Sulasol’ und den ‘Edizioni Annie Bank’ durchblättere. Jetzt ist meine Tasche voller CDs der Gastchöre sowie interessanter Broschüren zum Festival und den von überall herbeigeeilten Chören. Alle können ihr eigenes Material im Ausstellungszentrum lassen; erst wird alles gehortet, dann gelesen, und am Schluss treffen sich die Vertreter im Restaurant.

Mit schlechtem Gewissen komme ich zu spät zum Beginn der Chaînes Chantantes, deren Name daher kommt, dass sich verschiedene Chöre mit ihrem jeweiligen Repertoire wie eine Kette alle fünfzehn Minuten auf der Bühne ablösen. Es handelt sich hauptsächlich um Amateur-Chöre aus ganz Frankreich, aber es gibt keinerlei Verbot für ausländische Chöre: gelegentlich entdecke ich tatsächlich schon morgens einige Gesichter von deren Protagonisten. Das Niveau der Aufführungen ist unterschiedlich, aber bei allen spürt man die Lust zu musizieren und als Hauptakteur ein Ereignis mit so toller internationaler Atmosphäre zu erleben. Gelegentlich blickt man während dieser Konzerte auf die Zeiten der ersten Begegnungen der Chormusik zurück, und dann staunt man aufs Neue über das, was die großen professionellen Chöre bei den abendlichen Konzerten zustande bringen.

Schon ist es an der Zeit, wieder zum Restaurant zu gehen, voller Fragen und Vorfreude auf das gemeinsame Abendessen mit Kollegen und Freunden, aber auch mit den Leuten vom CAMP (Choral Art Management Programm), junge Manager, die gekommen sind, um die Welt der Polyfollia zu studieren und dann dieses Modell zu exportieren oder zu revidieren und dem eigenen Land anzupassen. An diesem Punkt denkt ihr vielleicht, dass mein Tag besonders arbeitsreich war, aber im Vergleich zu dem dieser Jungs war es nichts. Das CAMP hat nämlich während der ganzen Woche des Festivals von 9 bis 18 Uhr ein prall gefülltes Programm mit technischen Lektionen und einer Masterclass.

Nach dem Abendessen brechen wir zum Galakonzert im Salle Beaufils auf, der immer bis auf den letzten Platz gefüllt ist, und wo wir heute drei der für das Festival ausgesuchten professionellen Chöre mit einem Repertoire von je 45 Minuten hören werden. Interessant ist auch der Entscheidungsprozess, der zur Auswahl der Chöre führt: sieben herausragende Persönlichkeiten der weltweiten Chormusik schlagen die Chöre auf der Basis ihrer geographischen Herkunft vor, und dann entscheidet die gesamte künstlerische Leitung über den richtigen Mix der Stile, Formationen und Repertoires. In diesem Jahr wurden folgende zwölf Chöre  eingeladen: ‘New York Polyphony – USA’, ‘Taipei Chamber Singers – Taipeh’, ‘Svanholm Singers – Schweden’, ‘Kyn – Finnland’, ‘Cadence – Kanada’, ‘Audiofeels – Polen’, ‘Discantus – Ungarn’, ‘The Gents – Holland’, ‘Conspirare – USA’, ‘Dá no Coro – Brasilien’, ‘Philippine Madrigal Singers – Philippinen’, ‘Pust – Norwegen’. Dazu kamen noch der ‘Leioa Kantika Korala – Spanien’ und der ‘Young People’s Chorus of NYC – USA’, zwei jugendliche Chöre, die abgesehen von ihrer künstlerischen Qualität für sehr wichtige pädagogische Projekte stehen.

 

New York Polyphony - Virginie Meigné © Polyfollia
New York Polyphony – Virginie Meigné © Polyfollia

 

Ende des Konzerts, Ende des Tages? Nicht ganz. Alle sind zum großen Festsaal eingeladen, um vor der wohlverdienten Nachtruhe noch etwas zu trinken und letzte Eindrücke auszutauschen.

Dies ist nur natürlich nur ein Beispiel von dem, was man auf der Polyfollia machen kann, denn für jeden Tag gibt es einen anderen und reichen Veranstaltungsplan, jeder Tag ist arbeitsreich, wohl auch lang, steht aber immer im Zeichen der Chormusik. Eine total immersion in die Welt des Gesangs, die nie ermüdet. Natürlich sind nicht alle gezwungen, es in dieser Form mitzumachen. Man kann sich auch entspannen, indem man einen Ausflug zum benachbarten Mont Saint-Michel oder zu den Stränden des D-Day macht, wonach man sogar rechtzeitig zum abendlichen Konzert zurück sein kann.

 

Discantus from Budapest, cond.: Mézaros Péter - Virginie Meigné © Polyfollia
Discantus from Budapest, cond.: Mézaros Péter – Virginie Meigné © Polyfollia

 

Bisher habe ich ein vielseitiges Festival beschrieben, das die Tage eines jeden Teilnehmers mit einem dichten und interessanten Programm anfüllen kann, aber für die Berufsmusiker ist Polyfollia dank des ihnen gewidmeten Tages ein mit Spannung erwartetes Treffen. Der “Tag der Berufsmusiker” gibt den mehr als 300 internationalen Gästen die Gelegenheit, neue Bande zu knüpfen und neue gemeinsame Projekte zu planen. Für die geladenen Chöre ist es ein wichtiges Schaufenster, das zahlreiche Engagements in aller Welt nach sich zieht, aber auch den Gästen bieten sich zahlreiche Kontaktmöglichkeiten, die oft zu fruchtbarer Zusammenarbeit führen. An einem einzigen Tag kann man alle Chöre mit einem Repertoire von je 15 Minuten hören. Die Idee für ein Netzwerk der Festivals ist schön und wichtig! Für die Veranstalter ist es zweifellos ein notwendiger Moment, um neue Ideen und neue Sparmöglichkeiten zu entwickeln. Für mich persönlich ist es die dritte Teilnahme an diesem französischen Jahrmarkt, und ich bin schon neugierig zu erfahren, wer die Hauptakteure der Veranstaltung von 2014 sein werden. Der Monat November ist in der Normandie etwas nass, aber auch voller Vibration für die Stimmen der Welt, die die Region mit Freude erfüllen.

Für weitere Informationen: www.polyfollia.org

 

 

Francesco LeonardiFrancesco Leonardi, 1979 in Lengano (Italien) geboren, absolvierte ein Studium der Öffentlichkeitsarbeit und schließt derzeit ein Aufbaustudium der Volkswirtschaft und des Kulturmanagements ab. Er spricht englisch, deutsch, französisch und spanisch. Während der letzten 10 Jahre war er verantwortlich für die Auswahl der Chöre, die am internationalen Chorfestival “La Fabbrica Del Canto“ teilnehmen dürfen, das jedes Jahr im Juni in 50 verschiedenen Städten der Lombardei stattfindet. Er ist anerkannter Journalist in Mailand. Im August wurde er zum Projektmanager für die IFCM bestellt. E-mail: leonardifra@yahoo.it

 

Übersetzt von Reinhard Kißler, Deutschland

Edited by Graham Lack, Germany