Project : ENCORE
Qualitätsgetestete Neue Musik jenseits der traditionellen Publikationen
von Deborah Simpkin King, Herausgeberin Anna Willson, Organisationsleiterin des ‘Project : ENCORE’
Es scheint so, als ob jeder heute neue Musik aufführt. Kompositionswettbewerbe sprießen überall aus dem Boden, und Uraufführungen und Auftragskompositionen sind nicht mehr so ungewöhnlich wie früher einmal. Obwohl es wichtig ist, die traditionelle Rolle von Verlagshäusern anzuerkennen, ist es fair zu sagen, dass heutzutage eine ganze Reihe von kompositorischem Schaffen nichts mit einem herkömmlichen Verleger zu tun hat. Vor 25 Jahren hätten sich die meisten Dirigenten bei der Repertoireauswahl fast ausschließlich an Verlagskataloge und ihre reading-sessions gewandt. Die meisten Komponisten hätten einen Verleger gesucht, der alles von Druck und Werbung bis hin zu Aufführungsrechten regelt.
Eine kürzlich durchgeführte Studie zeigt, dass 63% der befragten Berufskomponisten sehr eingehend mit der Werbung für ihre eigenen Werke involviert sind. Neben den genialen Einfällen einzelner Komponisten in Sachen Werbung sind verschiedene Komponistenverbände entstanden, die eine größere Anzahl von Werken gemeinsam als eine Gruppe von Komponisten bewerben.
Neues Dilemma für Dirigenten
Obwohl diese Entwicklungen für Champions neuer Chormusik spannend sind, bergen sie ihre eigenen Herausforderungen. Für Komponisten bedeutet es, dass die Eigenwerbung einen Teil ihrer kreativen Energie von ihrem kompositorischen Schaffensprozess ablenkt. Bei Dirigenten führte die Entwicklung weg vom traditionellen Verlagshaus-Modell dazu, dass sie am Ende der Reihe als Empfänger der Werke von Hunderten von Komponisten stehen, die begierig auf eine Aufführung warten – und es bleibt nie genug Zeit. Außerdem suchen exzellente Komponisten nicht mehr die traditionellen Verlage, so dass sich Dirigenten nicht mehr ausschließlich auf Verlagskataloge verlassen können. In einer sich verändernden Welt Musik zu verlegen, zu bewerben und zu vertreiben, erfordert das Bedürfnis nach einem Mittel, die große Menge an neuer Musik zu evaluieren, eine einzigartige Antwort. Dieser Bedarf rief die Initiative namens Project: ENCORE (P:E) ins Leben.
P:E ist ein Katalog über zeitgenössische Chormusik, der Dirigenten des 21. Jahrhunderts mit einer Lupe für Repertoire und Bewertung ausstattet. Seine Plattform ist eine einzigartige Webseite, welche einen Katalog zeitgenössischer Chorwerke beinhaltet, die rezensiert und von einer Reihe anerkannter Dirigenten für gut befunden wurden. Jeder Katalogeintrag weist eine vollständige Hördatei, Partitur, Biographie des Komponisten und Kontaktinformationen auf sowie eine Werkbeschreibung inklusive Text (und Übersetzungen, wenn anwendbar). Die reiche Auswahl an neuer Chormusik im P:E Katalog deckt verschiedene Stile, Besetzungen und Instrumentierungen, Aufführungsdauern und Schwierigkeitsgrade ab. Die Suchfunktion ist anspruchsvoll und beinhaltet Elemente wie Schlüsselwörter, Jahreszeiten und liturgische Anlässe im Kirchenjahr sowie Dichter bzw. Textautor. Die Kompositionen sind eine Mischung an Werken, die traditionell verlegt, eigenverlegt und in Kooperation vorgestellt werden. Zur Zeit, im Februar 2020, enthält der Katalog 306 Kompositionen von 156 Komponisten. P:E ist kein Verleger oder Kooperativ, sondern eine externe Quelle, die mit beiden kooperieren kann. P:E hat die Funktion, die Kontaktaufnahme zu erleichtern und Verbindungen zu knüpfen. Wenn dies bewerkstelligt wurde, hat es seinen Zweck erfüllt und fordert auch keine Gebühren von den jeweiligen Nutzern ein.
Obwohl P:E im Moment die Werke von mehr amerikanischen Komponisten als von irgend einer anderen Nation beinhaltet , veranschaulicht die kürzliche Hinzufügung der Übersetzer-Funktion im Online-Katalog den schon bemerkenswerten Anstieg an internationalen Einträgen. Die Rezensenten spiegeln ebenfalls eine internationale Mischung wider.
Die Geschichte hinter dem Produkt
Wie bei vielen Dingen, die letztlich eine ernstzunehmende Bedeutung erlangen, entstand P:E aus der Erfahrung, die ein Komponist, eine Dirigentin und ihr Ensemble miteinander gemacht haben. 2005 sang das in New Jersey ansässige Ensemble Schola Cantorum on Hudson die amerikanische Uraufführung der Messe von Randall Svane. Danach arbeiteten die Dirigentin der Premiere, Deborah Simpkin King, und der Komponist zusammen, um weitere Aufführungen für diese zugegebenermaßen anspruchsvolle Komposition zustande zu bringen. Briefe mit der Partitur und einer Audiodatei der Uraufführung wurden an strategisch ausgewählte Chordirigenten auf der ganzen Welt versendet. Es dauerte 2 Jahre, bis der Domkapellmeister von Salzburg Interesse zeigte, die Messe in einem Sonntags-gottesdienst während der berühmten Salzburger Festspiele zum ersten Mal in Europa aufzuführen – aber nur, wenn der Chor der Uraufführung sie singen würde. Alles wurde arrangiert und 2008 aufgeführt. Dies war sozusagen der Auslöser, woraus sich dann das Project: ENCORE entwickelte.
Diese Erfahrung hob die ernstzunehmende Herausforderung, die unter den neuen Komponisten schon lange bekannt war, wieder einmal hervor: So anstrengend es auch sein mag, eine erste Aufführung für ein neues Werk sicherzustellen, ist es dennoch umso schwieriger, Ensembles und Dirigenten zu finden, die es noch ein zweites oder drittes Mal aufführen wollen. [Anm.d.Übers.: ENCORE – der Name ist Programm und ruft viele Assoziationen hervor. Auf Französisch heißt dies “Noch einmal!”, das Logo mit den Notenschlüsseln in einem angedeuteten Herzen in Anlehnung an ‘core’ = Herzstück besagt, dass ihnen Chormusik am Herzen liegt, und außerdem erinnert es an das Wort Chor /Choral/choir.]
Nach der Uraufführung
Komponisten kennen allzu gut diese Schwierigkeit, eine zweite Aufführung zu bewerkstelligen. “Manchmal wird eine gute Aufführung durch Mundpropaganda bekannt,” sagt Komponistin Hilary Tann, “aber ziemlich oft hatte ich das Gefühl, besonders bei kleineren Ensembles, dass die Werbemaschine nicht besonders gut funktioniert … Natürlich werden die Auftragswerke ins Programm aufgenommen, aber die Aufführungen danach sind das Problem.” Da Werke nicht ein zweites Mal vorbereitet und Zuhörern dargeboten werden, kommt es vor, dass ein Meisterwerk jahrelang irgendwo vernachlässigt im Regal herumsteht. Dieses Szenario bietet sich selbst in den Studios bekannter Komponisten. “Ich habe etliche gute Stücke, die unbeachtet auf ihre zweite oder dritte Aufführung warten,” fügt Tann hinzu.
Mit der Motivation etwas daran zu ändern, beschloss die künstlerische Leiterin der Schola Cantorum, dieses Anliegen in der Konzertsaison 2009/10 hervorzuheben und besonders Kompositionen nach der Uraufführung ins Programm zu nehmen. Nicht lange nach diesem Entschluss stand man vor einem riesigen Hindernis: Es gab keine Möglichkeit nachzuschlagen, wo Uraufführungen stattgefunden hatten. Da man nicht Schlagzeilen von großen Medien auf der ganzen Welt nach Rezensionen von Uraufführungen durchsuchen konnte, war es nicht klar, wie man solche Kompositionen ausfindig machen konnte.
Unwillig sich ablenken zu lassen, schien es offensichtlich, dass die Ergebnisse der Bemühungen irgendwie der Allgemeinheit so zugänglich gemacht werden mussten, dass nicht nur die Komponisten und die Zuhörer der Schola Cantorum on Hudson davon profitieren würden.
Ein neues Paradigma – ein Online-Portal für Chorkompositionen
Wollte man das Problem im Hinblick auf die zweite Aufführung eines Werkes lösen, war es nun an der Zeit, ein neues Modell für die musikalische Zusammenarbeit von Komponisten, Chordirigenten und Chören ins Leben zu rufen. Ein Organisationskomitee wurde gegründet um dazu beizutragen, Parameter bezüglich Häufigkeit, Benutzerfreundlichkeit und Qualitätskontrolle zu erstellen. Obwohl man auch über die finanzielle Nachhaltigkeit für die kleine gemeinnützige Organisationsgruppe nachdachte, entschied man sich trotzdem dafür, dass dieses Verzeichnis jederzeit frei zugänglich für Komponisten und Dirigenten bleiben sollte. Da man ein Verzeichnis von bleibendem Wert schaffen wollte, suchte man Rechtsbeistand hinsichtlich aller Elemente zu Urheberrecht, Unterbreitung/Eingabe von Chorwerken durch die Komponisten und Zugänglichkeit sowie Vertrauenswürdigkeit der Rezensenten. Zuletzt wurde ein Designer beauftragt, ein eigenes unverkennbares P:E Logo zu erstellen und ein geschütztes US Markenzeichen (trademark ™) wurde beantragt und zugelassen.
Der P:E Online-Katalog von Chorwerken (ProjectEncore.org) wurde offiziell im Juni 2009 freigeschaltet und rief im folgenden Monat Komponisten zum ersten Mal dazu auf, Partituren online zu stellen. Heute ist es ein ständig wachsender Online-Katalog von uraufgeführten und fachkundig ausgewerteten Kompositionen.
Die Funktionsweise
Ein Komponist darf bis zu vier Chorpartituren pro Jahr online stellen. Die Komponisten geben die Partitur anonym ein zur Rezension gemäß des von P:E eingeführten Doppelblindverfahrens. Jede eingereichte Partitur wird zur Beurteilung an drei Rezensenten aus dem P:E Rezensenten-Pool gesendet. Er besteht aus einem hochrangigen internationalen Team von Rezensenten, von denen jeder ein signifikantes programmatisches Spezialgebiet hat und zugleich ein angesehener Chordirigent ist. Diese sind notwendigerweise die unbeachteten Helden, die anonym bleiben, wobei die Gründer von P:E auch keine Rezensenten sind: Man will damit nicht nur einen möglichen Interessenkonflikt, sondern auch nur den Anschein dessen vollkommen ausschließen. Rezensenten stellen ihre Zeit quartalsweise zur Verfügung, einzig und allein weil sie einen Beitrag für die Chormusik leisten wollen. Die Kriterien, nach denen P:E-Rezensenten gebeten werden, jede Komposition zu bewerten, gehen über die eigenen Aufführungsbelange und Stilpräferenzen hinaus. Jede Komposition muss hinsichtlich ihrer musikalischen Qualität, ihrer Ausschöpfung der Chorsprache und ihrer Aufführungsmöglichkeiten, sei es für Kirchenchöre, freie Amateurchöre, Schulchöre oder professionelle Chöre. untersucht werden. Mindestens zweimal “gutgeheißen” ist notwendig, um in den Katalog aufgenommen zu werden. Der ganze Vorgang läuft vierteljährlich ab, genauso wie die Veröffentlichung von neuen Eingängen in The Choral Journal, Choralnet.org und P:E s sozialen Medien.
Schlussbemerkung
Die steigende Popularität von Aufführungen neuer Musik stellt eine spannende Gelegenheit für Dirigenten und Komponisten dar; es ist die Rückkehr zu einer historischen Norm. Das Interesse an den neuesten Partituren war eine Tradition, die in der Musikwelt ungefähr ein Jahrhundert lang ein Schattendasein führte, aber heute haben wir alle Optionen zur Hand! Neue Musik ist durch die Anstrengungen wie bei diesem Projekt im Überfluss verfügbar zur Rezension und zum Einstudieren. Egal ob man nach einem Beitrag für ein spezielles Programm sucht oder eine taufrische kompositorische Stimme entdecken möchte, bietet P:E eine Online-Bibliothek zum Stöbern!
Anna Willson ist eine in New York City ansässige Sängerin und Pianistin und die Organisationsleiterin des PROJECT : ENCORE™. Sie hat ein Musikexamen von der Whitworth Universität sowie einen Master in Gesang vom Bostoner Konservatorium. Neben ihrer Rolle als Organisationsleiterin hat Anna verschiedene Konzerte mit dem Vokalensemble der Schola Cantorum on Hudson namens Ember gesungen. Anna ist freiberufliche Chorsängerin in New York City und hat eine feste Stelle im Marble Collegiate Choir. Des Weiteren ist sie engagiert als Sängerin und Co-Direktorin des Estnischen Chores (New York Estonian Chorus). Neben dem Chorsingen ist Anna Mitglied des in NYC ansässigen Ensembles für Alte Musik, Anglica Antiqua und konzertiert mit dem ÆON Ensemble, einer Gruppe von zeitgenössischen Avantgarde-Musikern. Zu den Uraufführungen in der letzten Zeit gehört die nordamerikanische Premiere von In the Name of the Earth von John Luther Adams während des Mostly Mozart Festivals am Lincoln Center, u.a. unter der Leitung von Deborah Simpkin King, der künstlerischen Leiterin der Schola Cantorum on Hudson. Außerdem Aufführungen innerhalb der monatlichen Konzertreihe für zeitgenössische Musik mit dem ÆON Ensemble, das an der Kirche St. John’s in the Village, NYC, musikalisch beheimatet ist.
Email: annawillson@scholaonhudson.org
Übersetzt aus dem Englischen von Barbara Schreyer, Deutschland