Erdbeben im Chorgestühl: ein Kurzer Blick auf die Kirchliche Chormusik in Neuseeland
von Michael Stewart, Chordirigent und Organist
Neuseeland hat für ein kleines, zunehmend weltliches Land eine starke Kirchenmusikszene. Deren Mittelpunkt sind vor allem die anglikanischen Kathedralen in den vier großen Bevölkerungszentren und einige erwähnenswerte Pfarrkirchen. Dieser Aufsatz möchte einen allgemeinen Eindruck von dieser Facette der neuseeländischen Chormusik vermitteln.
Am 22. Februar 2011 wurde der südliche Teil der Stadt Christchurch von einem Erdbeben der Stärke 6.3 heimgesucht; es verursachte ausgedehnte Schäden und forderte 181 Menschenleben. Sechs Monate davor hatte die Stadt ein Erdbeben der Stärke 7.1 erlitten, das wie durch ein Wunder keine direkten Todesfälle verursachte, aber Gebäude nennenswert schwächte. Bilder des Erdbebens vom Februar sind in die ganze Welt ausgestrahlt worden, und eins der ergreifendsten zeigte die zerstörte ChristChurch Kathedrale, das Juwel der Stadt am Kathedralplatz.
Die ChristChurch Kathedrale ist ein angemessener Ausgangspunkt für diese Untersuchung der Kirchenmusik in Neuseeland, da ihr Musikprogramm – das weiterläuft – dem Modell der britischen anglikanischen Kathedralen am ähnlichsten ist. Für die Gottesdienste der Kathedrale, nunmehr in die nahegelegene Christ’s College Kapelle umgesiedelt, dirigiert der Musikdirektor Brian Law den einzigen Berufschor mit Knaben und Männern in Neuseeland – einen von nur zweien dieser Art in der südlichen Hemisphäre (der andere ist der Kathedralchor von St Andreas in Sydney, Australien). Es ist kein Zufall, dass dies Programm in Christchurch Wurzeln geschlagen hat, denn die Stadt ist besonders stolz auf ihr englisches Erbe: sie wurde bewusst als ein Muster der englischen Gesellschaft von Absolventen von ChristChurch College, Oxford, gegründet. Seit zwölf Jahren findet ein Austausch zwischen diesen zwei Kathedralchören statt. Vor dem Erdbeben bestand der ChristChurch Kathedralchor aus sechzehn Knaben, die Stipendien am nahegelegenen Kathedralgymnasium hatten, und zwölf Männern, die für diese nicht hauptamtliche Stelle ein Gehalt beziehen. Der Chor blühte auf unter Leitung von Law, der 2008 mit ihm eine Reise ins Vereinigte Königreich unternahm. Es gibt Pläne, die beschädigte Kathedrale wieder aufzubauen, aber genau wann das geschehen und wie lange es dauern wird kann zur Zeit niemand auch nur ahnen.
Da Neuseelands frühes koloniales Erbe vorwiegend englisch ist, ist die anglikanische Kirche immer die vorherrschende Konfession im Lande gewesen. Die anderen sieben anglikanischen Kathedralen stehen in Auckland (Heilige Dreifaltigkeit), Hamilton (St. Peter), Napier (St. Johann), New Plymouth (St. Maria), Wellington (St. Paul), Nelson (Christuskirche) und Dunedin (St. Paul). Unter diesen unterhalten die Kathedralen von Auckland, Wellington und Dunedin ähnliche Programme wie das der ChristChurch Kathedrale. 2011 hat sich als interessantes Jahr für diese vier Kathedralen erwiesen: während ChristChurch mit den Auswirkungen des Erdbebens fertig werden musste, haben die anderen drei entweder gerade neue Musikdirektoren/innen eingesetzt, oder sie sind im Begriff, dies zu tun.
Ihre Lage direkt gegenüber dem Parlamentsgebäude der Landeshauptstadt Wellington macht die St. Paulskathedrale zum gegebenen Schauplatz von Staatsakten und Gottesdiensten, die im Radio und Fernsehen übertragen werden. Der Kathedralchor, ein gemischter Chor mit 30 Mitgliedern, hat sich den Ruf eines der besten Chöre seiner Art am Westpazifik erworben, und er lässt sich oft in Konzerten hören, zusätzlich zu seinem regelmäßigen liturgischen Programm. Auch dieser Chor absolvierte 2008, unter seinem vorigen Musikdirektor Michael Fulcher, eine erfolgreiche Konzertreise ins Vereinigte Königreich und nach Frankreich. Die Kathedrale hat auch einen Jugendchor, die Cathedral Choristers, mit bis zu 30 Jungen und Mädchen im Alter von 8-15 Jahren, die oft zusammen mit dem Kathedralchor auftreten, aber auch von regionalen und landesweiten Orchestern, die in Wellington ansässig sind, für Konzerte engagiert werden. Sie waren der Kern des Knabenchors für eine Aufführung von Mahlers 8. Sinfonie unter Leitung von Wladimir Aschkenzasy, die 2010 im Rahmen des internationalen neuseeländischen Festivals der Künste statt fand.
Ein weiteres prachtvolles Gebäude, das unter dem Erdbeben in Christchurch im Februar zu leiden hatte, ist die Kathedrale zum Heiligen Sakrament. Diese schöne Basilika war das beste Exemplar der vielen katholischen Kirchen, die der aus Neuseeland gebürtige Architekt Francis Petre entworfen hatte. Eine weiter Kathedrale von Petre ist die Metropol-Kathedrale zum Heiligen Herzen in Wellington, eine der zwei katholischen Kirchen in Neuseeland, die gregorianischen Gesang und Renaissance-Polyphonie im Programm haben. Die andere, ebenfalls in Wellington, ist St. Maria von den Engeln, eine Kirche in der Innenstadt. Die bemerkenswerte Chortradition dieser Kirche geht zurück auf die Amtszeit von Maxwell Fernie (1910-1999), einem Dirigenten und Organisten, der aus Wellington stammte und fünf Jahre lang Musikdirektor an der [katholischen] Kathedrale von Westminster [London, GB] war. Nach seiner Heimkehr im Jahr 1958 übernahm er die Leitung der Musik an St. Maria von den Engeln und baute das traditionelle katholische Musikprogramm aus, das bis heute besteht.
Obwohl es in Neuseeland viele Pfarrkirchen gibt, die keinen regelmäßigen Chorgesang haben, gibt es einige erwähnenswerte Ausnahmen. Die südlichsten Provinzen Otago und Southland zogen ursprünglich Siedler aus Schottland an, was dazu führte, dass die presbyterianische Kirche bis heute dort blüht, besonders in der Knox-Kirche in Dunedin, die eine stolze Chortradition aufrecht erhält. Unter den anderen bekannten Chören von Pfarrkirchen im Lande finden wir die der anglikanischen Allerheiligen-Kirche in Palmerston North und die der anglikanischen St. Markus-Kirche in Auckland.
Die Kirchenchöre von Neuseeland werden vom neuseeländischen Zweig der Royal School of Church Music [weder Schule noch College, sondern eine Vereinigung von Kirchenmusikern in London, deren Mitglieder beraten und Prüfungen abnehmen, auf die Kandidaten sich extern vorbereiten, Anm. d. Übers.]. Jedes Jahr veranstaltet die RSCM im Sommer und Winter Chorlehrgänge – die Teilnehmer wohnen und proben zusammen – und letzterer richtet sich ausschließlich an Kinder und Jugendliche. Für den Sommerlehrgang werden jeweils international bekannte Kirchenmusiker eingeladen; der letzte Kurs im Januar stand unter Leitung von Timothy Noon (vormals Musikdirektor an der Metropol-Kathedrale zu Liverpool, GB), der im September die Stelle des Musikdirektors an der Kathedrale zur Heiligen Dreifaltigkeit in Auckland antritt. Das Ausbildungsprogramm der RSCM “Stimmen für das Leben” wird im ganzen Land ausgiebig benutzt, um junge Sänger in Theorie und Stimmfunktion auszubilden.
Was das Komponieren für die Kirche angeht, so ist Shirley Murray vielleicht unsere bekannteste Choraldichterin – ihre Texte sind in mehr als 100 Sammlungen in der ganzen Welt anzutreffen. Im Jahre 2006 wurde Murray mit dem Titel “Fellow” der Royal School of Church Music geehrt, und 2009 wurde sie zum “Fellow” der Choralgesellschaft der Vereinigten Staaten und Kanadas ernannt. Die Kathedralen von Neuseeland haben immer die Komposition von neuer Musik unterstützt, besonders Richard Madden in Dunedin und Katherine Dienes-Williams (inzwischen Organistin und verantwortlich für den Chor der Guildford Kathedrale) in Wellington. Als Ergebnis einer fruchtbaren Periode als Hauskomponist für die St. Pauls-Kathedrale in Wellington hat der junge Komponist Andrew Baldwin eine Reihe höchst wirksamer Stücke vorgelegt, die zu Hoffnungen für die Zukunft Anlass geben.
Michael Stewart steht in der ersten Reihe der jüngeren Generation der neuseeländischen Chordirigenten; darüber hinaus ist er einer der führenden Konzertorganisten des Landes. Im Juni 2011 wurde er zum Organisten und Kirchenmusikdirektor der St. Pauls-Kathedrale in Wellington ernannt, nachdem er die vorhergehenden fünf Jahre als Musikdirektor der Metropol-Kathedrale zum Heiligen Herzen gedient hatte. Michael ist auch Musikdirektor des Tudor Consort, Mitglied des künstlerischen Leitungsteams für Chöre Aotearoa Neuseeland, und Mitglied des Kammerchores “Stimmen von Neuseeland”. Mr. Stewart erwarb den Bachelor of Music der Universität von Canterbury mit der bestmöglichen Note und den Magister der Musik im Orgelspiel von der McGill Universität Montreal, Kanada. Als Organist wie als Chordirigent hat er Aufnahmen für die Kanadische Rundfunkgesellschaft und Radio Neuseeland gemacht, und er hat zwei Solo-Orgel-CDs eingespielt: Puissant (2001) und Ave Maris Stella (2007). E-mail: mrjstewart@gmail.com
Übersetzt von Irene Auerbach, England
Edited by Irene Auerbach, England