Beziehungen zwischen Text und Melodie im Volkssingen der Ungarn, Khanty und Sámi

Ildikó Tamás, Linguistin, Folkloristin, Ethnologin, Budapest, Ungarn

Eine Reihe von Menschen haben sich mit der Analyse und Beschreibung der Verbindung zwischen Text und Melodie im ungarischen Volkslied beschäftigt, von Zoltán Kodály bis zu den Ethno-Musikwissenschaftlern Lajos Vargyas und dem linguistischen Philologen László Dezső. Dennoch erscheint das Thema in Ungarn nur selten unter den  Forschungsthemen des 21. Jahrhunderts. 

Kautokeino, Norway © Ildikó Tamás

Zunächst werde ich die Forschungsergebnisse  zum ungarischen Satzrhythmus vergleichend zusammenfassen. Dann werde ich am Beispiel unterschiedlicher Kulturen die Ähnlichkeiten und Unterschiede bei der Verwendung der dem Satzrhythmus innewohnenden Möglichkeiten aufzeigen. Dabei gehe ich auf ein nahe und ein fern verwandtes Volk ein. Sprachen, die zur selben Sprachfamilie gehören, haben ähnliche sprachrhythmische Merkmale. Dieser Einfluss erscheint in der Singtradition, daher können wir zusätzlich zum Ungarischen, Khanty und Sámi auch Finnisch, Estnisch, Mordvin und andere Beispiele mit ähnlichen Merkmalen präsentieren (zum Beispiel Sebeok 1952, Hajdú 1982). Natürlich ermöglichen spezifische Beispiele nur eingeschränkten Vergleich, da – im Gegensatz zu strophischen Volksliedern mit fester Struktur und in der Regel gleichbleibender Silbenanzahl – die Grundlage des musikalischen Denkens zum Beispiel der Sámi eine Melodie mit einer flexibleren, motivischen Struktur ist. Eine etwas engere Analogie zum ungarischen Phänomen sind die sprachrhythmischen Hilfsmittel bei individuellen Liedern der Khanty, die wir aus den Studien von W. Steinitz, R. Austerlitz, Éva Schmidt und Márta Csepregi kennen. In der uralischen Linguistik [zur uralischen Sprachfamilie gehören Ungarisch, Finnisch und etwa 25 weitere Sprachen, Anm. d. Übers.] besteht eine bekannte Forschungstradition zur Syntax der Verse, die als Vorbild für musikalische Studien dienen kann (zum Beispiel Steintz 1934, Austerlitz 1958, Lotz 1960). Zusätzlich zum musikalischen Zugang verwende ich in meinem Artikel auch die linguistische Interpretation des Sprachrhythmus. In Sprachen sind zusätzlich zum Text auch übergeordnete Werkzeuge am Formen des Gesagten beteiligt (Ton, Tonhöhe, Betonung, Pause usw.). Letztere kann gelegentlich den durch die Worte vermittelte Sinn modifizieren. Dieser Aspekt spielt eine besonders wichtige Rolle bei Melodien mit einer sprachnahen informellen Struktur.

Für das ungarische Singen ist es charakteristisch, dass nicht nur die Akzentuierung, sondern auch die Intonation von Sätzen die natürliche Sprache in sprachnahen Genres widerspiegeln. Zum Beispiel kann die Melodielinie eines Klagenden der Melodielinie der klagenden Sprache angepasst werden, das heißt, sie beschriebt eine fallende Linie (Szomjas-Schiffert 1996: 36-43). Ein aufwärtsgehender Melodieschluss schafft im Ungarischen ein Gefühl der Unvollständigkeit. Melodien zu rezitieren, die Sprache rhythmisch abbilden, ist nahe am informellen Singen. Die instinktive Verwendung übergeordneter Werkzeuge wird auch gut in unseren Arbeitsreimen deutlich, in denen es undenkbar wäre, dass die Betonungen von Sprache und Melodie nicht übereinstimmen.

Nach Antal Békefi beschleunigt der Rhythmus das Arbeitstempo, und der Tonsprung aufwärts stellt den Höhepunkt der Anstrengung dar. Darüber hinaus wird größere Kraftanstrengung durch Verdichtung des Rhythmus erreicht (Békefi 2005:44-45).

Ungarische Kinderreime und Spiellieder sind ganz anders. In ihrer Struktur steht der Rhythmus von Schwerpunktpaaren oder Motiven im Vordergrund. Daher können die Betonung und Segmente des Textes oft verschoben sein und es erschweren, den Inhalt zu verstehen.

Khanty family © Vitali Sigiletov

In strophischen Volksliedern kann man trotz ihrer soliden rhythmischen Struktur die Bemühung beobachten, kleine Details von Melodie und Text zu harmonisieren. Im Vortrag des ungarischen Sängers zeigt das die angepasste Notierung. Das beschreibt János Bereczky so: „Das ungarische Volk […] singt Achtel mit einer gewissen innerlichen Flexibilität, man könnte sagen mit kleinen Punktierungen, deutlich und ausschließlich abhängig von der Kürze oder Länge der Textsilben. Das wurde von dem gemeinsamen Gefühl für Sprache geschaffen […]“ (Bereczky 2003: 448). Lajos Vargyas stellt fest, dass darüber hinaus „das Rubato, also der freie, wechselnde Rhythmus, im Prinzip dem Text angepasst ist. Das ist jedoch nicht immer der Fall: gerade, weil der Rhythmus frei ist, weil er die Sprache nicht in streng bemessene Zeitgrenzen einschränkt, muss er nicht einmal den Längenverhältnissen und den Akzenten der Sprache folgen. Deshalb herrschen hier musikalische Anforderungen vor. Vielfalt, Heraushebung und Verlängerung bestimmter Stellen, Höhepunkte oder Ende der Melodielinie; wo reiche Ornamentierung die Melodie umgibt, dehnen die individuellen Melismagruppen die Noten beim Teilen einer Phrase nach musikalischen Notwendigkeiten nicht immer entsprechend der Silbenlängen. Es geschieht (selten), dass sie Erfordernisse der Sprache zugunsten einer rhythmischen Wendung unterdrücken, sie rhythmisieren eine Stelle konträr zur Sprache, für irgendeinen musikalischen Effekt“ (Vargyas).

Nunnanen, Finland © Ildikó Tamás

Selbst in der ob-ugrischen Singtradition gibt es strenge Regeln für die korrekte Koordination feiner Details von Text und Melodie. Katalin Lázár beobachtete, dass die Teilung musikalischer Einheiten oft nicht jener der Texteinheiten entspricht (Lázár 1987; Lázár – Sipos 2008). Verschiebungen von Halbzeilen in Liedern der Khanty können jedoch die Akzentverhältnisse nicht vollständig umwerfen. Éva Schmidt verwendete viel Zeit und Energie in die Aufzeichnung der Sprachmelodie von Khanty-Liedern. Sie fand heraus, dass „sehr komplizierte Hilfsmittel – hauptsächlich die Füllsilben – sicherstellen, dass die Akzente der musikalischen, linguistischen und metrischen Ebenen koordiniert sind. Die Stellen der Hilfssilben sind keineswegs zufällig oder ausgedacht“ (zitiert bei: Lázár – Sipos 2008:13). Ihre Ansicht stimmt überein mit den Ergebnissen früherer ähnlicher Forschungen (siehe Steinitz 1934; Austerlitz 1958; Lotz 1960). Natürlich könnten wir viele ähnliche Beispiele aufzählen, deren Vergleich viele Parallelen zum ungarischen Material aufweisen. Sprachrhythmische Eigenschaften gehören zu den langlebigsten Phänomenen von Sprachen. Das zeigt die bekannte Tatsache, dass alle uralischen Sprachen feste Betonungen haben (auf der ersten Silbe), auch wenn ihre anderen Eigenschaften sich über die Jahrtausende entwickelt haben. Diese feste Betonung herrscht in der gesungenen Folklore der zur uralischen Sprachfamilie gehörenden Völker vor. Davon können wir auf der Grundlage des bestuntersuchten ungarischen und khantischen Materials überzeugt sein.

Ein andersgeartetes sprachmelodisches Phänomen als die bisher vorgestellten findet man bei den Finnisch-Ugrisch sprechenden Völkern in der Singtradition der Sámi. Die Besonderheit ihrer Volkslieder, der Yoiks, besteht darin, dass ihre Texte kaum etwas bedeuten, sondern aus ein- oder zweisilbigen zur Melodie gesungenen Nonsens-Wörtern bestehen. Nach dem Sámi Schriftsteller und Dichter Nils-Aslak Valkeapää sind nicht nur die unabhängige semantische Bedeutung der Wörter, sondern auch die sprachmelodische Konstruktion selbst an der Übermittlung der Botschaft in Yoik-Texten beteiligt. Die grammatisch und semantisch nicht interpretierbaren Elemente, die den Großteil der Textbündel ausmachen – wie valla-valla, vaja haja, lai le, loilo, loilá, lolai, loo, lolloloo, lul-luu, reiun loilo, na, nuu-nuu nunnu, njollo… – sollen wahrscheinlich die Kontinuität der Musik fördern. Diese Silben bilden die reine Grundlage der musikalischen Struktur (Valkeapää 1984). Valkeapääs Erklärung für die Verwendung von Textbündeln enthält, wenn auch nur am Rand, Bemerkungen zur Sprachmelodik, obwohl er in diesem Zusammenhang nur über die Kontinuität der Musik spricht und nicht über die korrekte Rhythmik. Der Yoik der Sámi missachtet die Betonungserfordernisse der Sprache, da die musikalisch und rhythmisch betonten Töne nicht zu den betonten Stellen natürlicher Sprache passen, während zugleich eine Silbe, die sonst in der natürlichen Sprache unbetont wäre, zu einem länger ausgehaltenen oder betonten Vokal wird (Tamás 2001: 302-303). Unter häufiger Verwendung von Füllelementen wäre es möglich – wenn wir von der Singpraxis anderer finnisch-ugrischer Völker ausgehen – die bedeutungsvollen Textpassagen in Bezug auf Betonung an die richtige Stelle anzupassen. Die Sänger der Khanti arbeiten auch nicht mit Rhythmus – obwohl ihnen korrekte Sprachmelodie wichtig ist – statt dessen formen (erweitern oder kürzen) sie den Text, um eine gute Verteilung der Betonungen zu erreichen. Das geschieht nicht im Yoik-Gesang, im Gegenteil: Nonsenswörter, die einen Text mit Bedeutung ergänzen,  dienen selten der metrischen Balance oder der Koordination von Betonungen. Dieses Phänomen kann man als wichtiges Charakteristikum der Darstellungspraxis der Sámi ansehen, in der vielleicht die absichtliche Schwächung des Textes, das Erhalten der Aufmerksamkeit des Publikums, Lust am Spiel und das Können des Vortragenden eine Rolle spielen könnten. Die Funktion sprachmelodischer Verschiebungen bei Yoiks kann der Verschiebung der linearen Struktur bei Darbietungen der Khanti ähneln. Nach Katalin Lázár schafft die unterschiedliche, sich überschneidende Struktur von Text und Melodie Spannung und ist ein Mittel, das Lied „zu beenden”, was „ eine Konzentration effordert, die sowohl den Vortragenden als auch den Zuhörer aus der alltäglichen Realität erhebt” (Lázár1987:217). Im Fall der Khanty „ist die Absicht dieser Überarbeitungsmethode nicht nur, die manchmal Hunderte von Zeilen der Lieder angenehm und vielfältig zu machen, sondern auch, den  emotionalen Zustand zu schaffen und aufrecht zu erhalten, der sowohl für den Vortrag als auch für die Rezeption erforderlich ist”  (Lázár1987:217). Das können auch die Motive der Yoik-Sänger der Sámi sein.

Deshalb können in der Dialektik der Interaktion von Text und Melodie ähnliche und sich widersprechende Tendenzen beobachtet werden, sogar unter Sprechern verwandter Sprachen. Kurz zusammengefasst: ich habe dies anhand des Beispiels der ungarischen, ob-ugrischen und Sámi  Singtraditionen dargestellt.

Dr. Ildikó Tamás, Linguistin, Folkloristin, Ethnologin. Sie arbeitet als senior research fellow am Institut für Ethnologie (Research Centre for the Humanities, Eötvös Loránd Research Network, Budapest). Ihre Forschungsgebiete sind die Sprachen und Folklore der Sámi, interdisziplinarische Erforschung der Yoiks der Sámi, „Nonsenstexte” in der Folklore, sprachrhythmische und etymologische Untersuchungen, Kinder-Folklore und online-Folklore. Ihre ausgewählten Arbeiten auf Englisch mit Bezug zu diesem Artikel sind: The Voice of the Devil (?) The Sami Song in the “Cross”-fire of Various Discourses, In Bea, Vidacs; Éva, Pócs (eds.) Faith, Knowledge, and Doubt in Religious Thinking, Balassi Kiadó (2020); Tamás Ildikó: Field, data, access. Fieldwork among the Sámi from the perspective of assimilation and ethnic revitalization processes, Acta Ethnographica Hungarica 63, 2018; Tamás Ildikó: The Colours of the Polar Lights: Symbols in the Construction of Sami Identity, In Szilárd, Tibor; Tóth, Roza; Kirillova, Jüva Sullõv (eds.) Vabahuso moistoq Hummogu-Euruupa kirändüisin. Vabaduse Konsept Ida-Euroopa kirjandustes. The concept of freedom in the literatures of Eastern Europe, Voro Instituudi Toimondusoq (2017); Tamás Ildikó: “Few words are sung in it” Questions of Methodology in Studying Sami Yoik Texts, In Kajsa, Andersson (ed.) L’Image du Sápmi III., Humanistic Studies at Örebro University (2013). E-Mail: tamas.ildiko11@gmail.com

Übersetzt aus dem Englischen von Lore Auerbach, Deutschland

Bibliographie
  • Austerlitz, Robert (1958), Ob-Ugric Metrics. Kn. Helsinki.
  • Lotz, János (1960), Kamassian Verse. Journal of American Folklore.
  • Sebeok, Thomas A. (1952), Studies in Cheremis folklore. Indiana University, Bloomington.
  • Steinitz, Wolfgang (1934), Der Parallelismus in der finnisch-karelischen Volksdichtung. Helsinki.
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