Das Studium der Partitur

Von Tim Sharp,

Vorstandsmitglied der American Choral Directors Association und Leiter des Tulsa Oratorio Chorus

 

Die Entwicklung des Chorprogramms war schon immer ein Anliegen und Interesse des Chorleiters, aber mehr und mehr ist sie zu einem Schlüsselfaktor für die Entwicklung des Publikums ebensowie auch zum Erhalt des Interesses des Chores geworden. Die systematische Erarbeitung des Chorprogramms beginnt natürlich mit der Entscheidung,  welche Art von Literatur man erarbeiten und aufführen will. Um Chorliteratur auszusuchen, die einem sich entwickelnden Programm oder Ensemble Selbstvertrauen geben kann, stellt man sich zunächst folgende Fragen:

  • Welche musikalische(n) Periode(n) soll das Programm umfassen?
  • Wer ist der Komponist?
  • Welche Stimmen werden eingesetzt?
  • Ist das Stück ein großes Werk oder kleineren Umfangs?
  • Welche Pläne habe ich langfristig mit diesem Ensemble?
  • Welche Verpflichtungen habe ich gegenüber dem Chor?
  • Welche Verpflichtungen habe ich gegenüber dem Publikum?

Nachdem diese Fragen bedacht wurden, folgen weitere wichtige Fragen:

  • Wie finde ich Ideen für dieses Programm?
  • Wie erkenne ich, ob die erwogene Ausgabe verlässlich ist?
  • Wo finde ich die beste Ausgabe?
  • Wo finde ich ein Chorstück zu einem bestimmten Text?
  • Wie finde ich eine komplette Werkliste eines Komponisten?
  • Wie erkenne ich die musikalischen Absichten des Komponisten am besten?
  • Wie finde ich heraus, ob ein Werk noch erhältlich ist?

Diese Fragen verraten uns,  welche Informationen erlangt werden müssen.

Die beste und angemessenste Quelle zu kennen und ein System zu haben, gute Quellen zu finden, ermöglicht es dem Chorleiter, Antworten auf all diese Fragen zu finden.

 

Haupt- und Sekundärquellen

Das Quellenmaterial, das von Chorleitern benutzt wird, findet man auf zwei Ebenen: den Haupt- und Sekundärquellen. Hauptquellen sind Originaldokumente, und da sie Informationen aus erster Hand sind, werden sie als die zuverlässigsten Informationsquellen angesehen. Wenn die Daten keine Originale sind, werden sie zu Sekundärquellen für den Suchenden. Sekundärquellen weisen einen unterschiedlichen Ähnlichkeitsgrad im Verhältnis zum Original auf. Sie variieren auch im Grad der Zuverlässigkeit, je nachdem, wie weit entfernt sie von der Originalquelle sind und welcher Umfang an Fachkenntnissen beim Bearbeiten der Sekundärquelle eingesetzt wurde.

Vor der Suche nach der gewünschten Ausgabe müssen wir uns aufgrund dieser Unterschiede folgende Fragen stellen:

  • Verdient die gewünschte Literatur das Studium der Originalquelle?
  • Falls ja, ist es möglich, das Originaldokument oder ein Faksimile einzusehen?
  • Falls nicht, sind wissenschaftliche Sekundär-Studienausgaben erhältlich?
  • Sind verlässliche Ausgaben für Aufführungszwecke erhältlich?

 

Die Beschaffenheit von Quellen verstehen

Man sollte meinen, dass Dirigenten und Künstler mit der wichtigsten Quelle arbeiten, dem  tatsächlichen Original. Jedoch sind nicht alle Musiknoten gleich. Die Noten in den Händen eines Dirigenten oder Künstlers sind zumindest einen, wenn  nicht viele Schritte entfernt von der Originalquelle – dem Originalmanuskript des Komponisten.

Die Informationen, die wir über Musik haben, kommen im aus vier Hauptquellen:

  1. Dokumentation einer Aufführung, wie Programme oder Zeitungsberichte.
  2. Aufsätze und Abhandlungen über Theorie und Praxis der Musik.
  3. Biografien von Komponisten oder zeitgenössische Berichte.
  4. Die Partitur selbst.

Einige Ausgaben sind genauer als andere. Die korrekteste Ausgabe einer Partitur ist diejenige, welche die Absichten des Komponisten am Ende am genauesten vermittelt. Friedrich Hänssler, früherer Seniorherausgeber des Hänssler-Verlags in Stuttgart, Deutschland, stellt fest, dass die ideale Ausgabe eine solche ist, die „anstrebt, den letzten Wunsch des Komponisten für seine Komposition zu präsentieren“. Jedoch besteht das Definieren der genauen Absichten des Komponisten nicht  in der Präsentation einer exakten Kopie des Originalmanuskripts. Eine solche Darbietung würde dem modernen Publikum  nicht nahe bringen, wie Unterschiede zwischen Duplikaten und Originalmanuskripten, Unterschiede in der Notationspraxis zwischen der Entstehungszeit des Originals und heute und Fragen, die die originale Aufführungspraxis betreffen in Einklang zu bringen sind.

Aus diesem Grund sind Editionen in der Tat kritisch, wenn wir nach einem verlässlichen  Chorprogramm streben.

 

Redaktionsprozess

Editionen sind nur so gut wie die Fachkenntnis, die der Publikation zugrunde liegt. Das Ideal, das jeder Herausgeber anstrebt, ist eine vertrauenswürdige Repräsentation der musikalischen Absichten des Komponisten. Wenn der Komponist noch lebt, hat die veröffentlichte Ausgabe die Möglichkeit, diese Absichten genau darzustellen. Sie ist dann in den meisten Fällen präzise. Aber selbst unter diesen Umständen werden beim Drucken Fehler gemacht. Sie werden oft in einem zweiten Druck berichtigt, aber viele Originalausgaben der fehlerhaften Partitur werden erhältlich und weit verbreitet sein, bevor sie nachgedruckt wird. Wenn die veröffentlichte Partitur aus einer früheren Musikperiode stammt, ist die redaktionelle Arbeit entscheidend für eine genaue Veröffentlichung. Redaktionelle Methoden unterscheiden sich sehr, und die herausragende Stellung des Herausgebers  kann gar nicht hoch genug geschätzt werden; die Ergebnisse sind entscheidend. Der Beweggrund, historische Werke zu veröffentlichen ist, die Aufmerksamkeit der musikalischen Gemeinschaft auf Werke von hohem Wert zu lenken. Dafür ist jede Form der Vereinfachung wünschenswert, die die Musik für eine größtmögliche Anzahl von Menschen sofort zugänglich macht. Jedoch, in welcher Weise auch immer Information und Notation vereinfacht werden, die wichtigste Forderung besteht darin, Genauigkeit in der Endfassung zu vermitteln. Dazu gehört die wichtigste redaktionelle Anmerkung: der Hinweis, was original ist und was vom Herausgeber zugefügt oder geändert wurde. Jede Information des Herausgebers ist  gültig, solange er die originalen Zeichen anzeigt und erklärt, was im Hinblick auf das Original geschehen ist. Der Dirigent muss sicher sein, dass nichts am Original ohne Hinweis in der Partitur geändert wurde. Die Verwendung von redaktionellen Klammern oder Anführungszeichen ist  der gebräuchliche Hinweis auf Informationen des Herausgebers, um sie vom Originalmaterial zu unterscheiden.

 

Der Weg zu idealen Quellen

Das Ideal für jeden Dirigenten ist, eine wissenschaftliche Partitur zu haben, die sich auf das Originalmanuskript stützt. Die Möglichkeit, die vom Komponisten gesetzten exakten musikalischen Zeichen zu sehen, bringt viel Verständnis und Vertrauen in die  den Prozess der Forschung, der Interpretation und der Aufführung. Jedoch sind Originalpartituren aus der Zeit vor dem 16.Jahrhundert extrem selten. Das gilt für alle frühen Ausgaben und weiter in abnehmender Seltenheit, je mehr Prozess des Musikdruckens durch die Jahrhunderte voranschritt. Deshalb müssen sich Dirigenten wie alle, die nach Musik zum Studium und für Aufführungen suchen, auf Editionen des Originalmanuskripts verlassen.

 

Die Suche nach der richtigen Quelle

Um mit der Suche nach Literatur zu beginnen, sollte der Chorleiter vor jeglicher Programmplanung folgende Fragen stellen:

  1. Welche Art von Musik will ich ins Programm aufnehmen?
  2. Welche ist die beste Quelle für die gewählte Literatur?
  3. Wie gehe ich vor, um die so identifizierte Quelle zu überprüfen?

Im Allgemeinen kann der Begriff historische Edition für alle musikalischen Veröffentlichungen verwendet werden, die einem Repertoire aus der Vergangenheit gewidmet sind. Der ernsthafte Forscher und/oder Künstler ist daran interessiert, wissenschaftliche Ausgaben, auch kritische Ausgaben, zu untersuchen. Solche veröffentlichten historischen Editionen basieren auf einem redaktionellen Prozess, der Vergleichen und Kontrastieren des Originalmanuskripts des Komponisten oder anderer historischer Editionen mit dem Original beinhaltet. Die Alternative zur historischen/kritischen Edition ist die Aufführungsedition. An der Aufführungsedition ist ein redaktioneller Prozess beteiligt, der Original- oder Sekundärquellen benutzen kann – aber nicht muss. Sie gibt oft ihre Quellen nicht an und enthält häufig Hinweise in moderner Form.

Die historische oder kritische Ausgabe und die Aufführungsedition schließen sich im redaktionellen Prozess  nicht zwangsläufig aus, aber die Tatsache, dass sie für zwei unterschiedliche Personenkreise gedacht sind, bestimmen die Auswahl während des Prozesses. Der Wissenschaftler erwartet von der wissenschaftlichen oder kritischen Ausgabe Hinweise auf Forschungen, in Form von Anmerkungen oder Fußnoten, die sich auf das Verständnis des Originalmanuskripts beziehen. Der Künstler, auf der anderen Seite, erwartet von der Aufführungsausgabe, dass sie ihm eine Partitur liefert, die ehrlich in Bezug auf die Absichten des Komponisten, aber in der Aufführungsfassung auch leicht zu lesen ist. Die Aufführungsedition lenkt den Künstler nicht mit verwirrenden Alternativen zur Notation und Erklärungen in der Partitur ab. Die historische Edition findet sich entweder in einer Sammeledition, die das gesamte Werk eines Komponisten umfasst, oder in einer Anthologie, die unterschiedliche Werke eines bestimmten Genres enthält. Ein Faksimile, die Reproduktion einer Primärquelle – mit oder ohne wissenschaftlichem Kommentar – ist eine Kategorie in der Sammeledition. Sammeleditionen, Anthologien und Faksimiles erhält man normalerweise in fortlaufender Auflage bei musikwissenschaftlichen Gesellschaften und in Büchereien.  Aufführungseditionen existieren getrennt davon als unabhängige Veröffentlichungen aufgrund ihrer praktischen Funktion als Aufführungsexemplar sowohl für Dirigenten als auch für Künstler. Sie werden in großer Zahl veröffentlicht, entsprechend der Bedürfnisse der aufführenden Ensembles, für die sie hergestellt werden. Aufführungsausgaben findet man in der Regel in Katalogen der Musikverlage, durch Gespräche mit Kollegen oder durch Kontakt zu einem seriösen Musikalienhändler.

Wie oben schon festgestellt, basieren historische Editionen auf Original- und Sekundärquellen. Das kann auch für Aufführungsausgaben gelten, wie im Fall von Urtext – Editionen. Urtext ist ein Begriff, der für moderne Druckausgaben älterer Musik verwendet wird, deren Ziel es ist, eine textgetreue  Wiedergabe der Originalpartitur ohne redaktionelle Einfügungen oder Änderungen  darzustellen.

Obwohl viele es bevorzugen würden, dass der Herausgeber Referenzen und Quellenmaterial angibt, fehlen sie in vielen Aufführungseditionen. Wenn die Quellen nicht angegeben sind, muss der Künstler entweder die Verantwortung übernehmen, diese mit einer kritischen Edition zu vergleichen, oder der Fachkenntnis des Herausgebers vertrauen, dass er den Absichten des Komponisten gerecht wird.

 

Einkaufsquellen

Nach der Festlegung der Art der Literatur und der gewünschten Quelle, besteht der letzte Schritt im Entscheidungs- und Programmentwicklungsprozess darin, die Ausgabe der Partitur zu kaufen. In manchen Fällen ist mehr als eine Quelle auszumachen. In anderen Fällen ist die gewünschte Partitur möglicherweise nicht erhältlich. Wenn man die Suche nach der Quelle und der gewünschten Ausgabe beginnt, ist es wichtig, sich die bestimmenden Elemente in Bezug auf die Komposition zu notieren:

  1. Titel der Komposition
  2. Komponist und Autor der Textquelle
  3. Herausgeber
  4. Fassung
  5. Verleger und/oder Händler
  6. Artikelnummer (ISBN-Nummer)
  7. Datum des Copyrights oder der Veröffentlichung

Menschen, die die Gelegenheit haben, Originalmanuskripte früher Musik zu sehen, insbesondere, wenn es sich um eine klassische Partitur handelt, sind selten und privilegiert, aber es ist wichtig zu wissen, dass solche Werke durchaus erhältlich und einsehbar sind. Wie Sie wohl vermuten, werden seltene und wichtige Originaldokumente unter Verschluss gehalten hinter Glas oder in vor Umwelteinflüssen geschützten Büchereien oder Tresoren aufbewahrt. Man findet sie typischerweise in wichtigen wissenschaftlichen Bibliotheken, Nationalbibliotheken und Nationalarchiven. Trotzdem können interessierte Forscher unter bestimmten Umständen und bei vorheriger Anmeldung solches Material einsehen.

Falls die Einsicht in das Originaldokument schwierig oder unmöglich ist, ist es gut möglich, dass sich der Forscher an ein fotografisches Faksimile hält. Manuskripte aus so früher Zeit wie dem Mittelalter sind als  Faksimileausgaben erhältlich. Falls eine Partitur nicht als Faksimile zu bekommen ist, ist das Studium der Primärquelle immer noch durch gesondert zu bestellende Digital- oder Filmkopien oder durch Mikrofilm/Mikrofiche Kopien möglich. Büchereien und Archive, die historische Dokumente erstanden haben, machen diese Quellen oft durch einen Kopierservice zugänglich. Solche Formate sind relativ günstig zu erhalten und eine ausgezeichnete Quelle für das Studium. Ihre Verfügbarkeit hat hohes Fachwissen auf einer viel breiteren Basis ermöglicht, indem es Forschern erlaubt, diese Quellen in Büchereien auf der ganzen Welt zu bestellen.

Der nächste Schritt nach digitalen und fotografierten Duplikaten der Originale sind die wissenschaftlichen historischen Ausgaben. Typischerweise beschreiben diese Ausgaben die Originalquellen, auf denen die moderne Ausgabe basiert ebenso wie die anderen verwendeten Informationsquellen. Informationen, die moderne wissenschaftliche Ausgaben betrachten, werden in musikwissenschaftlichen Zeitungen und Zeitschriften ständig  veröffentlicht. Informationen über die Primärquellen, auf denen moderne Editionen basieren, findet man am besten in den Ausgaben selbst. Aber sie müssen durch Hinzuziehen von Katalogen von Musikdrucken und Manuskripten in einer namhaften Forschungsbibliothek ergänzt werden. Unentbehrliche Nachschlagewerke, Dissertationen, Kataloge und online- Quellen stehen heute für das Auffinden  sowohl historischer Ausgaben als auch von Aufführungsausgaben von Partituren zur Verfügung. Diese Referenzmaterialien gibt es in Büchereien mit musikwissenschaftlichem Schwerpunkt.

Aufgrund der Kosten, mit denen die Vorbereitung und Veröffentlichung historischer Editionen verbunden sind, sind Büchereien normalerweise die einzigen Orte, an denen man historische Sammlungen findet. Auf der anderen Seite sind Aufführungsausgaben erschwinglich für den Einzelnen, der am Sammeln oder am Studium spezieller Kompositionen interessiert ist. Aufführungsausgaben werden zu dem Zweck veröffentlicht, sie Dirigenten in großen Mengen zu Aufführungszwecken zur Verfügung zu  stellen. In Büchereien findet man kaum Regale voll mit individuellen Aufführungsausgaben kleiner Kompositionen. Aber Hauptwerke wie Oratorien, Kantaten, Symphonien, Begleitmusiken, Konzerte und Opern findet man dort häufig. Wer am Auffinden von Aufführungseditionen kleinerer Werke interessiert ist, muss sich an Verlage, spezialisierte Archive und Bibliotheken, Agenturen, die Partituren verleihen oder Großhändler direkt wenden, um sich eine bestimmte Komposition zu sichern. Nur die populärsten Aufführungseditionen werden über einen längeren Zeitraum immer wieder neu aufgelegt.

 

Verweise zum Auffinden von Quellen

Die umfassendste zugängliche englischsprachige Liste historischer Editionen findet sich in A. H. Heyer’s Historical Sets, collected Editions, and Monuments of Music: A Guide to Their Contents. Die neueste Edition seines monumentalen Werks umfasst die vollständigen Ausgaben der Musik einzelner Komponisten und die wichtigsten Musiksammlungen, die veröffentlicht wurden oder im Begriff sind, veröffentlicht zu werden. Jeder Eintrag entspricht dem Format der U.S. Library of Congress und enthält den Komponisten oder Verfasser der Sammlung, den Titel, den Publikationsort, den Verleger, das Veröffentlichungsdatum, die Anzahl der Seiten oder Bände und eine kurze Beschreibung des Anschauungsmaterials. Auf mögliche besondere Anmerkungen folgt ein Inhaltsverzeichnis. Diese Quelle kann man in den meisten wissenschaftlichen Bibliotheken finden.

Drei andere englischsprachige Werke sind ebenfalls sehr hilfreich, um historische Editionen ausfindig zu machen:

  • Historical Musicology von L.B. Spiess
  • Die Liste historischer Editionen, die in Willi Apel’s Harvard Dictionary of Music unter dem Eintrag „Editions, historical“ veröffentlicht sind
  • “Editions, historical,” im The New Grove Dictionary of Music and Musicians, herausgegeben von Stanley Sadie

 Die deutsche Musikenzyklopädie Die Musik in Geschichte und Gegenwart ist ein weiteres Standardreferenzwerk für Wissenschaftler, die historische Ausgaben suchende. Sammelausgaben und ihre Inhalte sind in dieser Aufzeichnung unter Denkmäler oder monuments aufgelistet. (Anhang E listet andere Ressourcen für die Suche nach zuverlässigen Quellen.)

Digitale Technologie wird heute auch genutzt, um gedruckte Ausgaben über elektronische  Post oder online anzusehen. Bei diesem Verfahren werden sie gescannt und in ein digitales Format umgewandelt. Digital gespeicherte Bilder können auf dem Bildschirm angesehen oder ausgedruckt werden. Dieses Verfahren wird für beliebte Aufführungsausgaben und einige historische Ausgaben oft kommerziell genutzt. Diese Technologie ist geeignet, eine komplette Bücherei wissenschaftlicher Editionen und  Aufführungsausgaben dem größtmöglichen Publikum zugänglich zu machen. Lasertechnologie erlaubt die Übertragung von mehr als achttausend Seiten Information auf eine compact disc. Wenn dieser Prozess für alle Anwender wirtschaftlich wird, können die Druckausgaben, wie wir sie heute kennen, bedeutungslos werden.

 

Bestandteile einer hervorragenden Edition

Es ist durchaus möglich, ein historisches Manuskript selbst zu bearbeiten. In der Tat, der beste Weg, den Prozess zu verstehen, der zu einer Edition führt,  besteht darin, sich durch die verschiedenen Schritte hindurch zu arbeiten, die nötig sind, eine genaue historische Edition herzustellen.

Der erste Schritt, beim Herstellen Ihrer eigenen Edition ist, die besten Quellen für das zu bearbeitende Werk herauszusuchen. Dieser Schritt erfordert die Sicherung von Primär- oder Sekundärquellen und die Einschätzung der Genauigkeit und Zuverlässigkeit dieser Quellen; das ist leichter, wenn es nur eine einzige Quelle für die gewünschte Komposition gibt. Der zweite Schritt im Prozess ist, für das gewünschte Werk verlässlich erscheinende Versionen in Betracht zu ziehen und zu vergleichen. Wenn mehrere Quellen für die gewünschte Komposition zur Verfügung stehen, muss der Herausgeber sie vergleichen und gegenüberstellen und dabei immer das Ziel im Blick haben, diejenige Quelle zu finden, die am ehesten die endgültige Absicht des Komponisten widerspiegelt. Der dritte Schritt ist, die angewandte Art der Notation im Original zu bedenken und dann zu festzulegen, wie man die Notation am besten in eine solche umwandelt, die der moderne Leser verstehen kann. Für frühe Musik ist das eine besonders schwierige Aufgabe. Selbst im 18. und 19. Jahrhundert hatten die Notationszeichen noch andere Bedeutungen als heute. Der moderne Herausgeber muss sich entscheiden, entweder die Originalzeichen zu erhalten und die Unterschiede in Fußnoten zu erklären, oder die Zeichen durch moderne zu ersetzen und diese Änderung wiederum in Fußnoten erläutern.  Der vierte Schritt ist, die Aufführungspraxis mit einzubeziehen. Der Herausgeber muss  bedenken, wie das Werk in der Zeit klingen sollte, zu der es entstand. Welche Auswirkung haben diese Tatsachen auf die moderne Aufführungspraxis? Komponisten früherer Zeit ließen oft Notationen oder interpretierende Zeichen weg und überließen damit einige Entscheidungen dem Ausführenden. Das bedeutete, dass es zwischen dem, was im Manuskript stand und dem, wie es tatsächlich klang, einen Unterschied gab. Im Barock benutzten die Komponisten  bezifferten Bass, um die gewünschte Harmonie für eine Komposition anzugeben. Der geübte Generalbassspieler konnte den angegebenen  bezifferten Bass in einen richtigen Vortrag umsetzen. Jedoch, was fängt der moderne Herausgeber mit solchen Zeichen an? Dies ist ein Beispiel dafür, welche Gedanken sich jeder Herausgeber historischer Partituren für die Aufführungspraxis machen muss.

Schließlich muss der Dirigent entscheiden, für welche Zielgruppe die gewählte Ausgabe ist. Mit anderen Worten, soll sie für die Aufführung sein, oder ist es als  Werk für wissenschaftliche Studien gedacht? Sie kann aber auch beide Zielgruppen zufrieden stellen. Die Urtext-Edition versucht, die Originalkomposition des Komponisten ohne redaktionelle Anmerkungen zu vermitteln. Diese Edition übersetzt alle Noten und Details in die moderne Notation. Das andere Extrem ist eine stark bearbeitete Aufführungsausgabe. Charakteristisch für sie sind genaue Angaben für unterschiedliche zu interpretierende Merkmale. Eine solche Ausgabe macht das Werk unmittelbar zugänglich für einen Großteil der Aufführenden. Diese beiden extremen Varianten müssen sich nicht gegenseitig ausschließen. Wenn der Herausgeber sorgfältig alle redaktionellen Einfügungen und Interpretationen abgrenzt von dem, was im Originalmanuskript steht, , kann eine Ausgabe beides, sowohl eine wissenschaftliche Ausgabe als auch eine Aufführungsausgabe sein.

 

Ihre eigene Chorausgabe erarbeiten

Erarbeiten Sie Ihre eigene recherchierte Ausgabe eines Werks anhand der nun folgenden Anweisungen, und erwägen Sie, die Ausgabe und Ihre wissenschaftliche Arbeit anderen zugänglich zu machen. Hier folgen die Schritte:

1. Identifizieren Sie die beste Primärquelle oder verlässliche Sekundärquelle(n):

    a. Wenn eine Originalquelle verfügbar ist, nehmen Sie diese als Primärquelle.

    b. Falls mehrere Originalquellen verfügbar sind (Kopie, Überarbeitung etc.), sehen Sie sich jede an und vergleichen Sie die Quellen.

    c. Falls zuverlässige Sekundärquellen vorhanden sind, sehen Sie sich alle an und vergleichen Sie sie.

2. Ziehen Sie alle verlässlich erscheinenden Versionen für die gewünschte Ausgabe in Betracht:

    a. Der Zweck ist, so gut wie es Ihnen möglich ist herauszufinden, wie sorgfältig die Quelle die endgültigen Absichten des Komponisten widerspiegelt.

3. Beachten Sie die Notationszeichen der Entstehungszeit des Originalwerks:

    a. Treffen Sie redaktionelle Entscheidungen, wie Sie diese einem modernen Künstler am besten vermitteln.

    b. Vermerken Sie Änderungen, die Sie an der Partitur vorgenommen haben durch Fußnoten und Klammern

4. Beachten Sie die Aufführungsweise der Zeit, in der das Werk komponiert wurde, und berücksichtigen Sie, dass das moderne Umfeld eine Herausforderung ist.

    a. Wie sollte das Werk klingen, als es ursprünglich geschrieben wurde?

    b. Wie können dem modernen Künstler die ursprünglichen Absichten vermittelt werden?

    c. Was war für die Künstler der damaligen Zeit so selbstverständlich, dass es nicht in der Partitur stand (und was die heutigen Künstler nicht notwendigerweise wissen)?

    d. Wie kann diese Aufführungspraxis dem heutigen Künstler vermittelt werden?

5. Entscheiden Sie, für welche Zielgruppe Ihre Ausgabe sein soll:

    a. Soll es eine historische Edition nur für Studienzwecke sein?

    b. Soll es eine Aufführungsedition sein, die die Aufführung erleichtert?

    c. Soll es eine für beide Zielgruppen sein, die geschichtliche Veränderungen im Kontext einer praktischen aufführbaren Partitur aufzeigt?

6. Erläutern Sie Ihre Entscheidungen in der endgültigen Edition:

    a. Zeigen Sie entweder durch Fußnoten oder Klammern, wo Sie sich für Abweichungen vom Original entschieden haben.

    b. Erstellen Sie ein Deckblatt, auf dem die redaktionellen Entscheidungen angegeben sind.

 

Schlusswort

Für den Dirigenten sollte bei der Zusammenstellung des Programms der moralische Aspekt, die Absichten des Komponisten zu respektieren, sehr schwer wiegen. Die Auswahl der richtigen Partitur und Ausgabe und das Vertrauen in die redaktionelle Arbeitsweise, die zum Entstehen dieser Partitur geführt hat, sind die Grundlage für das Erschaffen eines authentischen Programms.

 

Tim Sharp, e-mail: sharp@acda.org

 

Aus dem Englischen übersetzt von Andrea Stahl, Deutschland