Chorklang zum Greifen nah!

Prof. Harald Jers, Dirigent, Deutschland

Bei den beiden hier vorgestellten CD-Produktionen liegt ein starker Fokus auf besonderen Aufnahmetechniken zur Verwirklichung von künstlerischen Konzepten. Beide CDs weisen unterschiedliche audio-technische Besonderheiten auf und sind in dieser Form einzigartig. Sie ermöglichen, ein normalerweise nur in einem realen Raum wahrnehmbares Hörerlebnis ins Wohnzimmer nach Hause zu bringen. In beiden Fällen ist ein hochwertiger Kopfhörer zu empfehlen, um die raumabbildende Atmosphäre wahrnehmen zu können. Dieses Verfahren unterscheidet sich vom 5.1 Surround darin, dass dieses auf einer binauralen Raum-Synthese mit einem Mehrkanal-Tonsystem beruht und ein entsprechend ausgeklügeltes Lautsprechersystem benötigt.

 

CD „Lost Voices of Hagia Sophia“

Die Hagia Sophia – übersetzt „heilige Weisheit“ – wurde im europäischen Teil von Istanbul 532-537 n.Chr. durch Kaiser Justinian als byzantinische Kirche erbaut und gilt als bedeutendstes Gebäude aller Zeiten. Bis 1453 wurde sie zur Feier von Liturgie mit Musikaufführungen verwendet, bis sie 1453 nach der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen als Moschee genutzt wurde. In der anschließenden Verwendung als Museum im Zeitraum 1935 bis 2020 war jegliche instrumentale und vokale Musik verboten, so dass ein Hörbachmachen der byzantinischen Musik unmöglich war. Auch die erneute Umwandlung zur Moschee seit 2020 ändert daran nichts.

Glücklicherweise haben Wissenschaftler der Stanford-Universität 2010 mit einer einfachen Messanordnung wesentliche raumakustische Informationen „konservieren“ können, die der Wissenschaft zu Forschungszwecken und dem Hörer dieser CD als Höreindruck zugänglich gemacht werden. Die Raumakustik sowie die akustische Raumsimulation verwenden schon seit mehreren Jahrzehnten Messverfahren, die eine virtuelle Simulation von Räumen ermöglichen. Sowohl in der Planung von Räumen als auch der Messung bestehender Räume kann mit Hilfe sogenannter binauraler Raumimpulsantworten ein Klangeindruck eines Raumes sehr realistisch wiedergegeben werden. Nach der Theorie linearer, zeitinvarianter Systeme und unter gewissen Rahmenbedingungen sind alle Übertragungseigenschaften in der Impulsantwort enthalten. Einmal aufgenommen – für einen Ausgangspunkt der Schallquelle und dem Zuhörer als Empfangsort – kann jedes direkte Schallsignal mit Hilfe einer mathematischen Operation, der Faltung, in diesem Raum „hörbar“ gemacht werden. Im Mai 2010 diente das Zerplatzen eines Ballons in der Hagia Sophia in ca. 3 Meter Höhe als akustische Impulsanregung des Raumes. Aufgenommen wurde die „Antwort des Raumes“ mit zwei Kugelmikrofonen, die oberhalb der Ohren eines Wissenschaftlers in den Haaren befestigt waren. Basierend auf diesem akustischen Profil wurden Raumimpulsantworten generiert, die in Live-Situationen verwendet werden können. Nach ersten Aufnahmen des auf geistliche byzantinische Musik spezialisierten Cappella Romana-Ensembles unter Leitung von Professor Alexander Lingas 2011 wurden zwei Konzerte 2013 und 2016 in der Bing-Halle in Stanford durchgeführt. Die ovale Konzerthalle mit 842 Plätzen besitzt terrassenförmig ansteigende Sitzreihen. Im innenliegenden, weiträumigen Bühnenbereich ist Platz für das 13-köpfige Vokalensemble. Jedes Ensemblemitglied wurde jeweils mit einem Mikrofon in Mundnähe ausgestattet. Diese Mikrofonierung von Direktschall wurde im angeschlossenen Tonstudio mit den Hagia-Sophia-Raumimpulsantworten auf 24 Lautsprechern für Ausführende und Zuhörer widergegeben. Ein Zusammenschnitt der Konzerte und Proben befinden sich auf dieser CD – ein Klangerlebnis, welches seit 500 Jahren unmöglich ist und einen Eindruck gibt, wie der Raum im sechsten Jahrhundert geklungen haben mag. Auch wenn die Akustik durch Baumaßnahmen beeinflusst ist, die im Jahr 1453 christliche Insignien, Inneneinrichtung, Dekorationen und Glocken entfernt und durch Putz verdeckt wurden und die damals 500 Gottesdienstbesucher die Akustik beeinflusst hätten, ist die Hagia Sophia heute weniger verändert als die großen frühchristlichen Basiliken Roms und Jerusalems.

capella romana © CCRMA Stanford University

Das Repertoire der CD umfasst unterschiedliche mittelalterliche, byzantinische Gesänge zum Fest der Erhöhung des Heiligen Kreuzes in Konstantinopel. Professor Alexander Lingas hat als Spezialist dieser Musik zahlreiche Manuskripte aufführungspraktisch rekonstruiert und leitet dieses Spezialensemble. Die stimmlich ausgebildeten und stilistisch hervorragend geschulten Sängerinnen und Sänger schaffen es, dem Wechselspiel zwischen langen Liegetönen von Grundton und Quinte und den Reibungen und Wohlklängen der Melodie sowohl Leben als auch Meditation zu verleihen. Die Interaktion von Raum und Musik beeinflusst positiv die langsamen Tempi und lässt die Sängerinnen und Sänger die Harmonien auf die Resonanzen der Hagia Sophia abstimmen. Die Bordun-Klänge füllen den Raum wie eine Orgel, und die darüber erklingenden Stimmen ruhen und vermischen sich durch diffuse Frühreflexionen auf diesem „Klangbett“. Das amerikanische Vokalensemble tritt seit 1991 sowohl in Konzerten als auch auf zahlreichen CD-Aufnahmen in Erscheinung. Ihr Leiter ist Professor an der Universität in London und Spezialist für byzantinische Musikgeschichte. Wenn die Sänger aufhören zu singen, hört man den Nachhall von ca. 12 Sekunden unter Isolation jeglicher Außengeräusche beeindruckend nachwirken. Während ein Großteil der liturgischen Aktionen am und um den Ambo in der Nähe des Zentrums der Hagia Sophia stattgefunden hat, befinden sich einige der von Mitgliedern der Cappella Romana gesungenen Rollen wie Diakon und Priester an verschiedenen räumlichen Stellen im Chor zwischen Ambo und Apsis. Die Stimmen an diesen Orten klingen aufgrund der Akustik dieser Orte diffuser und entfernter.

 

First verse of the Kekgragarion (Ps. 140) “Lord I have called to you, hear me. Give heed to the voice of my supplication when I call upon you” and its refrain “It is only to you, O Lord and Master, that we send up our evening hymn: have mercy on us.” From MS Athens 2062, f 54r, reprinted with permission.

 

Für einen Musikhörer unserer Zeit erscheint das Repertoire zu Beginn möglicherweise etwas eintönig und harmonisch wenig abwechslungsreich. Wie im Booklet als Hörempfehlung erwähnt und in der beiliegenden Blue-Ray-Disc dokumentarisch erläutert, mag der Zuhörer die Musik der CD auch bildhaft, meditativ und atmosphärisch verstehen. Architektur, verwendete Materialien und Anordnungen werden zu einer Einheit mit der Musik. Die Textverständlichkeit ist durch die langen Melismen bewusst auf eine Klangebene gehoben; sicherlich auch darin begründet, dass einige Gesänge liturgisch begleitend verwendet wurden.

 

CD „Surround the World a cappella“

Die CD „Surround the world a cappella“ des Vokalensembles egregor vocal stellt ebenfalls eine CD mit dem besonderen Fokus auf binauraler Audiotechnik dar. Das Konzept repräsentiert die Zahl 16 in verschiedenen Zusammenhängen: 16 Vokalwerke, 16 verschiedene Länder, 16 akustische Raumkonfigurationen und 16 verschiedene Gesangsgruppen/Gesang von Solo über Duo, Trio, etc. bis zum Hexa-Dektett mit 16 Stimmen. Im Gegensatz zur Aufnahmetechnik der CD „Lost voices of Hagia Sophia“, bei der Raumimpulsantworten rekonstruiert und audiotechnisch verwendet wurden, haben die Techniker dieser CD binaurale Aufnahmen mit einem Kunstkopf erstellt und für jedes Werk entsprechend eine eigene Aufstellung gewählt, z.B. Einzelstimme von verschiedenen Positionen, Duett gegenüber, romantischer Klang aus Entfernung, Doppelchor gegenüber, Einzelstimmen vom Gesamtchor separiert. Sowohl in der Musikproduktion als auch in der Wissenschaft werden seit vielen Jahrzehnten unterschiedliche „Kunstköpfe“ verwendet. Sie haben gemein, dass sie den Kopf bzw. Torso des Menschen abbilden, während sich zwei Mikrofone im Zentrum der beiden künstlichen Ohrmuscheln befinden. Diese besondere Stereo-Aufnahmetechnik bildet somit neben den Laufzeit- und Schallpegelunterschieden auch die spektralen Klangverfärbungen ab, die nach einer Verarbeitung im Gehirn aufgrund der menschlichen Hörerfahrungen für eine räumliche lokalisierte Wahrnehmung notwendig sind. Für eine realistische räumliche Wirkung sind Kopfhörer notwendig, oder eine besondere Lautsprecher-Anordnung bzw. Signalverarbeitung. Die 16 internationalen, professionellen Künstler des innovativen Ensembles egregor vocal haben sich unter ihrem künstlerischen Leiter Thomas Roullon durch ihre experimentellen Ansätze in Konzert und bei Aufnahmen einen hervorragenden Namen gemacht. Auch auf dieser CD sind Werke ohne stilistische und nationale Grenzen zu entdecken von Renaissance und Volksliedarrangements über romantische und zeitgenössische Ensemble- und Chorwerke bis hin zum Jazz-Arrangement.

egregor vocal © Pauline David

Als Aufnahmeorte wurde die Kirche „Saint-Jacques de Pouzauges“ und die Innen- sowie Außenräume des nicht weit entfernten Priorats von Grammont gewählt. Die dort befindlichen Räume wie z.B. Küche, Refektorium, Keller, Gästezimmer, Flurbereich oder Treppenhaus boten umfangreiche Positionierungsmöglichkeiten für die verschiedenen Besetzungen und den aufnehmenden Kunstkopf, deren Positionen im Booklet sorgfältig dargestellt sind. Als weitere Besonderheit hat sich das Ensemble für die Stimmtonhöhe von einem A mit 432 Hz entschieden, für die sich auch Verdi ausgesprochen hatte. Da die Zahl 432 aber auch durch die Zahlen 3, 6 und 9 mit Bezug zu Nikola Tesla teilbar sei, wird dieser „Stimmgabel der Erde“ und der entsprechenden Stimmtonhöhe ein besonderer Einklang der Orte aus Stein und Holz zur Natur nahegelegt. Für manche Absoluthörer mag dieses etwas gewöhnungsbedürftig sein, aber insgesamt mag diese Tonhöhe den Aufnahmen eine gewisse Entspannung geben.

Thomas Roullon © Aino Karvo

Als besondere Experimente sind zwei Aufnahmen hervorzuheben. Zum einen das Jazz-Arrangement von „Les Moulins De Mon Cœur“, welches statt im Raum in einer 8D-Aufnahme vorliegt. Mit 8D sind nicht 8 Dimensionen gemeint, sondern ein Audio-Signal, welches aus 8 Richtungen zu kommen scheint; ein seit 2018 immer stärker werdender YouTube-Trend der Aufnahmetechnik. Die sechs separat aufgenommenen Stimmen wandern durch elektronische Verarbeitung durch den Klangraum und erweitern das Surroundkonzept der CD. Zum anderen xxx die Aufnahme des 12-stimmigen Liberté aus dem Zyklus „Figure humaine“ von Francis Poulenc. In den digital-räumlichen Mehrspuraufnahmen werden die zwei Sextette räumlich getrennt. Mit steigendem Tempo der Musik wird gleichzeitig die Klangbühne akustisch vergrößert. Als weitere Besonderheit sei erwähnt, dass durch die Mehrspuraufnahme auch eine Tonhöhenbearbeitung ermöglich wird, hier wurde die Kirnberger-Stimmung, eine Variante der wohltemperierten Stimmungen des 18. Jahrhunderts, gewählt, womit diese Aufnahme sicherlich eine besondere Einzigartigkeit erhält.

Stimmlich über alle Werke betrachtet ergänzen sich die ausgebildeten Stimmen chorisch sehr gut ohne die eigenen Klangcharaktere zu verlieren. Klare und schlanke Soprane stehen neben sonoren und flexiblen Bassstimmen, strahlende und verschmelzende Tenöre komplementieren sich mit warmen und wohlklingenden Altstimmen. Manchmal neigen zwar einige Frauenstimmen zu etwas Schärfe und die Männerstimmen erscheinen besonders prägnant. Stimmliche Schwierigkeiten wurden aber sehr gut gelöst und führen zu ausgesprochen hochwertiger Intonation und Dynamikbalance. Durch die Ensemblesituation bedingt, wurden bei den Tempi sehr langsame und romantisch orientierte Tempi eher vermieden, was dem Gesamteindruck aber eine angenehme Spritzigkeit und Frische verleiht.

 

Fazit

Insgesamt gesehen zwei lohnenswerte CD-Produktionen, die mit einem Kopfhörer eine neue Form der Hörerfahrung bieten. Zu erwähnen sei noch, dass mit einem normalen Stereo-Lautsprechersystem dieser Raumeindruck nicht erzielt werden kann. Aber in diesem Fall kann man sich an der qualitativ hochwertigen Darbietung der Ensembles und dem experimentellen Charakter erfreuen.

 

© Horst Schmeck

Harald Jers ist Professor für Chordirigieren an der Musikhochschule Mannheim (Deutschland). Das dort integrierte Landeszentrum für Dirigieren stellt eine der größten und breitesten Studienangebote im Bereich Dirigieren in Europa dar und verknüpft die Dirigierschwerpunkte Chor, Sinfonik, Oper, Blasorchester, Jazz und Avantgarde. Weiterhin arbeitet Harald Jers freiberuflich als Dirigent und leitet Dirigierkurse bei internationalen Symposien, Musikfestivals und Fachkonferenzen, unterrichtet Chordirigieren, Gesang und Stimmbildung in Verbindung mit musikalischer Akustik und ist Juror bei internationalen Chor- und Kompositionswettbewerben. Auf Basis seiner Studien in Dirigieren, Lehramt Musik/Gesang, Kirchenmusik und Physik intensivierte er seine Forschungsarbeit im Bereich Chor- und Raumakustik. Nach einem Forschungs- und Dozentenaufenthalt im Auftrag der EU in Schweden erhielt er den ersten Preis der »Acoustical Society of America« für wichtige wissenschaftliche und musikpraktische Forschungsergebnisse. Harald Jers hat durch die praktische Umsetzung von wissenschaftlichen Erkenntnissen auf dem Gebiet der Chorakustik und dem daraus resultierenden werk- und epochenspezifischen Klang sowie einer systematischen Probenmethodik und effektiven Dirigiertechnik große Erfolge erzielt, was zahlreiche Preise bei internationalen Chorwettbewerben mit seinen Chören, CD-Einspielungen, Radio-Produktionen und Publikationen in Büchern und Fachzeitschriften belegen. E-Mail: harald.jers@gmx.de