Risikobereitschaft bei der Programmgestaltung
Wege zur Erschließung neuer Musik
Cara Tasher
Chorleiterin
Wieviele Chorleiter denken an die Einbeziehung von Musik, die außerhalb ihrer „Wohlfühlzone“ liegt, indem sie neue kulturelle Idiome erforschen oder Komponisten beauftragen? Durch diesen Artikel hoffe ich Chorleiter zu animieren, die sich gern an neue Musik heranwagen würden, dies aber noch nie getan haben. Ich habe einige erfahrene Chorleiter verschiedener Erfahrungsbereiche gebeten, hierzu Stellungnahmen abzugeben.
Was bedeutet „Wohlfühlzone“? Im wesentlichen, dass einige von uns eine klare Linie ziehen zwischen einer „Wohl-“ und einer „Unwohlfühlzone“. André De Quadros (Boston University) und ich haben uns ausführlich darüber unterhalten und sind der Idee nachgegangen, dass die „Wohlfühlzone“ der Stoff ist, den wir zu kennen glauben, zum Beispiel eine Bach’sche Kantate. Wenn uns aber jemand dazu anregen will, eine philippinische Messe aufzuführen, scheint das außerhalb unseres Bereichs zu liegen. Dabei kann man für jedes scheinbar exotische Stück das gleiche Mikroskop anwenden, das man auch bei Bach benutzt.
Gute und kluge Chorleiter stellen an jedes Stück, das sie aufführen, die gleichen Fragen, so dass nichts unvertraut bleibt, wenn sie ihrem Ensemble die Partitur vorstellen. Robert Shaw ging bei jedem (alten oder neuen) Werk, das er in Angriff nahm, von einem gewissen Nullpunkt aus, als ob ihm alles fremd wäre. Wenn man die Hintergründe eines Werks untersucht, das man aufführen möchte, sollte man mit System vorgehen: Was weiß ich über die Entstehungsperiode? Welche vokale Klangfarbe ist für die Musik von (hier ist der Komponist oder das Genre einzusetzen) kennzeichnend, die ich aus meinem Chor herausholen kann? Wie sind die Lebensumstände des Komponisten, seine harmonische Sprache, rhythmische Komplexität? Wie gehe ich an die Texte/ Transkriptionen heran? Es sind immer die gleichen Fragen, unabhängig vom Repertoire, das man aufführt. Offenbar haben viele Leute gewisse Ideen in Bezug auf ihre Vertrautheit mit bestimmten Themen und vernachlässigen deshalb ein bestimmtes Repertoire aus den falschen Gründen. Sie denken, sie sind mit Bach vertraut, weil sie ihn studiert und einige Werke von ihm aufgeführt haben und die deutsche Aussprache mit Hilfe der Lautschrift hinkriegen etc. Sie entscheiden sich gegen das Fremde, weil sie glauben, über Bach alles und über indonesische Musik NICHTS zu wissen. André hat es auf den Punkt gebracht. „Was wissen die meisten Chorleiter über das Zeitalter der Aufklärung? Trotzdem führen sie die Musik dieser Epoche auf, als gehöre sie zu ihrer „Wohlfühlzone“. Gleichzeitig denken sie, dass sie über indonesische Kultur alles wissen müssen, bevor sie sie in ihr Repertoire aufnehmen, weshalb sie sie beiseite lassen.“ Die Klarheit und Schlichtheit dieses Arguments war überwältigend – der Grund, ein bestimmtes Repertoire zu vernachlässigen, liegt also nicht in dem „Ich kenne das nicht“, sondern in allzu simplen Überlegungen in Bezug auf unsere Vertrautheit mit einem Gegenstand.
Cara Tasher (CT): Warum sollte man Musik aufführen, die außerhalb unserer „Wohlfühlzone“ liegt?
André de Quadros (ADQ): Warum sollte man Weltgeschichte studieren? Warum sollte man sich die Mühe machen, Fremdsprachen zu erlernen? Unsere Welt ist zunehmend globalisiert. Wenn sich die chinesische Währung ändert, beeinflusst das die amerikanische Wirtschaft usw..
André de Quadros hat vor kurzem das arabische Stück (Fog Elna Khel) eines syrisch-irakischen Komponisten ediert. „Das Interessanteste daran ist seine schöne traditionelle irakische Melodie; es handelt sich um ein Liebeslied, das den Mond mit dem Antlitz der Geliebten vergleicht…“ Dieses Werk wurde mit einer sorgfältig erarbeiteten Übersetzung und Transkription in einer neuen Earthsongs-Serie veröffentlicht, die sich Salamu Aleikum Choral Music of the Muslim World nennt.
Yu-Chung Johnny Ku (JK) (Taipei Philharmonic Chorus): Für mich besteht einer der zentralen Werte der Kunst in der Kreativität. Dies kann die neuartige Betrachtungsweise eines Komponisten sein, die neuartige Auffassung eines alten Stückes, eine neuartige Philosophie der Programmgestaltung, eine neue Aufführungspraxis, oder einfach eine neue Komposition. Kreativität ist eine der Haupttriebfedern, damit sich die Kunst entwickeln, voranschreiten kann. Denken Sie an Dufay, Monteverdi, J. S. Bach, Beethoven, Liszt, Wagner, Stravinsky und viele andere. Ohne deren Kreativität hätten wir nicht die Musik, die wir heute erleben. Um unsere Musik weiter zu entwickeln, sollten wir deshalb auch noch nie aufgeführte Musik aufführen. Das stellt sowohl an die Ausführenden wie an das Publikum gewisse Anforderungen und verlangt Offenheit sowie den Mut, sich nicht von der Furcht vor negativen Publikumsreaktionen leiten zu lassen, da es für das Publikum ja schwierig sein könnte, die neue Musik anzunehmen oder auch nur in ein solches Konzert zu gehen.
(CT): Wie würden Sie Ihre Herangehensweise an noch nie aufgeführte Musik oder Musik, die in ihrem Kulturkreis weniger aufgeführt wird, beschreiben?
Dr. Earl Rivers (ER) (University of Cincinnati Conservatory of Music-CCM): Bei der Erarbeitung eines Werks, das ich neu in Auftrag gegeben oder noch nie aufgeführt habe, suche ich zunächst nach Informationen über den Komponisten und sein Werk. Ich schaue mir nicht nur seine Chorwerke an, sondern – ganz wichtig – auch seine Werke für andere Media – Orchester, Oper, Streichquartett und Kammermusik. Die Einsicht in den erweiterten Schaffensraum eines Komponisten macht es mir leichter, sein Werk zu analysieren, mich in seine Kompositionstechnik hineinzudenken, einschließlich der Formen, der melodischen und harmonischen Gestaltung, des Texthintergrunds und des Einsatzes von Instrumenten. Ich ergänze dies durch eine erweiterte bzw. Makroanalyse der formalen Struktur, um herauszufinden, was dem Werk eine Einheit gibt und wie Kontraste geschaffen werden. Danach folgt eine detailliertere Analyse, um die Struktur der Phrasen und die harmonische Ausgestaltung nachzuzeichnen. Eine detaillierte Analyse ist ein langer, anhaltender Prozess, denn durch zusätzliche Studien füge ich immer neue Bedeutungsschichten hinzu und verbessere mein Verständnis des Werks sowie die Fähigkeit, es mir zu eigen zu machen.
(CT): Erklären Sie uns doch ein wenig, wie Sie sich als Chorleiter, der schon verschiedenen Komponisten Aufträge erteilt hat, die betreffenden Komponisten aussuchen.
(ER): Bei einem Auftrag suche ich nach originellen Ideen, um Text und Musik auszudrücken. Um ein jüngeres Beispiel zu geben: ich habe Aaron Jay Kernis’ a cappella-Werk Ecstatic Meditations beim 1999 IFCM World Symposium in Rotterdam kennen gelernt und war von diesem dreisätzigen Werk ganz hingerissen. In “I Cannot Dance, O Lord” gelingt es Kernis durch verschiedene Metren und rhythmische Kontrapunktierung enorme Energien zu erzeugen und in einer Art zu speichern, wie ich es zuvor in der Chormusik noch nie erlebt hatte. Ganz ähnlich wie in “How the Soul speaks to God“, wo Sopran und Tenor mit dem Chor auf zwei harmonischen Ebenen in einen Dialog treten und ein Kaleidoskop interessantester harmonischer Entwicklungen kreieren. Ich habe Ecstatic Meditations sowohl mit dem CCM Chamber Choir als auch mit dem Vocal Arts Ensemble von Cincinnati aufgeführt. (Ich hatte auch Kernis’ “Teach me Thy way, O Lord” ins Programm genommen, einen zugänglichen Choral, der ein originelles kompositorisches Verfahren enthält, wo sich ein 4’ Orgelpedal-Ostinato ständig wiederholt. Als sich im historischen Plum Street Temple von Cincinnati zur Feier der Restaurierung seiner Orgel der Mitte des 19. Jahrhunderts die Gelegenheit bot, ein Werk in Auftrag zu geben, habe ich gleich an Kernis gedacht. Nach mehreren Jahren, in denen ich seine Musik gehört, studiert und aufgeführt hatte, kam ich zu der Überzeugung, dass er ein hervorragender Komponist mit originellen kompositorischen Ideen ist. Seine Two Meditations, die von der CCM’s Tangeman Sacred Music in Auftrag gegeben und 2006 vom Vocal Arts Ensemble uraufgeführt wurden, waren in vielerlei Hinsicht sehr ergreifend, besonders in der Gestaltung langer Phrasen, der Punktierung von Orgelpassagen und Kontrastmustern. Bei nächster Gelegenheit, wenn ich ein Werk in Auftrag gebe, werde ich bei der Auswahl des Komponisten auf die Fülle meiner Erfahrungen mit dessen Werken zurückgreifen, einschließlich meiner Hörerfahrungen, Studien, Aufführungspraxis und Reflexionen.
(CT): Beschreiben Sie doch bitte einige Ihrer Erfahrungen bei der Auftragsvergabe oder Aufführung neuer Musik.
(ER): Zur Zeit bin ich dabei, zwei neue Werke für Februar 2010 zu erarbeiten. Ich habe Augusta Read Thomas’ “Ring Out Wild Bells, To The Wild Sky,” und Penderecki’s “Credo” ins Programm genommen. Seit Frühjahrsbeginn 2009 beschäftige ich mich ernsthafter mit diesen beiden Werken. Da ich schon vorher Werke dieser beiden Komponisten aufgeführt und studiert hatte, war ich für die Analyse der beiden Werke gut gerüstet. Studium und Aufbereitung der Partituren sowie Einhören warfen weiteres Licht auf die Werke und verschafften mir neue interpretatorische Einfälle, die ich durch ein simples Abhören der Aufnahmen nicht bekommen hätte. Nach einer kompletten Makro- und Mikroanalyse bin ich nun so weit, mit den Proben beginnen zu können. Die gründliche Analyse hat mir auch Selbstvertrauen gegeben für die Probenpläne, die ich für die Chöre (gemischter und Kinderchor), die Solisten (Solo, Quintett und Oktett) sowie das Orchester entwickelt habe, und in meine Fähigkeit, gelungene Aufführungen dieser Werke hinzubekommen.
(JK): Neue Musik aufzuführen ist für mich nicht nur eine notwendige Pflicht, sondern auch Vergnügen. Im Verlauf des Erlernens, Probens und Aufführens eines neuen Stückes gelingt es gelegentlich, einen neuen Sound zu kreieren, eine neue Vision zu erhalten, eine neue Welt zu entdecken, was für Zuhörer und Ausführende zu befriedigenden Erlebnissen führt. Ich glaube, dass bei richtiger Arbeitsweise (und im richtigen Kontext) eine neue Komposition oder die Musik eines anderen Kulturkreises zu einer neuen Vision, einem neuartigen Hör/Seh-Erlebnis führen und die Zuhörer überraschen kann – sie hat das Potential, sogar im konservativen Asien gut aufgenommen und genossen zu werden. Im Vergleich zur Aufführung neuer Musik wird Musik, die in einem bestimmten Kulturkreis weniger aufgeführt wird, von den Leuten vielleicht besser akzeptiert. Ich habe amerikanischen Chören schon des öfteren chinesische oder taiwanische Musik nahegebracht und in den USA und Europa aufgeführt. Andererseits führe ich viel westliches Repertoire in Asien auf. Egal wie herum, im allgemeinen nehmen Zuhörer die Musik anderer Kulturen bereitwillig auf. Vielleicht erstaunt, verblüfft und bezaubert sie der exotische Touch. Trotzdem glaube ich, dass es noch lange dauern wird, bis die Leute die Musik anderer Kulturen wirklich verstehen und aufführen, aber wir sind auf einem guten Wege.“
Ein Dankeschön an André De Quadros, Johnny Chu, und Earl Rivers für ihren Beitrag zur Composer’s Corner dieser Nummer. Da wir unseren neuen ICB Herausgeber begrüßen, sind wir noch offen für Beiträge zu Themen, die Sie in diesem Teil gern behandelt hätten. Schreiben Sie mir bitte unter ctasher@gmail.com.
Aufgrund ihrer Erfahrungen in Ensembles wie dem Glen Ellyn Children’s Chorus, dem Chicago Symphony Chorus, dem Atlanta Symphony Chorus, dem Trinity Choir at Wall Street, Conspirare, und Experiment in International Living, ist Dr. Cara Tasher, Leiterin chorischer Aktivitäten an der University of North Florida (Jacksonville), darum bemüht, ihren Sängern Begeisterung für hervorragende Leistungen und eine Wertschätzung anderer Kulturen zu vermitteln. Vor kurzem hat sie als Chorleiterin der Opera de Bellas Artes in Mexico City gearbeitet. Tasher hat Meisterwerke für Berufschöre vorbereitet und mit zahlreichen High School und Gemeinde-Ensembles gearbeitet. Als associate conductor des Young People’s Chorus von New York City hat sie zwei Ensembles sowie jährliche Workshops ins Leben gerufen, die immer noch gedeihen. In den vergangenen fünf Jahren hat sie als künstlerische Direktorin/Chorleiterin des Vocalizze Festivals in Portugal auf hohem Niveau weitergearbeitet und war in den USA als Gastdirigentin, Workshopleiterin und Preisrichterin tätig. Cara hat an der University of Cincinnati College-Conservatory of Music, der University of Texas in Austin, der Sorbonne und der Northwestern University studiert und ist gegenwärtig Mitglied des Florida Board of the American Choral Director’s Association.
Aus dem Englischen von Reinhard Kissler, Deutschland