Auf der Suche nach einer Definition für Kinder- und Jugendchöre
Anne Kankainen
Chorsingen bedeutet zunächst, dass eine Gruppe von Menschen gemeinsam singt – sei es unisono oder in verschiedenen Stimmen, mit oder ohne Instrumentalbegleitung. Ein weiteres Merkmal besteht darin, dass jede Stimme mit mehreren Sängern besetzt ist. Wenn man nun von Kinder- und Jugendchören spricht, reichen diese grundsätzlichen Merkmale des Chorgesangs allein nicht aus, um die Klangkörper hinlänglich zu definieren. Erst durch die Betrachtung charakteristischer Aspekte – beispielsweise Klangqualität und –farbe, damit zusammenhängend stimmphysiologische Besonderheiten junger Stimmen und vor allem die Abgrenzung von Altersstufen innerhalb der Kategorien Kinderchor und Jugendchor – wird eine klarere Definition dieser Ensembles möglich.
»Warum benötigen wir überhaupt eine Definition für Kinder- und Jugendchöre?« könnte man vorab fragen. Damit geht die Annahme einher, dass es alleinig Aufgabe des jeweiligen Ensembles beziehungsweise Chorleiters ist, zu entscheiden, in welcher Art und Weise er sein(e) Ensemble(s) formiert. Pädagogische Überlegungen, künstlerische Ambitionen und natürlich Zeitkapazitäten beeinflussen diese Entscheidung. Solange ein Kinder- oder Jugendchor nicht an Chorveranstaltungen mit nationaler oder sogar internationaler Reichweite teilnimmt, ist die Frage nach einer klar umrissenen Struktur etwas weniger relevant oder zumindest individueller zu gestalten. Wenn das Ensemble jedoch in der nationalen und internationalen Chorszene aktiv ist und beispielsweise an Wettbewerben teilnehmen möchte, wird klar, dass eine einheitliche Festlegung der Merkmale sowohl für Kinderchöre als auch für Jugendchöre notwendig ist, um gleiche Bedingungen und eine größere Vergleichbarkeit untereinander zu ermöglichen.
Ein Blick auf die Teilnahmevoraussetzungen verschiedener international ausgeschriebener Chorveranstaltungen macht deutlich, dass recht unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Altersgrenzen in Kinder- und Jugendchören existieren. Die folgende Auflistung veranschaulicht diese Diskrepanzen. Sie soll auch einen Anhaltspunkt für eine Aufstellung von Definitionskriterien geben, wie sie für Ensembles im internationalen Umfeld sinnvoll sein könnte; untenstehend formuliere ich dazu einige Vorschläge.
Zoltán Kodály International Children’s Choir Festival 2010 (Ungarn):
- Kinderchor-Kategorie: Höchstalter: 16 Jahre
- Jugendchor-Kategorie: Nicht vorhanden
- Weitere Kriterien: Keine
European Music Festival for Young People 2010 (Belgien):
- Kinderchor-Kategorie: Höchstalter: 14 Jahre
- Jugendchor-Kategorie: Höchstalter: 25 Jahre (gleiche oder gemischte Stimmen)
- Weitere Kriterien: Keine
Il Garda in Coro International Choral Competition of Children’s Choirs (Italien):
- Kinderchor-Kategorie: Höchstalter: 16 Jahre
- Jugendchor-Kategorie: Nicht vorhanden
- Weitere Kriterien: Chöre können in zwei unterschiedlichen Bereichen teilnehmen:
- Geistlich
- Weltlich
Cork Choral Festival 2009 (Irland):
- Kinderchor-Kategorie: (Schulchöre, siehe unten)
- Jugendchor-Kategorie: Höchstalter: 24 Jahre
- Weitere Kriterien: Schulchöre können in drei unterschiedlichen Kategorien teilnehmen:
- Grundschulchöre
- Schulchöre gleichstimmig
- Schulchöre gemischtstimmig
International Choir Festival Tallinn 2011 (Estland):
- Kinderchor-Kategorie: Höchstalter: 16 Jahre
- Jugendchor-Kategorie: Höchstalter: 20 Jahre
- Weitere Kriterien: Keine
International Anton- Bruckner choir competition & Festival 2009 (Österreich):
- Kinderchor-Kategorie: Höchstalter: 16 Jahre
- Jugendchor-Kategorie:
- Höchstalter: 19 Jahre (Mädchenchor)
- Höchstalter: 25 Jahre (Männerchor)
- Höchstalter: 25 Jahre (gemischte Chöre)
- Weitere Kriterien: Keine
World Youth Choir:
- Kinderchor-Kategorie: Nicht vorhanden
- Jugendchor-Kategorie: Sänger zwischen 17 und 26 Jahren
- Weitere Kriterien: Keine
Pacific Rim Children’s Chorus Festival 2010 (Hawaii):
- Kinderchor-Kategorie: Sänger zwischen 6. und 12. Klasse (entspricht etwa 12- 18 Jahre)
- Jugendchor-Kategorie: Nicht vorhanden
- Weitere Kriterien: Besetzungsvorgabe: nur gleiche Stimmen
International Youth Music Festival Bratislava (Slowenien):
- Kinderchor-Kategorie: Unterteilung:
- Vorschule
- Höchstalter 12 Jahre
- Höchstalter 16 Jahre
- Jugendchor-Kategorie: Unterteilung:
- Höchstalter: 21 Jahre (gleich- und gemischtstimmige Chöre getrennt)
- Höchstalter: 30 Jahre (gleich- und gemischtstimmige Chöre getrennt)
- Weitere Kriterien: Keine
Deutscher Chorwettbewerb 2010 (Deutschland):
- Kinderchor-Kategorie: Höchstalter: 16 Jahre, Durchschnittsalter: höchstens 13 Jahre
- Jugendchor-Kategorie: Altersspanne: 13 bis 22 Jahre, Durchschnittsalter: höchstens 16 Jahre
- Weitere Kriterien: Höchstalter Knabenchöre: 30 Jahre
Coastal Sound Festival 2011 (Kanada):
- Kinderchor-Kategorie: Keine Altersbegrenzung
- Jugendchor-Kategorie: Keine Altersbegrenzung
- Weitere Kriterien: Keine
Diese Zusammenstellung kann natürlich nur einen kleinen Ausschnitt der internationalen Chorlandschaft abbilden, zeigt aber bereits, dass wesentliche Unterschiede bezüglich der Konzeption von Kinder- und Jugendchören bestehen. Diese beziehen sich in erster Linie auf Altersspannen beziehungsweise Altersgrenzen:
Kinderchöre:
- Wenn nur eine Kinderchorkategorie vorgesehen ist, variiert die Altershöchstgrenze zwischen 14 und 17 Jahren. Einige Organisatoren setzen ein maximales Durchschnittssalter fest, so zum Beispiel im Deutschen Chorwettbewerb (13 Jahre).
- Wird die Kategorie unterteilt, gibt es niedrigere Altersgrenzen für jüngere Chöre, so etwa beim International Youth Music Festival in Bratislava (Höchstalter jüngere Kinderchöre: 12 Jahre).
- Kinderchöre haben gemeinsam, dass das Repertoire für gleiche Stimmen (Sopran-Alt) gesetzt ist. Einen Sonderfall stellt das Cork International Choral Festival dar, wo im Schulchorwettbewerb zwei Kategorien vorgesehen sind: eine für gleichstimmige Chöre und eine für gemischtstimmige Chöre (Altersgrenzen: nicht klar definiert). Letztere sind dann eher als Jugendchöre anzusehen.
Jugendchöre:
- Die höchste Altersgrenze in den oben genannten Beispielen beträgt 30 Jahre (!). Die niedrigste Vorgabe für Jugendchöre besteht mit einem Höchstalter von 19 Jahren für Sängerinnen in Mädchenchören, beispielsweise beim Internationalen Anton-Bruckner Chorwettbewerb und Festival.
- Die Kategorie Jugendchor muss unterteilt werden in gleichstimmige und gemischtstimmige Ensembles. Gleichstimmig singende Jugendchöre sind in der Regel Mädchenchöre, einige Wettbewerbe sehen jedoch eine eigene Kategorie für Jugend-Männerchöre vor (Internationaler Anton-BrucknerChorwettbewerb und Festival).
- Gemischtstimmige Jugendchöre können entweder Knabenchöre oder gemischte Chöre sein. Besonderheit bei Knabenchören ist die hohe Altersspanne von etwa 10 Jahren (Soprane und Alte) bis 30 Jahre und älter (Tenöre und Bässe).
Ein Aspekt, der zur Beurteilung der Ausgangsfrage nach einer Definition von Kinder- und Jugendchören hilfreich sein könnte, ist der Blick auf den rechtlichen Status der betroffenen Personengruppen: ab wann ist ein Kind nicht mehr Kind, sondern Jugendlicher? In Deutschland gilt folgende Regelung: »Kind« ist eine Person, die noch nicht 14 Jahre alt ist. Zwischen 14 und 18 Jahren gilt man als »Jugendlicher« und laut Sozialgesetzbuch bis zum Erreichen von 27 Jahren als »junger Mensch«. Vergleicht man diese Vorgaben mit der Einordnung von jungen Sängerinnen und Sängern zeigt sich, dass die Definition von »Kind« in Kinderchören häufig zugunsten einer weiteren Auslegung nach oben (bis zu 16-17 Jahren) erfolgt. Im Fall der Jugendchöre ist festzustellen, dass hier die Bezeichnung »junger Mensch« in den meisten Fällen am ehesten mit den Altersstrukturen in Ensembles übereinstimmt.
Neben der Betrachtung der rechtlichen Ausgangslage – die im Zusammenhang mit künstlerischen und pädagogischen Überlegungen natürlich nicht überbewertet werden sollte – möchte ich nun noch auf ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal von Kinder- und Jugendchören zu sprechen kommen: die klanglichen Besonderheiten, die sich aus der stimmphysiologischen Beschaffung von jungen Stimmen ergibt: ein Kinderchor klingt – vorausgesetzt die Stimmen werden natürlich und ohne Forcierung eingesetzt – klar, obertonreich und direkt, das heißt ohne Vibrato. Weiterhin ist kindlichen Stimmen gemein, dass sie noch nicht so stark im Sinne von dynamischer Klangfülle sind und der Stimmumfang geringer ist als bei einer Erwachsenenstimme. Während der Premutation und Mutation verändern sich die Stimmen von Jungen und Mädchen bedingt durch das Wachstum der Stimmorgane. Während des Stimmwechsels, der bei Jungen deutlich stärker bemerkbar ist als bei Mädchen, ist die Stimme nicht so belastungsfähig, was in der Konzeption – insbesondere von Knabenchören – berücksichtigt werden muss. Diese versuchen natürlich, dass ihre Sänger über einen möglichst langen Zeitraum im Ensembles singen können, was zunehmend dadurch erschwert wird, dass die Pubertät und damit verbunden die Mutation heute tendenziell früher einsetzt und die Knaben dadurch weniger Zeit haben, um sich als Knabenstimme in einem Konzertchor zurechtzufinden und zu entwickeln.
Im Jugendalter ist die Stimme kräftiger und bekommt einen runderen, körperbetonteren Klang, so dass das Klangbild eines Jugendchores sich diesbezüglich von einem Kinderchor unterscheidet. Die Beschaffung des eigenen »Stimmmaterials« sowie Unterschiede in der Vokalausbildung beeinflussen natürlich die individuelle Stimmentwicklung.
Die akustischen und physiologischen Kriterien sollten meines Erachtens bei der Konzeption von Kinder- und Jugendchören nicht vernachlässigt werden. So ergibt sich zum Beispiel in einem gemischten Kinderchor, in dem auch Jungen nach der Mutation als Countertenöre den Altpart mitsingen ein völlig anderes Klangbild als wenn dieser von Mädchen gesungen wird. Auch der allgemeine und musikalische Entwicklungsstand von Kindern- und Jugendlichen sollte individuell betrachtet werden und die Zuordnung zu einem geeigneten Ensemble beeinflussen.
Trotz dieser Forderung nach Berücksichtigung verschiedenster Faktoren besteht aus meiner Sicht die Notwendigkeit einer internationalen Richtschnur zur Definition der Klangkörper Kinderchor und Jugendchor, die eine Orientierung für Chöre beziehungsweise Chorleiter darstellt, welche im internationalen Chorgeschäft aktiv sind. Dazu schlage ich folgenden Kriterienkatalog vor:
1) Kinderchöre (gleichstimmig):
- Junge Kinderchöre (Jungen und Mädchen): Höchstalter 12 Jahre, Durchschnittsalter nicht höher als 10 Jahre
- Ältere Kinderchöre (Jungen vor Mutation und Mädchen): Höchstalter 16 Jahre, Durchschnittsalter nicht höher als 13 Jahre
2) Jugendchöre (Mädchenchöre, junge Männerchöre und gemischte Chöre in getrennten Kategorien): Höchstalter 26 Jahre, Durchschnittsalter nicht höher als 18 Jahre
3) Knabenchöre (S-A-T-B): 10-26 Jahre, Durchschnittsalter nicht höher als 18 Jahre
Der Vorteil einer solchen Aufteilung liegt darin, dass durch die Angabe eines Durchschnittsalters eine starke Konzentration auf ältere Sänger vermieden wird. Gleichzeitig wird eine gewisse Flexibilität bezüglich oberer Altersgrenzen ermöglicht. In der älteren Kinderchorkategorie wird durch das Durchschnittsalter von 13 Jahren ein klarer Fokus auf junge Stimmen gesetzt, der gleichzeitig den rechtlichen Begriff von »Kind« berücksichtigt. Das Höchstalter von 26 Jahren in Jugendchören erscheint recht hoch im Vergleich zu einigen oben aufgeführten Vorgaben. Jedoch stellt die Festsetzung des Durchschnittsalters von 18 Jahren sicher, dass nicht eine Mehrheit beispielsweise 25-Jähriger Choristen in dem Chor mitsingt, die natürlich über eine größere Chorerfahrung und eine (potenziell) besser ausgebildete Stimme und somit auch einen anderen Klang verfügen als etwa 17-Jährige Sänger.
Es sei nochmal hervorgehoben, dass die hier vorgestellte Kategorisierung eine Diskussionsgrundlage darstellen soll. Sie kann nicht sämtliche unterschiedliche Bedingungen und Traditionen des Chorsingens von jungen Menschen weltweit berücksichtigen. Wünschenswert wäre jedoch der weitere Austausch über das Thema mit dem Ziel, die Klangkörper Kinderchor und Jugendchor für die internationale Chorwelt einheitlich zu definieren. Damit wäre gleichzeitig ein Beitrag dazu geleistet, die Wahrnehmung dieser Ensembles als eigenständige und ernst zu nehmende Klangkörper innerhalb des allgemeinen Musiklebens zu fördern.
Anne Kankainen absolvierte ein Studium der Kirchenmusik und Schulmusik an der Hochschule für Musik und Theater Hannover. Ein Erasmusaufenthalt an der Sibelius-Akademie in Helsinki ergänzte ihre Studien. In einer jüngst verfassten Forschungsarbeit zum Thema „Neue Musik in Kinder- und Jugendchören“ beschäftigt sie sich aus wissenschaftlich-empirischer Perspektive mit ihrem Tätigkeitsschwerpunkt Kinder- und Jugendchorleitung. Derzeit ist Anne Kankainen als Kinderchorleiterin in der Evangelischen Singschule Lübeck tätig. E-Mail: kinderchor@evangelische-singschule.de