Sex und der Chor
von Aurelio Porfiri und Thomas Caplin, Chorleiter und Lehrer
Unter gebildeten Menschen gibt es Themen, die nicht behandelt werden, weil sie empfindliche Bereiche betreffen oder nicht mit der politisch korrekten Atmosphäre übereinstimmen, die unsere Gesellschaft beherrscht. Eins dieser Themen ist ohne Zweifel der Sex. Es gibt verständliche Gründe hierfür: Sex betrifft unsere intimsten Bereiche und ist so persönlich, dass die pure Erwähnung schon eine Verletzung der Intimsphäre zu sein scheint. Gleichzeitig wissen wir aber, dass die Sexualität eine grundlegende Rolle in unserem Leben spielt. Neue wie auch nicht ganz so neue Bücher haben uns gelehrt, wie die Sexualität unser Verhalten und unsere Wahrnehmung der Welt beeinflusst (Ryan, C.; Jethá C. 2010). Wir wissen, dass Sigmund Freud der Sexualität in seinen Theorien der Psychoanalyse große Bedeutung beimaß. Wir müssen nicht mit all dem einverstanden sein (und in der Tat ziehen eine beträchtliche Anzahl der Psychologen es heute vor, Abstand von Freuds Theorien zu halten). Dennoch hat unseres Wissens bislang niemand untersucht, welchen Einfluss unser Sexualleben auf unser Chorleben ausübt. Um unseren Ausgangspunkt ganz klar zu machen: spielt die sexuelle Anziehungskraft unter Erwachsenen irgendeine Rolle in unserem Chorleben? Das ist die Frage, die wir in diesem kurzen Aufsatz zu behandeln versuchen werden. Wenn wir den Charakter und die Kraft der Sexualität nicht kennen und verstehen, haben wir keine Chance, zu verstehen, ob sie irgendeine Rolle im Chorleben spielt.
Wenn wir uns auf den gesunden Menschenverstand verlassen, dann müsste die Antwort “ja” sein. Wenn wir uns fragen, ob die Sexualität irgendeine Rolle in anderen Zusammenhängen wie Beruf, Film, den Künsten, Liedern usw. spielt, dann ist es offensichtlich, dass wir “ja” sagen sollten, denn sie spielt in der Tat eine große Rolle. Warum also nicht in der Chormusik? Menschen in Chören verbringen viel Zeit zusammen, und daraus ergibt sich sehr leicht eine Bindung. Darüber hinaus ist die Musik die Sprache der Emotionen, und so kann sie in Menschen Gefühle auslösen. Aber normalerweise sprechen wir lieber nicht darüber – vielleicht, weil wir das alles einfach für selbstverständlich halten?
Und nach dieser grundlegenden Frage (siehe oben) sollten wir vielleicht auch andere Erwägungen in Betracht ziehen: ändert sich die Beziehung zwischen Chormitglied und Dirigenten, wenn letzterer als gut aussehend oder hübsch gilt? Macht das einen Unterschied in Bezug auf die Musik? Wenn die Chormitglieder sich sexuell vom Dirigenten angezogen fühlen, ändert sich ihr Singen dann, oder nicht? Wie ist es anders herum, mit sexuellem Interesse des/der Dirigenten/in an einem oder mehreren der Chormitglieder; wird das Einfluss auf das Dirigieren, den Führungsstil, die Methoden und die Pädagogik ausüben? Diese Fragen sind nicht unwichtig, und viele weitere ergeben sich aus ihnen.
Was man tut, ist was man bekommt
Wenn man sich mit der Frage nach der Rolle des Sex im Verhältnis zwischen Chormitglied und Dirigent befasst, dann gelten dieselben Regeln wie in allen anderen Gebieten des mitmenschlichen Verhaltens. Es wäre interessant heraus zu finden, wie viele Dirigenten ihre Lebenspartner im Chor gefunden haben. Darüber hinaus wäre es interessant, diese Forschungsergebnisse mit Statistiken zu vergleichen, wie viele Firmenchefs ihre Lebenspartner unter ihren Angestellten gefunden haben. Wir wissen von mehreren Forschungsprojekten, die sich mit dem Thema der Sexualität im Beruf befassen (beispielsweise Bunk P. A., Aan’t Goof J., Solano A. C., 2010) und der Frage,. wie sie die eigentliche Berufsausübung beeinflusst. Wir stellen uns vor, dass die Zahl der Chordirigenten, die die Liebe im Chor gefunden haben, wesentlich höher sein dürfte als die der Manager, vor allem wegen der Gefühlsverbindungen, die die Musik mit sich bringt.
Wir möchten nun eine hypothetische Übung anstellen und annehmen, dass dies stimmt (wir wissen aus unserer eigenen Erfahrung, dass die Zahl hoch ist, sehr hoch, aber das müsste gründlicher untersucht werden). Was sind die Gründe hierfür? Haben sie irgendetwas mit Sex zu tun? Wir glauben, dass das der Fall ist. Wir bewegen uns in einem Bereich, wo wir mittels der Musik tiefe Gefühle erkunden und zeigen, unser Inneres bloß legen, im Bereich der Gruppendynamik und der fundamentalen Bedürfnisse. Die Rolle der Gefühle in der Musik wird mittlerweile in einer unübersehbaren Fülle von Literatur erforscht, mit dem Buch als Ausgangspunkt, das Leonard B. Meyer 1956 veröffentlichte: Emotion and Meaning in Music [Emotionen und Bedeutung in der Musik] (aber es gibt schon Texte aus den 1930er Jahren, die sich wissenschaftlich mit diesem Thema beschäftigen, von Literatur von Musikwissenschaftlern aus vergangenen Jahrhunderten ganz zu schweigen). In den meisten Fällen basiert das Verhalten eines/er Dirigenten/in vor dem Chor auf einem mehr oder weniger bewussten Verständnis der Bedürfnisse jedes einzelnen der Chormitglieder. Er oder sie wird sich bemühen, ihnen ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln, ein Gefühl des Zusammengehörens, Liebe und Würdigung ihrer Bemühungen zum Ausdruck zu bringen und ihnen Raum für Wachstum und Selbsterfüllung zu gewähren. Dadurch setzen Dirigenten/innen Maslows Hierarchie der Bedürfnisse in die Praxis um. Jeder, der dies für sie tut, wird ein Gefühl der Zuneigung erwecken, das im Chor auch körperliche Bedürfnisse – Liebe (Sex) auslösen kann. Zwischen der Erfüllung unserer Bedürfnisse und dem Erlebnis von Zuneigung/Liebe besteht eine enge Verbindung.
Was man ist, ist was man bekommt
Die nächste Frage: ändert sich diese mitmenschliche Beziehung, je nach dem Geschlecht des/der Dirigenten/in oder der Sänger/innen? Ist es überzeugend, dass diese faszinierenden Phänomene, die sich im Unterbewussten bewegen, etwas mit Sex zu tun haben? Oder sollten wir diese praktischen Erkenntnisse außer acht lassen, um eine vielleicht peinliche Diskussion zu vermeiden? Am besten wäre es, wenn Psychologen und Neurologen diese Themen wissenschaftlich untersuchten, um das Eis zu brechen und ihnen die Behandlung zu verschaffen, die sie verdienen.
Übertragung?
Wir glauben auf Grund unserer Beobachtungen, dass die Übertragung ohne Zweifel eine Rolle im Verhältnis zwischen Sängern und Dirigenten spielt, obwohl dieser Fachausdruck normalerweise in der Psychoanalyse benutzt wird. Sigmund Freud benutzte ihn, um einen Vorgang in Analyse oder Therapie zu beschreiben: er merkte, dass Patienten zu einem gewissen Zeitpunkt begannen, Gefühle wie das der romantischen Liebe oder der elterlichen Liebe auf den/die Therapeuten/in zu projizieren. Natürlich betrachten wir Sänger nicht als Patienten oder Dirigenten als Therapeuten, aber wir finden doch Parallelen im Verhalten. Wir dürfen nicht vergessen, dass das Charisma eines/einer Dirigenten/in einen starken gefühlsmäßigen Einfluss auf die Singenden ausübt. Wir wollen die Eigenart dieses Charismas hier nicht im Einzelnen untersuchen, aber wir wissen, dass dies Element ohne Frage einen wesentlichen Einfluss auf die Chormitglieder ausübt. Möglicherweise verstärkt sich diese Übertragung je nach Geschlecht: der männliche Dirigent besitzt die Alpha-Eigenschaften eines Führers – starke Führungskraft, Wissen, Einfühlungsvermögen, Energie, die Fähigkeit, zuzuhören … Eigenschaften, die weibliche Sänger anziehen? Und, natürlich – konkurriert er mit den männlichen Mitgliedern eines gemischten Chors? Wie steht es mit einer Dirigentin vor einem Männerchor? Wie viel ihrer Führungskraft und ihres Einflusses auf die männliche Gruppe geht auf das Konto ihres Könnens? Wie viel auf sie als Frau? Und dann gibt es das übergreifende Thema der sexuellen Unterschiede zwischen Männern und Frauen und der unterschiedlichen Ausstrahlung von männlichen und weiblichen Dirigenten auf den Chor. Sollte eine Dirigentin sich männlicher verhalten, um alle Sänger in einem gemischten Chor zu erreichen? Sollte der männliche Dirigent seine weibliche Seite entwickeln?
Ist die Frage total unangebracht, ob es möglich sein könnte, dass ein männlicher Dirigent im Musikalischen und Technischen einen Männerchor leichter anspricht als eine Dirigentin, einfach weil der Sex nicht dazwischen funkt? Ist es möglich, dass der Sex die sachliche Kommunikation zwischen Dirigenten und Sängern sowohl unterstützen als auch unterbrechen kann? Darum geht es im Grunde: hilft oder hindert die sexuelle Anziehungskraft, wenn sie vorhanden ist?
Die Ansicht wird häufig vertreten, dass es unumgänglich nötig ist, dass kleine Jungen im Kindergarten und in der Schule männliche Lehrkräfte haben, um natürliche männliche Eigenschaften zu entwickeln. Zumindest in den skandinavischen Ländern, wo die Mehrzahl der Lehrer weiblich ist, gibt es eine laufende Debatte, die durch zunehmende Forschungsarbeit unterstützt wird. In Norwegen gibt es zwei große Amateurmusikvereinigungen, die Bürger von früher Kindheit bis ins Alter ansprechen: für Blaskapellen und für Chöre. Etwa 10-12% der Bevölkerung sind Mitglied solcher Gruppen. In der Blaskapellenbewegung sind die überwältigende Mehrheit der Dirigenten Männer, während bei den Chorgruppen das Gegenteil der Fall ist. Vor 50 Jahre waren auch die meisten Chorleiter Männer, was sich mit einer männlichen Mehrheit der Schullehrer deckte. Angenommen, dass es in der Tat einen geschlechtlich bedingten Unterschied in der Kommunikation gibt, hat dieser Umschwung der geschlechtlichen Mehrheit von männlich zu weiblich sich auf die Entwicklungsweise des Chorsingens ausgewirkt? Gibt es hier eine Verbindung zu der ständig abnehmenden Zahl der männlichen Sänger in unseren gemischten Erwachsenenchören? Das wäre eine Untersuchung wert.
Ohne Frage ist dieser Aufsatz nur ein erstes Kratzen an der Oberfläche des Themas, eines Themas, das ernsthafte Untersuchung und Erforschung verdient. Wir wissen schließlich sehr wohl, dass, wenn wir dirigieren, nicht nur unsere Ohren, sondern auch unsere Augen weit offen sein müssen. Und sie leisten, was sie sollen. Wie oft sagen Dirigenten: “Schaut mich an!”? Hoffentlich wird dies Thema von nun an ernsthaft diskutiert werden.
Aureli Porfiri ist italienischer Organist, Chorleiter und Komponist, der zur Zeit an der Universität St Joseph in Macau, China, lehrt und dort für die Musik verantwortlich ist. Darüber hinaus leitet er das Chorsingen der englischen Abteilung der St.-Rosa-de-Lima-Schule. Er arbeitet als Gastdirigent für die Abteilung für Musikerziehung am Konservatorium von Schanghai, China. Er hat vier Bücher und über 200 Artikel veröffentlicht. Als Komponist hat er Dutzende Psalmen, Oratorien, Kirchenlieder, liturgische Gesänge und Motetten in Italien, Deutschland und den USA veröffentlicht. E-mail aurelioporfiri@usj.edu.mo
Thomas Caplin ist Professor für Chorleitung und –management. Er wirkt auch als Sänger, Dirigent, Berater und Chorpädagoge. Er wird oft als Gastdirigent oder als Berater eingeladen und als Jurymitglied zu Wettbewerben in Norwegen und in anderen Ländern. Unter seinen Veröffentlichungen finden sich sowohl Bücher über das Chordirigieren in Schweden und Norwegen als auch eine Anzahl Kompositionen, Bearbeitungen und CD-Aufnahmen. Im Jahre 2004 wurde ihm von der norwegischen Vereinigung der Chorleiter die Anerkennung als “Chorleiter des Jahres” verliehen. Die folgenden Chöre haben ihm internationale Anerkennung für seine Leitung gegeben: der bekannte Männerchor der Universität Lund, Schweden, Chorweltmeister 2010 in Schaoxing), der Collegium Vocale Kammerchor (Norwegen) und der Männerchor der Universität Oslo (Chorweltmeister 2006 in Xiamen, China). Er betätigt sich international aktiv im Mentorenprogramm des IFCM “Dirigenten ohne Grenzen”. Er ist darüber hinaus Mitglied des Weltchorrats von Interkultur. E-mail: caplin@c2i.net
Übersetzt von Irene Auerbach, England