Singen ist ein Menschenrecht für Kinder (Teil 1)

Oscar Escalada, Chorleiter, Komponist und Professor

Im ersten Teil meines Buches A choir in each classroom (Ein Chor in jedem Klassenzimmer) entwickelte ich meine Behauptung, dass jedes Kind, das sprechen kann, auch singen kann.

Im September 1978 fand in Alma Aty (heute Almaty), Kasachstan, die Internationale Konferenz für elementare Gesundheitsförderung statt, organisiert von der UN, der UNESCO und UNICEF. 134 Länder und 67 Nichtregierungsorganisationen nahmen teil, und am Ende stand eine Deklaration, die auf den dringenden Handlungsbedarf aller Regierungen, aller in der Gesundheit Tätigen sowie der internationalen Gemeinschaft hinwies, die elementare Gesundheitsfürsorge für alle Menschen zu schützen und zu fördern.

Der erste Artikel der Deklaration hält fest:

Die Konferenz bestätigt mit Nachdruck, dass Gesundheit, die einen Zustand völligen physischen, mentalen und sozialen Wohlbefindens darstellt und nicht nur die Abwesenheit von Krankheit oder Gebrechlichkeit, ein fundamentales Menschenrecht ist, und dass das Erreichen des höchstmöglichen Gesundheitsniveaus ein äußerst wichtiges soziales Ziel ist, dessen Realisierung das Handeln vieler anderer sozialen und ökonomischen Kräfte über den Gesundheitssektor hinaus erfordert.

Bei großzügiger Auslegung kann man sagen, dass das Singen für ein Kind ein Menschenrecht ist, denn es erfüllt alle Anforderungen des physischen, mentalen und sozialen Wohlbefindens, Faktoren, von denen jeder eine volle Rolle übernimmt in der Entwicklung eines Menschen, der fähig ist, in einer Gemeinschaft zu leben, von ihr angenommen zu sein und zu ihrer Entwicklung beizutragen. Sie wenden vielleicht ein, dass es viele Wege gibt, zu einem physischen, mentalen und sozialen Wohlbefinden zu gelangen, und dass gemeinschaftliches Singen vielleicht nicht der kompletteste Weg dorthin ist. Sollte das Ihr Einwand sein, so erlauben Sie mir zu widersprechen.

Auf diesem Feld wurde eine immense Anzahl von Untersuchungen durchgeführt, mit dem Ergebnis einer Vielzahl von Quellen, in denen bewiesen wird, dass das gemeinschaftliche Singen ein entscheidendes Werkzeug für die Entwicklung des Menschen darstellt. Dem würde ich hinzufügen, dass es in der Tat das beste und kompletteste Werkzeug ist, um das zu erreichen.

Der SAT ist in den US ein standardisierter Aufnahmetest an vielen Colleges. Das College Board, eine 1900 gegründete Non-Profit-Organisation, hat viele dieser Untersuchungen durchgeführt und herausgefunden, dass Schüler, die an musikalischen Aktivitäten und Chören teilnahmen, um 63% höhere Ergebnisse in Sprachen und 44% höhere Ergebnisse in Mathematik erreichten als jene, die nicht diese Erfahrungen gemacht hatten. 2009 zeigten die SAT Ergebnisse eine Differenz von 91 Punkten zwischen Studenten, die vier Jahre musikalische und chorische Erfahrung hatten und solchen ohne diese Erfahrung.

Harvey’s Interactive, ein US Unternehmen, entdeckte, dass Studenten, die an chorischen und musikalischen Aktivitäten teilnahmen, zu 90,2% ihr Studium abschlossen, während der Wert bei Studenten, die das nicht taten, bei 72,9% lag.

Diese Zahlen belegen, welche Wirkung das Chorsingen und musikalische Erfahrung haben können, aber es hat viel mehr zu bieten in Hinblick auf das soziale Wohlbefinden. Mehr als alles andere ist es das Wissen um die wissenschaftlichen Begründungen, die die Forscher aus aller Welt vorlegten, das den Schlüssel birgt für das Überzeugen von Lehrern, Bildungsbehörden und Regierungen von der Einrichtung von Programmen, die zweifelsfrei das Lernen von Kindern verbessern und ihre soziale Entwicklung fördern werden.

Es ist interessant, einige der aussagekräftigen Zahlen von Untersuchungen zu betrachten, die wertvolle Erkenntnisse auf diesem Gebiet erbrachten und sehr wichtige Beiträge lieferten. Wie hatten das große Glück, mit einigen der Forscher zu korrespondieren und uns mit ihnen zu beraten, und bei anderen erfahren wir alles, was wir wissen müssen, aus den Extrakten ihrer Veröffentlichungen in wissenschaftlichen Zeitschriften. Mein Ziel hier ist es, Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, einige der Untersuchungen vorzustellen, die belegen, dass das Singen als Ergebnis von allem, das es zur intellektuellen, sozialen und evolutionären Entwicklung  beiträgt, ein Menschenrecht für ein Kind ist.

Musikalische Klänge werden wie alle akustischen Signale im Zeitverlauf produziert. Daher muss das auditive System einen Klang mit dem anderen verbinden, um logische Muster zu produzieren, die als Musik wahrgenommen werden. Um rhythmische Muster und eine Abfolge verbundener Klänge in musikalischen Klängen zu erkennen, werden akustische Signale vorübergehend im Gedächtnis einer Person verwahrt, das sie zu einer einzigen Wahrnehmung zusammenfügt. Gedächtnis, also, wird benötigt, um Musik zu verstehen und wahrzunehmen, und es wird jedes Mal verwendet, wenn wir Musik anhören oder Musik machen.

Kürzlich haben Vanessa Sluming und andere Forscher1 von der Universität Liverpool entdeckt, dass Musiker eine größere Menge grauer Substanz im frontalen Cortex haben als Nichtmusiker. Von dieser Substanz wissen wir, dass sie neuronale Netzwerke enthält, die an verschiedenen wichtigen Prozessen beteiligt sind, die verbunden sind mit dem Arbeiten nach Gedächtnis. Man könnte daraus schließen, dass es eine Art positiven Transfers gibt zwischen Musikausübung und Funktionen des sprachlichen Gedächtnisses; in anderen Worten, dass der Prozess musikalischen Lernens das sprachliche Lernen verbessert. Aber wie beziehen sich diese Funktionen auf einander?

Zuerst, nach einer Studie von Dr. Wong2 und anderen Forschern von der Northwestern University Illinois, „übt das Gehirn in dem multisensorischen Prozess der musikalischen Übung die gleichen kommunikativen Fähigkeiten aus wie jene, die für das Sprechen und Lesen erforderlich sind“. Das bedeutet, dass die Nervenbahnen, die beim Sprechen benutzt werden (Figur 1) die gleichen sind wie die, die beim Singen verwendet werden. Damit ist eine wesentliche erste Verbindung geschaffen.

Dieses Bild zeigt den Pfad für die Produktion von Sprache. Wir können dort die Areale sehen, die beteiligt sind, den Weg, den der Stimulus nimmt, und die Funktionen, die jeder Bereich ausübt. So ist es, wenn akustische Stimulierungen, sobald sie das Trommelfell passiert haben, von dem Cortischen Organ aufgenommen und in eine neuronale Sprache übersetzt werden. Diese reist weiter zum auditorischen Cortex, der verantwortlich für die Entgegennahme von Informationen ist. Von dort wird sie zu Wernickes Areal geschickt, um decodiert zu werden. Die Information wird dann zur Weiterverarbeitung weitergesendet an das Broca’sche Areal und gelangt schließlich zum motorischen Cortex, in dem Kommandos entstehen und an die Muskeln gesendet werden, die erforderlich sind, um sowohl Geräusche für Sprache als auch Töne für das Singen zu produzieren.

Aus anthropologischer Sicht besteht in der artikulierten Sprache einer der wesentlichsten Unterschiede zwischen Menschen und ihren verwandten niederen Arten. Irrationale Tiere denken nicht; sie handeln nach Instinkt und nach ihren konditionierten und unkonditionierten Reflexen. Dagegen können einzelne Menschen Situationen bedenken und lösen, indem sie an ihre persönliche und die kollektive Erfahrung denken. So können Menschen, anders als Tiere, ihre Aktionen planen und sie unter Verwendung von Sprache ausführen, denn ohne Sprache kann das Denken nur rudimentär bleiben. Abstrahierende Sprache ist erforderlich, um wahrzunehmen, zu assoziieren, Konzepte zu vereinen und Schlüsse zu ziehen. Kurz gesagt: Sie ist das Werkzeug, das das Gehirn benötigt um zu denken, wahrzunehmen, zu imaginieren und sich zu erinnern.

Es überrascht nicht, dass es ein breites Spektrum an Theorien in Bezug auf Sprache und Denken gibt. Aber gleich ob Sie glauben, dass es ein „angeborenes System“ der Sprachstrukturierung gibt, wie es Noam Chomsky vorschlägt, der es „generative Grammatik“ nennt, ob Sie der kognitiven Hypothese von Jean Piaget anhängen oder ob Sie sich an der „simultanen“ Theorie beteiligen, die Sprache und Denken als von Natur aus verbunden betrachtet – Beziehung zwischen beiden wurde von Psychologen, Linguisten und Anthropologen bewiesen. Allgemein gesagt, gründen die Unterschiede auf dem Ursprung und der Entwicklung dieser menschlichen Fähigkeiten.

Unsere Position steht jedoch der simultanen Theorie am nächsten. Vor oder nach der Entwicklung des Denkens ist es die Sprache, die für die Evolution des Denkens verantwortlich ist.

Wenn wir planen, einen hölzernen Tisch zu bauen, müssen wir an das abstrakte Objekt denken, an Baum, Holz, Tisch, Form, Länge, Breite, Höhe, Stärke usw. Jedes dieser Konzepte bedeutet die Verwendung von Wörtern, deren Bedeutung wir verstehen und die in unserem Gedächtnis gespeichert werden können, um abgerufen zu werden, wann immer wir sie benötigen. Dann können wir diese Konzepte in einer Zeichnung festhalten und alle notwendigen Mittel einsetzen, um sie am Ende in das Objekt Tisch zu übersetzen. Der gesamte Denkprozess verwendet Sprache – ohne sie wäre die Planung nicht möglich gewesen.

Natürlich ist Sprache nicht unsere einzige kognitive Fähigkeit. Erinnerung, Wahrnehmung,  logisches Denken, überlegen, die Fähigkeit Kalkulationen auszuführen und alle anderen Fähigkeiten oder intelligentes Verhalten stellen eine Kombination von spezialisierten Systemen dar, die mit einander interagieren. Diese Theorie multipler Intelligenzen wurde 1943 von dem US-Psychologen Howard Gardner3 entwickelt. Sie beruht auf der Tatsache, dass jeder Mensch mindestens sieben kognitive Intelligenzen oder Fähigkeiten besitzt.

An der University of Southern California entwickeln Dr. Assai Habib und andere Forscher ein Programm mit dem Ziel, die Mechanismen zu entdecken, durch die musikalisches Training in Verbindung gebracht wurde mit überdurchschnittlicher Entwicklung sprachlicher und mathematischer Fähigkeiten und mit besserem akademischen Erfolg dieser Menschen im Vergleich zu jenen ohne dieses Training.

Die Studie begann 2012 in Zusammenarbeit mit dem Los Angeles Philharmonic Orchestra und seinem Kinder- und Jugendorchesterprogramm.  Sie untersuchten Kinder, bevor sie mit der musikalischen Ausbildung begannen, und beobachteten sie systematisch, um festzustellen, wie ihre Gehirnaktivität sich in Relation zu ihrer Ausbildung veränderte. 80 Kinder im Alter zwischen 6 und 7 Jahren wurde ausgesucht, um die Auswirkungen auf ihre Entwicklung zu dokumentieren. Dabei wurden EEG, emotionale, kognitive und soziale Messungen vorgenommen. Diese Kinder wurden in drei Gruppen eingeteilt: eine in dem erwähnten Orchester, eine mit Fußballtraining und eine ohne besondere Aktivitäten.

Die Ergebnisse, die zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Artikels erhalten wurden, waren in höchstem Maße zufriedenstellend. Frontale Bereiche des Gehirns wurden entdeckt, die größere neuronale Aktivität zeigten, während Fähigkeiten ausgeführt wurden, in denen motorische Funktionen beteiligt waren. Außerdem wurde größere Entwicklung bei Sprache, Gedächtnis und sozialer Aktivität gefunden.

„Emotion, Ausdruck, soziale Fähigkeiten, die Theorie von Geist, linguistische und mathematische Fähigkeiten, visuell-räumliche und motorische Fähigkeiten, Aufmerksamkeitsspanne, Gedächtnis, Ausführungsfunktionen, Entscheidungsfindung, Selbstständigkeit, Kreativität, emotionale und kognitive Flexibilität… all dieses fließt zusammen in der mit einander geteilten musikalischen Erfahrung. Menschen singen und tanzen zusammen in jeder Kultur. Wir wissen, dass wir es heute tun, und wir werden es in Zukunft weiter tun. Wir können uns vorstellen, dass unsere Vorfahren es auch taten, vor fünftausend Jahren rund um das Feuer. Wir sind, was wir sind, mit Musik und dank Musik, nicht weniger, nicht mehr.“ Diese kraftvollen Worte wurden am 11. November 2015 von Dr. Facundo Manes in der spanischen Zeitung El Pais in einem Wissenschaftsartikel mit der Überschrift Was macht Musik mit unserem Gehirn? geschrieben.

Jedoch scheinen einige Elemente, manche von ihnen von großer Bedeutung, dieser Vorstellung zu widersprechen. Es gibt Störungen, die die funktionale Logik des Singens durcheinander bringen, scheinbar verursacht durch das Fehlen oder die unvollständige Entwicklung neuronaler Verbindungen.

Eine dieser Störungen, und vielleicht die frustrierendste, ist die Amusie.

 

AMUSIE

Der Begriff Amusia wurde 1888 vom deutschen Neurologen August Knoblauch geprägt, indem er die griechische Negation a und mousa (Musik) verwendete.

Amusie ist eine angeborene tonale Taubheit. Einem Menschen mit Amusie fehlt die Fähigkeit Töne zu produzieren, dadurch kann er Musik weder machen noch wiedererkennen.

Nach dem katalanischen Forscher Jordi Peña-Casanova4 “ ist sie ähnlich der Aphasie und teilt viele ihrer Charakteristika”.

Zum Hören oder Machen von Musik gehören viele Vorgänge, alle verbunden mit dem Wahrnehmen, Dekodieren und Zusammenfügen von Klang und Zeit. Dies bedeutet, dass es viele verschiedenen Formen der Amusie gibt. 1977 identifizierte Arthur Benson5 mehr als ein Dutzend. Sie werden unterschieden nach der Art,in der sie sich zeigen: motorisch oder im Ausdruck, also der Verlust der Fähigkeit, eine Melodie zu singen, zu pfeifen oder mit geschlossenem Mund zu summen (orale/Ausdrucks-Amusie), der Verlust der Fähigkeit, ein Instrument zu spielen (musikalische Apraxie oder instrumentale Amusie), der Verlust der Fähigkeit Musik zu schreiben (musikalische Agraphie). Die letzten beiden können nur bei ausgebildeten Musikern auftreten. Auf der rezeptiven Seite kann es den Verlust der Fähigkeit geben, verschiedene bekannte Melodien zu erkennen (rezeptive oder sensorische Amusie), den Verlust der Fähigkeit wohlbekannte Melodien zu erkennen (amnestische Amusie) oder den Verlust der vorher vorhandenen Fähigkeit Musik zu lesen (musikalsiche Alexie). Auch eine Veränderung in der emotionalen Reaktion auf Musik ist eine Form der Amusie.

In der letzten Zeit haben Medizinerkreise diesem Problem viel Aufmerksamkeit gewidmet, wenn es bei Patienten mit Aphasie auftrat, die einige dieser Fähigkeiten zusätzlich zu ihrer Sprache verloren hatten. Es gibt jedoch auch dokumentierte Fälle von Amusie aus dem 19. Jahrhundert bei Patienten, die Aphasie hatten, auch wenn es weniger Fälle waren.

Als Benson 1977 die Amusie mit Hinweis auf Brocas und Wernickes Areale beschrieb, verfügte er nicht über die Technologie oder das Wissen, um die gleiche Feststellung wie Peña-Casanova 2007, dreißig Jahre später, in Bezug auf die Ähnlichkeit mit der Aphasie zu treffen. Aber es ist sicher, dass beide Areale die neurale Bahn integrieren, die für die Sprache erforderlich ist.

Figure 2: Arcuate fasciculus (in green)

 

Nach Oliver Sacks6

gibt es Formen rhythmischer Taubheit, gering oder erheblich, angeboren oder erworben. Che Guevara war bekanntermaßen rhythmustaub; man konnte sehen, wie er einen Mambo tanzte, während das Orchester einen Tango spielte (er war auch beträchtlich tontaub). Aber man kann, besonders nach einem linksseitigen Schlaganfall, tiefreichende Formen der Rhythmustaubheit entwickeln, ohne tontaub zu sein (genauso, wie ein Patient nach einem rechtsseitigen Schlaganfall Tontaubheit entwickeln kann ohne Rhythmustaubheit). Im Allgemeinen sind Formen der Rhytmustaubheit selten total, weil der Rhythmus im Gehirn breit angelegt ist.”

In einem Bericht beschreiben Erin Hannon und Sandra Trehub7 die kulturellen Formen der Rhythmustaubheit. Im Alter von 6 Monaten können Babies mit Leichtigkeit alle rhythmischen Variationen erkennen, aber mit 12 Monaten hat das nachgelassen. Die gleichen Ergebnisse brachte eine Untersuchung durch Clifford Madsen von der University of Tampa, Florida, die feststellte, dass ein Kind bis zum Alter von 6 Monaten alle Geräusche hört, die es umgeben. Danach hört es nur noch Geräusche, die von der Mutter kommen. Es scheint, dass das Fokussieren auf und das Reduzieren von auralem Inhalt Ergebnis ist der Erkennung des kulturellen und familiären Hintergrunds, wie er durch die soziale Umgebung vermittelt wird, denn das Kind kann bereits das Muster der Rhythmen seiner Kultur und die Sprache der Mutter internalisieren.

Viele Menschen denken “Ich bin unfähig, sauber zu singen oder zu pfeifen”, obwohl sie nicht an Amusie leiden. In Wirklichkeit ist es unwahrscheinlich, dass sie Amusie haben, denn nur weniger als 5% der Bevölkerung leiden darunter. Aber diejenigen, die wirklich darunter leiden, können ihr Leben leben, ohne ihre Unfähigkeit wahrzunehmen, sauber zu singen zu können.

Die Untersuchung von Dr. Psyche Loui und anderemn Forschern von der Universität Havard8 kam zu dem Ergebnis, dass Amusie eine Folge der unvollständigen Entwicklung des arcuate fasciculus ist.9 (siehe Fig.2)

Dieser Fasciculus ist direkt verbunden mit dem Pfad, der für Sprache benötigt wird, denn er bildet einen Teil der Bahn, die das Wernicke-Areal mit dem Broca-Areal verbindet. Man muss daran erinnern, dass ersterer die Funktion hat, die Informationen zu dekodieren, die vom auditiven Cortex kommen, während letzterer die Funktion hat, die Information zu bearbeiten und an den motorischen Cortex weiterzuleiten.

Es scheint offensichtlich und logisch, dass eine Funktion nicht ausgeübt werden kann, wenn jenes Bündel an Nerven falsch oder unvollständig entwickelt ist, das speziell dafür gedacht ist, die betroffenen Gebiete zu verbinden.

Dies fragte ich Dr. Loui, als ich ihren Artikel las, denn meine persönliche Erfahrung, wie auch Untersuchungen, die andere Wissenschaftler und Chorleiter anstellten, hatten keine Kinder gefunden, die unfähig waren, Töne zu produzieren – selbst Kinder mit sehr schwierigem Hintergrund – nach ausreichender Übung.

In seinem Buch Musicophilia beschreibt Oliver Sacks, wie Steven Mithen10 im New Scientist Magazine die Frage diskutierte, ob jeder Singen lernen kann, und seine eigenen Experimente durchführte, um das herauszufinden.

“Meine Untersuchungen haben mich davon überzeugt, dass die Musikalität tief verankert ist im menschlichen Genom, mit viel älteren evolutionären Wurzeln als die Sprache” schrieb er 2008 in einem wunderbar ehrlichen Artikel im New Scientist Magazine, “aber hier stand ich, unfähig eine Melodie zu halten oder einen Rhythmus zu erfüllen”.

Er fuhr fort, indem er beschrieb wie er “gedemütigt” worden war, als er in der Schule gezwungen wurde, vor der Klasse zu singen, mit dem Ergebnis, dass er 35 Jahre lang jede musikalische Tätigkeit vermied. Er beschloss herauszufinden ob er, mit einem Jahr Gesangsunterricht, seine Melodie, Klang und Rhythmus verbessern könne, und dokumentierte den Prozess mit funktionalerMagnetresonanz-Bildgebung.

Mithen lernte besser zu singen – nicht spektakulär besser, aber besser genug – und die Bildgebung zeigte eine Zunahme an Aktivität im frontobasalen Gyrus und in zwei Gebieten des Gyrus temporalis superior (mit mehr auf der rechten Seite). Diese Veränderungen spiegelten, wie er seine Tonkontrolle beim Singen und bei der Bemühung um musikalische Phrasierung verbesserte. Es gab auch in bestimmten Gebieten eine Verringerung der Aktivität. Was also zu Beginn eine große bewusste Anstrengung erfordert hatte, wurde nun mehr und mehr automatisiert.

Die Anwort von Dr. Loui war mehr als anregend, denn meine Ansicht hatte nicht nur ihre Aufmerksamkeit erregt – offensichtlich stand sie im Widerspruch zu ihren Ergebnissen – sondern sie schlug mir auch mögliche Gründe vor, die ihrer Meinung nach die Ergebnisse beeinflusst hätten, die meine Kollegen und ich erhalten hatten. Dieser Moment öffnete die Tür und machte mir die neuen wissenschaftlichen Beiträge wie Neurogenese und Neuroplastizität bewusst. Dies gab mir Anlass zu hoffen, dass die scheinbar definitive Ablehnung meiner Ausgangsthese, dass jedes Kind, das sprechen kann, auch singen kann, vielleicht am Ende doch nicht so endgültig wäre.

 

Neurogenese und Neuroplastizität

Etwa um 1983 leistete der argentinische Neurobiologe Fernando Nottebohm, Professor und Leiter der Forschung an der Rockefeller Universität in New York, einen wichtigen Beitrag zur Überwindung des lang andauernden Glaubens, dass das Nervensystem aus einer vorbestimmten Anzahl von Zellen besteht, und dass diese Zahl sich bis zum Tod der Person nicht verändert.

Diese Meinung war seit 1906 praktisch Dogma, nachdem der spanische Wissenschaftler Santiago Ramón y Cajal den Nobelpreis für Medizin erhalten hatte für seine Arbeit über die Mechanismen, die die Morphologie und die Verbindungsprozesse in Nervenzellen bestimmen. Ramón y Cajal glaubte, dass sich reguläre Neuronen, im Gegensatz zu der Mehrzahl anderer Zellen in einem Organismus, in einem erwachsenen Menschen nicht regenerieren.

Nottebohms Entdeckung zertrümmerte diese Theorie und eröffnete ein Feld, das andere Wissenschaftler, einschließlich des kanadischen Psychiaters Norman Doidge, als “eine der großen Entdeckungen des 20. Jahrhunderts” beschrieben.

Nottebohm entdeckte, dass

“(…) Kanarienvögel – besonders männliche Kanarienvögel – ihr Liedrepertoire als Element sexueller Anziehung verwenden. Ihre Tonkombinationen wechseln von Jahr zu Jahr. Nottebohm bestätigte, dass diese jährlichen Veränderungen durch saisonale Zunahme oder Abnahme von Hirnzellen entstehen; er hatte die Neurogenese entdeckt. Er bewies, dass sich Neuronen in Kanarienvögeln reproduzieren, mit 20.000 neuen Neuronen täglich. Und am überraschendsten war, dass Neurogenese auch bei Weibchen stattfindet, und sie erlangen die Fähigkeit zu singen, wenn ihnen männliche Hormone injiziert werden. Neurogenese, der Prozess, durch den Neuronen reproduziert werden und Nervengewebe sich regeneriert, widerspricht dem, was bis dahin ein fast fundamentaler Lehrsatz der Neurologie gewesen war: dass Neuronen nur sterben könnten und sich niemals reproduzieren”.11

Kürzlich wurde ein Aufsatz im Nature Magazine12 veröffentlicht, der noch mehr Veranlassung gibt zu glauben, dass jeder lernen kann zu singen.

Die Wissenschaftler Ana Amador, Yonatan Sanz Perl und Gabriel Mindlin von den Dynamic Systems Laboratorien der Fakultät für Naturwissenschaften an der Universität von Buenos Aires und Daniel Margoliash von der University of Chicago schrieben über Vogelgesang.

“Vogelgesang und menschliches Singen haben vieles gemeinsam. Tatsächlich lernen eine große Zahl von Arten auf eine Weise zu singen, die ähnlich derjenigen ist, wie ein Kind die Muttersprache lernt, durch Interaktion mit den Menschen seiner Umgebung. Deshalb kann das Studium der Hirnaktivität bei Vögeln, wenn sie ihre Töne produzieren, Einblick geben in die Weise, in der Sprache in unseren Neuronen kodifiziert wird, und letztlich auch darin, wie das Gehirn eine komplexe Aufgabe lernt. Genau so wie bei der menschlichen Sprache umfasst der Vogelgesang neurale Aspekte (Instruktionen) und physikalische Aspekte (Organe, die handeln, um den Ton zu produzieren). Neugeborene Jungvögel singen nicht, sie machen nur Geräusche, um Futter zu erbetteln. Danach gehen sie durch eine Phase, in der sie ihren Lehrer oder Vater singen hören, und dann beginnen sie zu üben, ähnlich den ersten Versuchen eines Kindes, Worte zu produzieren. Nach diesem Üben, und durch das Vergleichen des eigenen Liedes mit dem internalisierten Modell, das sie erworben hatten, kommen sie zu ihrem Erwachsenenlied.”13

Dies ist als sensomotorischer Prozess bekannt. Das Sensorische wird in den Motor zurückgeführt in der gleichen Weise wie beim Lernprozess eines Kindes und bei der Entwicklung der Abstimmung.14

Der kürzlich in Nature veröffentlichte Aufsatz ermöglicht es uns, neuronale und physikale Aspekte zusammen zu betrachten, indem er erklärt, wie Neuronen aktiviert werden, um jeden der Töne zu produzieren, die sich zum Vogelgesang verbinden.15

Leser haben Zugang zu diesen höchst anregenden Untersuchungen, falls sie das Thema umfassender angehen wollen. Hier ist es nicht erforderlich, in solche Tiefe zu gehen, da dieser Artikel keine Abhandlung über Neurologie ist. (Siehe Bibliographie am Ende des Artikels)

Der argentinische Neurologe und Neurowissenschaftler Dr. Fernando Manes glaubt, “dass neue musikalische Therapien Neuroplastizität verstärken können – neue Verbindungen und Schaltungen – um Defizite in verletzten Teilen des Gehirns teilweise zu kompensieren.”16

Abschließend kann gesagt werden, dass die originale These gilt: jedes Kind, das sprechen kann, kann auch singen. Sogar bei Fällen von Amusie ist es durch sowohl einfache als auch komplexe karthesische Arbeit möglich, einen anderen Weg zu entwickeln, der Kompensation bietet für die unvollständige Entwicklung des Arcuate Fasciculus. Selbstverständlich können wir nicht behaupten, dass als Ergebniss ein großer Sänger dastehen wird, aber vielleicht kann dieser Mensch sich dann an Musik erfreuen, nicht nur auf einer emotionalen Ebene, sondern auch durch die vergrößerte Anzahl an neuronalen Verbindungen, die sich aus diesem Prozess ergeben.

Es besteht eine Fülle von Spezialisierungen, um das breite Spektrum menschlicher Funktionsstörungen zu behandeln. Man sieht an den Schulen für Blinde, die lernen zu lesen, schreiben und zu rechnen, an den Schulen für Taube und Stumme, die lernen zu sprechen und ihren Gesprächspartner zu “hören” durch Beobachtung der Bewegung der Lippen oder eines Systems von Handgesten, an den Para-Olympioniken, die Sport treiben können mit technischen Mitteln, ohne deren Hilfe solche Aktivitäten unmöglich wären, dass es keine Grenzen für die erreichbaren Ziele gibt, und die Ergebnisse sprechen Bände für die Möglichkeiten vollständiger menschlicher Entwicklung und das Menschrecht, dies in Anspruch zu nehmen.

Die Medizin hat großes interdisziplinäres Potential bewiesen bei der Entwicklung von äußerst komplexen Maschinen und medizinischen Instrumenten – Ausrüstung, die niemals hätte gemacht werden können ohne die Bemühungen von Ingenieuren für Mechanik und Elektronik, Experten für synthetische Materialien und besondere Metalle, Programmierer und so weiter.

Das gleiche gilt für das Singen. Es gibt Techniken und moderne Entwicklungen, die beweisen, dass es bei Menschen mit Schwierigkeiten möglich ist, zu bedeutenden Durchbrüchen zu kommen. Unter anderen können die von der Sprach- und Sprechtherapie, Physiatrie und Frühanregung entwickelten Strategien große Hilfen sein beim Bewältigen dieser Funktionsstörungen.

 

Prof. Oscar Escalada

OSCAR ESCALADA ist Professor, Komponist, Chorleiter, Autor und Herausgeber von Chormusik. Er ist Vizepräsident des argentinischen Chormusikverbands, Präsident der Organisation America Cantat und Präsidiumsmitglied der IFCM. In Argentinien gründete er den Kinderchor der Oper von Buenos Aires, den Coral del Nuevo Mundo, das Seminar des Konservatoriums von La Plata und den Jugendchor der Musikhochschule an der Universität. Escalada gibt Vorträge, Workshops, Seminare und ist Jurymitglied in ganz Amerika, Europa und Asien. Er ist verantwortlich für die Latin American Choral Music Series beim Verlag Neil A. Kjos, USA, und Herausgeber bei Porfiri-Horvath Publishers, Deutschland. E-Mail: escalada@isis.unlp.edu.ar

 

Übersetzt aus dem Englischen von Lore Auerbach, Deutschland.

 

1 Sluming V, Brooks J, Howard M, Downes JJ, Roberts N. Broca’s area supports enhanced visuospatial cognition in orchestral musicians. J Neurosci. 2007;27:3799–3806. doi: 10.1523/JNEUROSCI.0147-07.2007. [PubMed] [Cross Ref]

2 Wong PCM, Skoe E, Russo NM, Dees T, Kraus N, Musical experience shapes human brainstorm encoding of linguistic pitch patterns-Nature Review Neuroscience (2007) 10:420-422

3 Howard Gardner

4 Jordi Peña-Casanova- Neurología de la conducta y neuropsicología – 2007

5 Arthur Benton in Music and the brain by Critchey and Henson – Chapter 22, pag. 377 and ss The Amusias, 1977

6 Oliver Sachs, Musicofilia, Anagrama, Barcelona 2009, pg. 126.

7 Hannon, John, and Sandra E. Trehub. 2005. Tuning in to musical rhythms: Infants learn more readily than adults. Proceedings of the National Academy of Sciences 102: 12639-12643,

8 Dres. Psyche Loui, David Alsop and Gottfried Schlaug, Harvard University – Tone deafness: a new disconnection syndrome? – The Journal of Neuroscience, August 2009

9 A fascicle is a bundle of nerves made up of axons; these are the elongated part of the neuron.

10 Article reproduced from the International Music Council’s newsletter Music World News 04/2017, www.imc-cim.org

11 Fernando Nottebohm – The Rockefeller Foundation – Scientists & Research – May 2014

12 Ana Amador, Yonatan Sanz Perl, Gabriel Mindlin, Nature 504, 386–387 (December 19, 2013)

13 ibid

14 Oscar Escalada, “Un coro en cada aula”, Ed. GCC, Cap 2 – III pg 25., Bs.As. 2009

15 noticias.exactas.uba.ar

16 Facundo Manes, ¿Que le hace la música a nuestro cerebro?, El País, November 11, 2016, Spain.