Renaissancemusik Singen
Die Wichtigsten Fakten
Von Simon Carrington, Chorleiter und Lehrer
Ich singe wohl seit mehr als 60 Jahren die eine oder andere Art von Renaissancemusik, und das die meiste Zeit instinktiv – mit einem Instinkt, der schon in frühen Jahren als junger Chorsänger in einer englischen Kathedrale, dann am King’s College Cambridge unter Sir David Willcocks, und danach durch meine 3000 Konzerte mit den King’s Singers geschliffen wurde. Ich habe nie behauptet, ein Experte für dieses Repertoire zu sein, aber hatte einfach das Gefühl, zu wissen, wie es sein sollte!
Erst als ich begann, die ausgezeichneten jungen Sänger im mittleren Westen in Josquin-Messen, Tallis-Motetten, Monteverdi-Madrigalen u.s.w. zu unterrichten, habe ich wirklich angefangen, mich auf das Wesentliche zu konzentrieren und darauf, was diese Musik zur ausdrucksstärksten aller Genres machen sollte. Als ich aktuelle Aufnahmen der Top-Ensembles hörte, die sich auf Alte Musik spezialisieren, wurde mir bewusster, dass die fließenden, polyphonen Tonfolgen manchmal jenen Zuhörern (und auch den Sängern) unmittelbarer vermittelt werden sollten, die nicht unbedingt so tief in die Tradition eingetaucht sind wie ich. Für mich sind perfekte Intonation, glänzender, konstanter Klang und saubere Tonfolgen nicht genug, und ich wurde immer mehr davon überzeugt, dass es die Verantwortung aller Sänger ist, die Renaissancemusik aufführen – insbesondere in einer Konzert-Situation – die Schönheiten dieses Repertoires in einer offeneren und einnehmenderen Art und Weise mit ihrem gespannten Publikum zu teilen.
Ich entschied, dass beinahe alle meine Programme mit meinen Studenten-Sängern Elemente der Renaissancemusik enthalten sollten, die Verbindung mit der Chormusik der Vergangenheit und der Zukunft aufspüren, erhalten und veranschaulichen. Auf ziemlich dieselbe Art und Weise, auf die Komponisten die Techniken ihrer Vorgänger studierten, sollten Aufführende und ihr Publikum, wann immer möglich ebenso behutsam an diese Verbindungen erinnert werden.
Wie ich von der Teilnahme an verschiedenen Chorkonferenzen auf der ganzen Welt in den letzten 15 Jahren weiß, wird dieses Programmkonzept keinesfalls allgemein angenommen. Ein Grund dafür mag sein, dass ein allgemeines Unbehagen unter Chorleitern in Bezug auf das Unterrichten und dirigieren von Renaissancemusik herrscht, da es so wenige offensichtliche Anhaltspunkte gibt, die in der Musik gedruckt sind, keine Dynamik-, Rubato-Angaben oder andere solche Ausdruckszeichen. Die Verbreitung von Aufnahmen von Alter Vokalmusik, die mit großer Expertise, aber nicht zwangsläufig mit viel Ausdruck gesungen wurden, mag Chorleiter einschüchtern und sie davon überzeugen, z. B. der dichten harmonischen Sprache bestimmter Schulen der zeitgenössischen Chormusik mehr Zeit zu widmen, als den langen, eleganten und ausdrucksstarken Tonfolgen der Renaissance-Polyphonie.
Auf die Bitte der IFCM, etwas über das Genre zu schreiben, biete ich zwei Haupt-Orientierungshilfen an, in der Hoffnung, dass diese mehr Chorleiter ermutigen werden, ihre Sänger und ihr Publikum der innewohnenden Schönheit und den unendlich bewegenden Gesten der Renaissance-Polyphonie auszusetzen. Wie es der Zufall will, schreibe ich diesen kurzen Artikel zwischen Proben mit einem ausgezeichneten Chor aus professionellen Sängern, die, auch wenn sie stimmlich gut trainiert sind, bisher noch wenig Erfahrungen mit den relativ einfachen, weiter unten erläuterten Techniken gemacht haben, was dazu führt, dass die Polyphonie-Tonfolgen der Renaissance-Messe, die wir vorbereiten, dazu neigen, sich eher steif und unnachgiebig zu entwickeln, bis eine große Menge an Unterricht stattgefunden hat.
- Die feine Kunst der Rhetorik
“Der Redner-Musiker muss von der Nachricht, die er vermittelt, überzeugt sein, und um das zu sein, muss er die Grund-Techniken der Kommunikation kennen, die sich aus dem Studium der Rhetorik ergeben. Die Komponisten waren mit den Grundsätzen der Rhetorik so vertraut, dass sie ihnen vermutlich beim Komponieren nicht einmal bewusst waren. Die Konzepte von Entwicklung, Struktur und emotionalen Hilfsmitteln sind bei der Komposition von Musik auf so natürliche Weise benutzt worden, wie bei der endlosen Wiederholung von deklamatorischen rhetorischen Übungen im Unterrichtsraum.”
Judy Tarling Die Waffen der Rhetorik – ein Handbuch für Musiker und Zuhörer (a guide for musicians and audiences) –
- Was gibt der Renaissancemusik ihre einzigartige Kommunikationsstärke? Das Geschick des Komponisten, die fundamentale Rhetorik des Textes in einer melodischen Tonfolge auszudrücken.
- Was ist mit dem Ausdruck Rhetorik gemeint? Der Versuch eines Menschen, einen anderen mit Worten zu beeinflussen.
- Was ist das Grundelement der rhetorischen Technik? Die in jeder Textzeile vorgegebenen Betonungen, sei es et in terra, pax, Now is the month of Maying oder Ecco mormorar l’onde. Wenn man eine einzelne Zeile aus irgendeinem Stück der Periode von einem halbwegs guten Komponisten singt, egal ob geistlich oder weltlich, und dabei den betonten Silben ein wenig Gewicht verleiht und den unbetonten ein wenig Leichtigkeit, wird die Tonfolge sofort melodischer, berührender, geistreicher und kommunikativer werden.
Es ist wichtig, daran zu denken, dass diese rhetorischen Höhen und Tiefen für die Sänger der Renaissance ganz natürlich waren, da die Kunst der Rhetorik ein grundlegendes Element der Allgemeinbildung war. Von jedem wurde erwartet, sich selbst in einer überzeugenden Weise auszudrücken. Wir müssen die Textbetonungen bewusster angeben, da diese Herangehensweise an gesungenen Text nicht mehr die Norm ist. Das bedeutet lediglich, dass wir ebenso vorsichtig sein müssen, nicht zuviel zu betonen, wie nicht zu wenig zu betonen. Wir müssen die feine Balance finden zwischen gekünsteltem Gesang auf der einen Seite und farblosen, ausdruckslosen Tonfolgen auf der anderen Seite. Die Betonungen müssen gerade genug hervorgehoben werden, um es dem anspruchsvollen Zuhörer zu ermöglichen, sie beim ersten Hören zu erkennen. Alles andere endet in der Wand-zu-Wand-Polyphonie, die so häufig vorkommt: schön, aber farblos und unkommunikativ.
For all their musicke that they sing with mannes voice dothe so resemble and expresse naturall affections, the sound and tune is so applied and made agreeable to the thinge, that whether it bee a prayer, or els a dytty of gladness, of patience, of trouble, of mournynge, or of anger: the fassion of the melodye dothe so represente the meaning of the thing, that it doth wonderfullye move, stirre, pearce, and enflame the hearers myndes.
Sir Thomas More Utopia 1516
Komponisten aus jener Zeit schrieben (mit sehr wenigen Ausnahmen) musikalische Tonfolgen, die die Bedeutung, die Höhen und Tiefen sowie die Konturen des Textes aufwerteten. Auch wenn ich mein Leben lang diese Musik gesungen habe, ertappe ich mich jetzt noch dabei, dass ich als ersten Schritt der Vorbereitung einer Partitur die Wortbetonung in jeder Zeile einer Polyphonie, die ich dirigiere, unterstreiche. Bei einer ersten Probe mit jedem Ensemble unter meiner Leitung lese ich den Text mit dem Versuch einer rhetorischen Gewichtung sorgfältig durch und bitte dann alle Sänger, die betonten Silben in ihrer eigenen Stimme – und bei anderen Gelegenheiten auch in allen anderen Stimmen – zu unterstreichen! Die behutsame Beachtung der Text-Betonungen ist meine wichtigste „Hauptsache“, und nach meiner Erfahrung müssen die Sänger überredet, verführt, gequält, gedrängt werden (oder auf irgendeine andere geeignete Methode), dieser Maxime zu folgen. Es ist keine Technik mehr, die von allein kommt, besonders Gesangs-Studenten benötigen eine Menge Überredungskunst, bestimmte Silben nur leicht zu betonen und andere hingegen (noch wichtiger) stark!
- Die ausdrucksvolle Kraft der Suspension:
Ich halte die Identifizierung aller Suspensionen in einer Partitur für die essentielle Pflicht eines jeden Sängers von Renaissancemusik. Ich markiere jede in einer Tonfolge (in meinem Fall rot!) und bestehe darauf, dass die Sänger dies auch tun. Natürlich hätten die Sänger in den Zeiten der Renaissance diese Wegweiser mithilfe der Stimmauszüge akustisch bemerkt und instinktiv beachtet. Wir haben die Partituren vor uns, aber lassen die Suspensionen zu häufig in einer knappen Sekunde durchrauschen, obwohl wir damit das herrliche Gefühl der Spannung und Entspannung, das durch diese zeitlosen Kunstgriffe entsteht, umgehen. Was man aus den Suspensionen macht, hängt stark vom persönlichen Geschmack ab, da eine Über-Betonung zu einem irritierenden Geschaukel führen kann, aber eine subtile Zuwendung und ein leichtes Nachlassen sollten den Ausdruck einer jeden Tonfolge steigern, die Emotionen der Sänger berühren und das Publikum erschaudern lassen! Eines der bedeutendsten Beispiele der Macht der Suspension findet sich in der letzten Hälfte des Agnus Dei von William Byrds Messe für vier Stimmen bei den Worten „dona nobis pacem“.
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Es gibt natürlich andere Zutaten im Rezept für ausdrucksvolles Singen von Renaissancemusik, und ich führe hier einige an:
- Habe keine Angst vor dem feinen Rubato und der Tempo-Flexibilität zu Ausdruckszwecken, wenn es die Musik und/oder der Text suggerieren. Kommas im Text z. B. vor oder während homophoner Passagen in der Mitte einer polyphonen Requiem-Vertonung, schreien nach Flexibilität, um die Zuhörer auf die Rhetorik aufmerksam zu machen.
- Erkenne und erschließe die Identität individueller Motive.
- Betone die Unterschiede zwischen langen und kurzen Phrasen.
- Erkenne die bedeutendsten melodischen Tonfolgen in einer Polyphonie und stelle sie heraus.
- Erlaube es den Höhen und Tiefen der Intensität im Geschrieben, dynamische Levels zu kennzeichnen.
- Studiere sowohl die einzelnen Bögen als auch das Gesamtgerüst.
- Arbeite auf Sammelplätze hin – wo beispielsweise die polyphonen Stränge zu Rhythmen zusammenfließen.
- Wende dich an Rhythmus-Punkten den suspendierten Dominanten zu und setze bei den letzten Akkorden, die so oft auf unbetonten Silben liegen – natürlich insbesondere im Lateinischen –, sanft ab.
- Ermutige die Sänger, die Schönheit und Besonderheiten ihrer individuellen Tonfolgen mit ihren Zuhörern zu teilen, indem sie wie ein ausgezeichneter Redner und Meister der Rhetorik ihre Augen, Gesichtsausdrücke und leichte Körperbewegungen benutzen!
Ich hoffe, dem Leser ist klar, dass diese Beobachtungen (besonders die letzten!) persönlich sind. Es ist mir bewusst, dass Experten des Genres sie übertrieben finden könnten! Dennoch bleibe ich nach vielen Jahren der Chorproben und Auftritte mit Renaissancemusik davon überzeugt, dass Sänger und Zuhörer wesentlich besser als üblich die Kraft der Renaissancemusik nutzen können, um Emotionen anzuregen und Leben zu verändern.
Erst gestern sagte ein 21-jähriger Sänger nach unserem Konzert zu mir, wie diese Herangehensweise an das Singen von Renaissancemusik ihn daran erinnert hatte, warum er sich entschlossen hatte, eine Karriere als Musiker anzustreben.
Wirklich ermutigende Worte!
Simon Carrington hatte eine lange und herausragende Musikerkarriere als Sänger, Kontrabass-Spieler und Chorleiter, erst in Großbritannien, dann in den USA. Ehe er in die USA ging, hat er fünfundzwanzig Jahre lang in dem international anerkannten Vokalensemble The King’s Singers mitgewirkt. Er ist über 3000 Mal bei den berühmtesten Festivals und Konzertsälen der Welt aufgetreten, war an über siebzig Einspielungen beteiligt und hat zahlreiche Radio- und Fernsehauftritte absolviert. Von 2003 bis 2009 war er Professor für Chorleitung an der Yale University und Leiter der Yale Schola Cantorum, einem 24stimmigen Vokalensemble, das er international bekannt gemacht hat. Heute ist er Professor Emeritus von Yale und weiterhin aktiv als frei arbeitender Chorleiter und gibt Seminare, Workshops und Meisterklassen in der ganzen Welt. In der jetzigen Saison ist er in England, Irland, Frankreich, Italien, Portugal, Spanien, Japan und Nord- und Südamerika tätig. E-Mail: simon.carrington@yale.edu
Aus dem Englischen übersetzt von Sabine Wolff, Deutschland