Singen mit Stil: die Türkische Chor-Landschaft
Burak Onur Erdem, Dirigent, Türkei
Die Türkei ist ein Land, in dem seit dem frühen 20. Jahrhundert ein einzigartiger Chorstil blüht. Das Erbe des anatolischen Bodens umfasst eine Vielzahl von musikalischen Hintergründen, die von Osten und Westen bewässert wurden, das hat auch die kollektive Gesangskultur des Landes beeinflusst. Im Laufe des Jahrhunderts, als Chöre und Chorvereine zu blühen begannen, folgte auch ein besonderes kompositorisches Schaffen diesem Trend. Ein Blick in die Vergangenheit des 21. Jahrhunderts zeigt, dass hier die Vermählung zwischen westlicher Polyphonie und östlicher mikrotonaler Kultur in diesem Land der kulturellen Brücken stattfindet.
Die Chortradition der Türkei reicht bis in die ersten Jahre der Republik zurück. Obwohl es im späten Osmanischen Reich einige einzelne Chorinitiativen gab, die hauptsächlich von Minderheiten gegründet wurden, kann man sagen, dass die ersten organisierten Choraktivitäten um die 1920er Jahre begannen. Die 1924 gegründete Musiklehrer-Schule war ein Meilenstein in der Musikpolitik der neuen Republik. In den frühen 1930er Jahren blühten in großen Städten wie Istanbul, Ankara und Izmir verschiedene Chorvereine auf.
In den letzten Jahrzehnten waren Konservatorien und Musikschulen ein wichtiger Knotenpunkt für die Produktion und Aufführung von Chormusik. Das türkische Chorleben beschränkt sich nicht nur auf die Schulmusik, auch symphonische und a cappella-Chorproduktionen sind seit Beginn der Republik vorhanden. In die späten 70er und 80er Jahre fallen die Gründungen der ersten professionellen A-cappella- und symphonischen Chöre mit öffentlicher Unterstützung, und die 90er und 2000er können durch die Blüte der Amateurchöre charakterisiert werden, die in verschiedenen wichtigen Städten der Türkei organisiert sind. Seit 2010 ist die Türkei mit zahlreichen Chorfestivals, verschiedenen Chororganisationen, international renommierten Chören und einem drastischen Anstieg der Bildungsaktivitäten im Bereich Chorleitung gesegnet.
Bevor man in die Chorwelt der Türkei eintaucht, sollte man einen Blick auf die Terminologie werfen, die das Land verwendet, um polyphone Chormusik von sogenannter monophoner Chormusik zu unterscheiden. Die Chorszene in der Türkei enthält eine Reihe von Chören, die das Attribut „polyphon“ im Namen tragen und auch viele, die sich ebenso definieren und auf das westliche musikalische Erbe hinweisen. Im Gegensatz dazu werden Volksmusik- oder klassische türkische Chöre als monophon beschrieben, bei denen die Sänger eine mikrotonale Linie mit traditioneller Ornamentik singen. Den Autor interessieren jedoch nicht die rein technischen Unterschiede der Chorgesellschaften, da die Tatsache des gemeinsamen Singens der wichtigste gemeinsame Nenner eines jedes Chors ist, der sich auf die musikalischen Reise macht. Die Funktion der Chorvereine, die Qualität der kompositorischen Technik und Darbietung und der Ausdruck musikalischer Inhalte durch gemeinsame Praxis sind viel interessantere Ansätze, sich der Chorlandschaft eines Landes zu nähern.
Die Chorkomposition in der Türkei begann mit dem Material aus der Volksmusik. Die erste Kompositionsschule für klassische türkische Musik, die hauptsächlich in den 1930er und 1940er Jahren geschrieben wurde, heißt „The Turkish Five“. Die folgenden Namen, die im frühen 20. Jahrhundert geboren wurden, bilden die Grundlagen des musikalischen Schaffens der neuen Republik: Ahmed Adnan Saygun, Ulvi Cemal Erkin, Cemal Reşit Rey, Hasan Ferid Alnar und Necil Kazım Akses. Obwohl das Material hauptsächlich aus Volksliedern bestand, wurde das allererste türkische Oratorium 1943 von Saygun komponiert. „Yunus Emre Oratorio“ erzählt die Geschichte des Mystikers Yunus Emre aus dem 13. Jahrhundert, geschrieben in Form eines klassischen Oratoriums im Stil der türkischen religiösen Musik. Zur zweiten Generation von Komponisten gehören Namen wie Muammer Sun, Cenan Akın, Nevit Kodallı, Yalçın Tura und andere. Die wichtigsten Themen der Komponisten, die in den 20er und 30er Jahren geboren wurden, sind nationale Epen und Volksmusik. Zu den Avantgarde-Komponisten mit Chorwerk des frühen 20. Jahrhunderts gehören auch İlhan Usmanbaş und Ertuğrul Oğuz Fırat.
Komponisten, die in den 50er und 60er Jahren geboren wurden, haben einen beachtlichen Output in der Chormusik: Turgay Erdener, Kamran İnce, Hasan Uçarsu, Özkan Manav, Mehmet Nemutlu. Uçarsu ist höchst wahrscheinlich nicht nur der Komponist mit den meisten für Chor komponierten A-cappella-Werken, sondern steht auch für eine stilistische Reife des Chorsatzes. Seine Werke vereinen eine sehr feine Verschmelzung von türkischer Klassik, Volksmusik und original polyphonem Material. Es mag nicht überraschen, dass Uçarsu einer der beliebtesten Komponisten unter den Chören des Landes ist.
Fazıl Say, international renommierter türkischer Pianist, hat mit dem Nazım-Oratorium, das eine starke Erzählung über den türkischen Dichter des 20. Jahrhunderts Nazım Hikmet enthält, einen bemerkenswerten Beitrag zum Chorrepertoire geleistet. Dann kommt die neue Generation, geboren Ende der 70er und 80er Jahre. Zu diesen Zeitgenossen zählen Namen wie Mesruh Savaş, Volkan Akkoç, Recep Gül. Die jungen Komponisten des Landes sind besonders stark darin, die neuen Klangfarben der Chormusik des 21. Jahrhunderts mit den eigentümlichen Rezepten des Türkischen Chorsatzes, der mittlerweile seit fast einem Jahrhundert existiert, zu mischen.
Es wäre nicht falsch zu behaupten, dass der türkische Chorsatz ein paar charakteristische Eigenschaften hat, die es exklusiv nur in diesem Land gibt. Ein bekanntes Merkmal ist die unregelmäßige rhythmische Struktur, bei der Takte wie 5/8, 7/8 oder 9/8 als übliche Taktarten gelten. Dies lässt sich auch im Chorwerk Südosteuropas und des Balkans beobachten. Eine weitere für Anatolien bedeutsame Eigenschaft ist der mikrotonale Hintergrund in der melodischen Struktur. Das Makam, das der Tonleiterstruktur der klassischen türkischen Musik entspricht, ist einer der Haupteinflüsse auf die zeitgenössischen Komponisten. Schließlich hat der Einfluss der Makam-Musik auch seine eigenen harmonischen Auswirkungen, wobei eine große Sekunde oder eine kleine Sekunde in der türkischen Chormusik eine völlig andere Bedeutung hat als in der traditionellen europäischen Musik. Darüber hinaus bewirkt die modale Struktur der Volksmusik einen harmonischen Ansatz, der auf der Quarte als Einheit und nicht auf der Terz basiert. Dadurch kann ein ausgesetzter Quartakkord eher als Auflösung denn als Spannung wie in der westlichen Harmonie wirken.
Weitere Merkmale dieses spezifischen Kompositionsstils können schließlich in einem separaten Artikel detailliert ausgeführt werden. Dennoch kann sich der Leser durch diesen Artikel, der bei weitem kein umfassender Leitfaden für die Chorkompositions-Szene in der Türkei sein will, einen allgemeinen Eindruck von der türkischen Chorlandschaft verschaffen. Weitere Informationen zu jedem Komponisten und etablierteren Komponisten finden Sie online über die Aufführungen türkischer Chöre und Veröffentlichungen von Musikschulen und Konservatorien.
Dr. BURAK ONUR ERDEM (*1986) studierte Musiktheorie & Dirigieren in Istanbul sowie Politikwissenschaft & Internationale Beziehungen. In Meisterkursen bei Johannes Prinz, Maria Guinand, Volker Hempfling, Anders Eby, Denes Szabo und Michael Gohl hat er sein chorleitendes Können verfeinert. Sein Aufbaustudium Chorleitung absolvierte er bei Prof. Johannes Prinz an der Kunstuniversität Graz, Österreich. Erdem ist Vorstandsmitglied der European Choral Association und der International Federation for Choral Music. Derzeit ist er Vorsitzender der Musikkommission von Leading Voices 2022. Er wurde beim 38. Internationalen Chorwettbewerb von Varna mit dem „Preis für den besten jungen Dirigenten“ ausgezeichnet und war Jurymitglied beim 66. Internationalen Chorwettbewerb in Arezzo. Erdem ist Chefdirigent des türkischen Staatschores und des Istanbuler Kammerchores Rezonans.
Übersetzt aus dem Englischen von Heide Bertram, Deutschland