Singing World 2012, St. Petersburg, Russland

10 Internationales Festival für Chorkunst – 8.Internationaler Chorwettbewerb

 

Andrea Angelini, ICB Managing Editor, Chorleiter und Gesangspädagoge

 

St. Petersburg, von Zar Peter dem Großen (1672-1725) einst als „Fenster nach Europa“ gegründet, ist eine vornehme Stadt mit der nostalgischen Eleganz der reizvollen Metropolen Europas. Dass sie der Lieblingsort der heutigen Modefotografen und Reiseberichterstatter ist, verwundert kaum: im Mündungsdelta der Newa auf über hundert Inseln errichtet, gaben die zahlreichen Kanäle und unzähligen Bogenbrücken der Stadt ein Gepräge, das Goethe veranlasste, ihr den Beinamen Venedig des Nordens zu verleihen, und ihre herrschaftlichen Uferbauten lassen an Paris denken.

Eine kaiserliche Stadt mit goldenen Kirchtürmen und vergoldeten Kuppeln, mit pastellfarbenen Palästen und von Kerzen erleuchteten Kathedralen, mit einer Fülle von Vergnügungen und lockenden Schätzen: Barockkirchen, die mit ihrer Architektur und überreichen Ornamentik märchenhaft anmuten; Brunnenanlagen, Paläste, Kanäle, Parkanlagen sowie die berühmten Prospects, die die Stadt durchziehen. …. St. Petersburg präsentiert an jeder Ecke ein anderes Bühnenbild. Auch wenn die Stadt Schauplatz von zwei Revolutionen war: die Aufklärung sowie die Größe und Pracht der Zaren haben Spuren hinterlassen, die noch immer allenthalben sichtbar sind.

Es überrascht daher nicht, dass in dieser großartigen Stadt jährlich ein Chorfestival veranstaltet wird. „Singing World“ ist eines dieser Musikevents, das man in seinem Leben wenigstens einmal erlebt haben sollte, und zwar am besten als Mitwirkende bzw. Mitwirkender. Dieses Jahr waren die Organisatoren Gastgeber für 46 Chöre und Vokalgruppen mit insgesamt rund 1500 Teilnehmern aus fünfzehn Ländern aus allen Teilen der Welt. Die hohe Kunst des Chorgesangs wurde von Ensembles aus Australien, Brasilien, China, Finnland, Frankreich, Deutschland, Hong-Kong, Israel, Litauen, Polen und Russland dargebracht.

 

Children and Youth Choir Sofia from Krasnoyarsk, Russia
Children and Youth Choir Sofia from Krasnoyarsk, Russia

 

Während des sechstägigen Festivals fanden zwanzig Chorkonzerte statt, von denen eines gemäß alter Tradition an der Großen Kaskade in der Parkanlage der Zarenresidenz Peterhof abgehalten wurde. Aber auch zahlreiche neuere Traditionen, die durch Festivals der jüngeren Vergangenheit begründet worden waren, fanden erfreulicherweise ihre Fortsetzung. So wurde am Samstag, 4. August, ein Konzert abgehalten, das ausschließlich Komponisten aus St. Petersburg gewidmet war, und fand am Mittwoch, 7. August, in der Kazan Kathedrale ein Konzert mit Werken geistlicher Chormusik aus Russland statt.

Das Festival „Singing World“ ist Yury Falik gewidmet, einem russischen Komponisten, der in St. Petersburg einen hohen Bekanntheitsgrad genießt.

„Er starb 2009 und verschwand sehr schnell aus der Welt – wie die Fremde in Aleksandr Bloks Gedicht „The Stranger“, die im Vorübergehen wenige Momente lang intensiven Dunst und Duft ausströmt … Stets korrekt und elegant gekleidet (mit einer Krawatte oder einem modischen Halstuch von Pierre Cardin), mit umgehängter Schultertasche, aus der die Ecke der Partitur eines Orchesterwerks – Prokofiev, Stravinsky oder eine Eigenkomposition – für das nächste Konzert im Großen Saal der Philharmonic Society hervorblitzt, wo er, umgeben von Orchestermusikern oder Solisten, wie immer behände und locker das Dirigentenpodest besteigen und den Taktstock heben wird – und der Saal wird sich mit Musik füllen, die in den Proben zur Perfektion gebracht worden ist. Oder er wird in einem Unterrichtsraum des Konservatoriums von St. Petersburg am Klavier Platz nehmen, immer links vom Studenten bzw. der Studentin, um knappe, launige und sehr präzise Kommentare abzugeben …“

Yury Falik führte ein sehr schillerndes, kreatives Leben, in dem er unzählige symphonische Werke, Instrumentalstücke, Kammermusikstücke und Gesangsstücke komponierte. Gleichwohl könnte er als der am meisten aufgeführte Komponist russischer Chormusik bezeichnet werden. Er hinterließ ein immenses künstlerisches Erbe: allein fünf Bände a-cappella-Musik.

Der Tradition folgend saß Prof. Valery Uspensky, Intendant des Chors des Staatlichen Sankt  Petersburger Rimsky-Korsakow-Konservatoriums und Leiter der Fakultät für Chorleitung an dieser Hochschule sowie Träger des Ehrentitels „Held Russlands“ der internationalen Jury als Präsident vor. Die anderen Jurymitglieder kamen aus der Slowakei, aus Litauen, aus Italien, aus der Ukraine und aus Russland. Die Jury sah sich angesichts der großen Zahl der teilnehmenden Chöre und des hohen Niveaus einer gewaltigen und sehr schwierigen Aufgabe gegenüber. Es war keine einfache Aufgabe, die Gewinner der verschiedenen Kategorien zu ermitteln. Am Ende ging der Grand Prix ebenso wie der Publikumspreis an den französischen Kinderchor „Capriccio“ aus Nevers. Eine Liste der Preisträger kann mit dem offiziellen Bericht über den Link http://goo.gl/47LoY heruntergeladen werden.

 

 

A crowded State Academic Capella Hall!
A crowded State Academic Capella Hall!

 

Die Endrunde, in der der Kinderchor „Capricco“ letztlich den Sieg davon trug, fand in einem der schönsten Konzerthallen in St. Petersburg statt, der State Academic Capella.

 

The joy of the Children's Choir Capriccio after the announcement of their winner
The joy of the Children’s Choir Capriccio after the announcement of their winner

 

Als die älteste Einrichtung Russlands für professionelle musikalische Ausbildung hat sie die Aktivitäten, die Gründung und die Entfaltung der gesamten professionellen Musikkultur Russlands bestimmt und war über mehrere Jahrzehnte das musikalische Aushängeschild Russlands.

 

The balcony at the State Academic Capella Hall ©Andrea Angelini
The balcony at the State Academic Capella Hall © Andrea Angelini

 

Im Jahre 1701 wurde in St. Petersburg der Hofchor ins Leben gerufen, und im Jahre 1763 wurde die zaristische Hofkapelle errichtet. 1738 wurde auf Erlass der Zarin Anna Ioannovna die erste Musikschule gegründet, um den Anforderungen des Chors Rechnung zu tragen. 1882 konstituierte sich das erste russische Symphonieorchester, die Court Capella. Nach der Revolution 1917 wurde die Capella in ihrer bisherigen Struktur zerschlagen und der Unterricht eingestellt. Chor, Symphonieorchester und Musikschule wurden separiert, mit der Folge, dass eine der bedeutendsten Zentren für Musik von der musikalischen Landkarte Europas verschwand. In einer gemeinsamen Anstrengung haben sich das Land und die Stadt St. Petersburg mittlerweile daran gemacht, die älteste Institution für Musik in Russland wiederzubeleben.

Am letzten Tag des Festivals zeigte sich die Newa grau in grau, genauso wie der Himmel …. nichts erinnerte an August. Doch in den Herzen all derer, die das Festival besucht hatten, war noch die Wärme der Stimmung spürbar und die Erinnerung daran lebendig, dass unter allen Instrumenten die menschliche Stimme das ausgefeilteste und wohlklingendste Instrument überhaupt ist.

 

 

Andrea AngeliniAndrea Angelini studierte Klavier und Chorleitung. Er führt ein intensives künstlerisches Leben an der Spitze mehrerer Chöre und Kammermusikgruppen. Seine besondere Kompetenz auf dem Gebiet der Renaissance-Musik nutzt er weltweit für Workshops und Seminare und er wird häufig als Juror für die wichtigsten internationalen Chorwettbewerbe angefragt. Gemeinsam mit Peter Phillips hat er mehrere Jahre beim Internationalen Kurs für Sänger und Chorleiter in Rimini gelehrt. Er ist künstlerischer Leiter des Voci nei Chiostri Chorfestivals und des Internationalen Chorwettbewerbs in Rimini. Seit 2009 ist er Chefredakteur des ICB. Als Komponist wird er von Gelber-Hund, Eurarte, Canticanova und Ferrimontana verlegt. Email: aangelini@ifcm.net

 

 

Übersetzt von Petra Baum, Deutschland

Edited by Gillian Forlivesi Heywood, Italy