Die Tallis Scholars im Vierzigsten Jahr ihres Bestehens

Ein Interview mit Peter Phillips

 

Graham Lack

Komponist und beratender Redakteur des ICB

 

Graham Lack: Wie erklären Sie sich den Klang der Tallis Scholars?

Peter Phillips: Nach all den Jahren scheint wohl einfach meine Präsenz zu genügen, um diesen Klang entstehen zu lassen. Nichtsdestotrotz haben wir Jahre gebraucht, um diesen Klang aufzubauen, auch wenn ich ihn jetzt nur noch optimieren muss. Wie ein Instrument, mit dem ich musizieren kann. Stünde dort ein anderer Dirigent, klänge es anders. Ich vermute, es ist meine schiere Anwesenheit im Zusammenspiel mit den unglaublich vielen Aufnahmen, die wir gemacht haben. Die Sänger wissen einfach, was sie zu tun haben.

 

Peter Phillips ©2009 Eric Richmond
Peter Phillips ©2009 Eric Richmond

 

GL Aber dieser Klang war sicher nicht von Anfang an da?

PP Natürlich nicht, nein. Ich musste ihn erzeugen, das ist jetzt ziemlich lange her. Die jetzigen Sänger erspüren instinktiv, was sie machen müssen…

GL … und das wäre?

PP Erst mal sollten sie so viele CDs wie möglich anhören, von unseren älteren Aufnahmen bis zu den neuesten.

GL Ein gutes Beispiel für die Theorie der Musikrezeption…

PP…so könnte man sagen! Ich pflege auch den Back-Katalog,  und das nicht, um damit das große Geschäft zu machen. Die Bedeutung eines Back-Kataloges besteht ganz einfach darin, alle noch lieferbaren Aufnahmen zu listen. Die berühmte Allegri-Aufnahme wurde 1980, also vor 33 Jahren, gemacht!

 

GL Ist heute noch eines der Gründungsmitglieder dabei?

 PP Interessanterweise gibt es einen Sänger, der immer noch als regelmäßiger Gast im Ensemble singt. Er war 1973 dabei.

GL Was ist so besonders an der Allegri-Aufnahme? Oder ist das schon Vergangenheit?
PP Der Umstand, dass die Spitzentöne damals von der Sopranistin Alison Stamp gesungen wurden und heute, 28 Jahre später, ihre Tochter zu einem Vorsingen erscheint und nun in einigen Projekten mitsingt.

GL Es gibt also eine verblüffende Kontinuität?

PP Unbedingt. Und das trotz der hektischen Welt, in der wir leben. Unser Repertoire und unser Klang bleiben gleich.

 

GL Aber es hat doch sicher auch mal Probleme gegeben…

PP …natürlich. Das zunehmende Alter der Sänger erfordert einen Austausch, das Ensemble muss erneuert werden, wofür man ein gewisses Fingerspitzengefühl braucht. Auftretende Krankheiten sind problematisch, vor allem, wenn einem Sänger eine längere Laufbahn vorschwebte.

 

GL Und wie überwinden Sie stimmliche Probleme anderer Art, solche, die nicht mit Gesundheit oder stimmlichem Durchhaltevermögen zu tun haben?

PP…wir versuchen, immer einen Schritt voraus zu sein. Das Auswahlverfahren für die Tallis Scholars ist unglaublich rigoros. Allerdings spielt zu 10% auch immer eine gewisse Chemie eine Rolle. Der oder die Neue muss einfach reinpassen…

GL …zum Nachbarn, wenn eine Stimme doppelt besetzt ist…

PP So ist es. Zu zweit einen Part singen, das ist das Schwerste, aber auch das Subtilste.

 

GL …das Subtilste, interessant, es so auszudrücken.

PP …ja, im Vergleich zur Einfach- und Mehrfachbesetzung eines Parts ist das einfach das subtilste Klangergebnis. Ersteres ist eine Herausforderung, psychologisch und physisch unglaublich anstrengend, aber ein wunderbar transparenter Klang kann schnell langweilig werden…

GL … und letzteres?

PP Letzteres ist für mich ein inniger Klang. DER Chorklang schlechthin. Der, den wir wollen. Eine Vereinigung des Besten vom Klang eines Kammerchors und dem eines Solisten-Ensembles.

 

GL Natürlich ist die Stimme etwas sehr Persönliches. Wie gehen Sie mit dem einzelnen Sänger während einer Probe um?

PP Ich habe niemals zu einem Sänger gesagt, dass er nicht den Klang erzeugt, den ich mir vorstelle. So etwas sage ich nicht. Hingegen eher, dass er seinen Kopf von Theorie befreien soll, bevor er auf die Bühne geht.

GL Wie zum Beispiel musica ficta?

PP Meine Güte, ja. Ich meine, kann man sich nicht einfach darauf verlassen, dass der Herausgeber die elenden Kreuze in die Partitur schreibt, sodass man dann mit Verve und Überzeugung singen kann… ohne diese Stolpersteine?

GL Ein guter Terminus: Verve. Er sagt eine Menge über den Klang der Tallis Scholars. Trotzdem sollten Sie sich nicht zu sehr auf Ihren Lorbeeren ausruhen, wenn es um theoretische Dinge geht. Nehmen wir zum Beispiel den Fall in späteren Aufnahmen von Tallis, wo ein f in einer Stimme mit einem fis in einer anderen kollidiert; wenn in mitteltöniger, nicht temperierter Stimmung gesungen wird, ist die verminderte Oktave kleiner und daher weniger dissonant.

PP Natürlich wissen wir, dass große Terzen kleiner und kleine Terzen schärfer sein sollten. Diese Feinabstimmung muss jedoch in den Proben stattfinden. Aber wir singen für großes Publikum, wissen Sie, manchmal sind da fast 3000 Leute und sogar noch mehr bei den Proms.

 

The Tallis Scholars in Oxford, 1977
The Tallis Scholars in Oxford, 1977

 

GL Im Rückblick auf 1973, was haben Sie anders gemacht? Was hob Ihr Ensemble von anderen ab?

PP Zunächst einmal standen wir im Halbkreis, in einer Reihe, so dass jeder jeden sehen konnte. Das war damals unüblich. Außerdem sangen wir nur polyphones Renaissance-Repertoire, auch dies damals eher unüblich.

GL Und jede Stimme zweifach besetzt…

PP…was ein weiterer Punkt ist, der uns von anderen Ensembles abhob. Das war einzigartig – oder fast. Zumindest vor vierzig Jahren, würde ich sagen. In den traditionellen Ordenskirchen und Kathedralen Englands gab es hervorragende Knabenstimmen. Aber unser Ensemble war anders und hatte einen anderen Klang.

 

GL Stimmumfang und -lage stellen ein ständiges Problem dar. In vielen Renaissance Motetten reicht der Stimmumfang über eine Oktave und Quinte hinaus. Wie gehen Sie damit um?

PP Wir singen sogar Werke, deren innere Stimmen einen Stimmumfang von fast zwei Oktaven erfordern, was bedeutet, dass immer jemand in Bedrängnis kommt. Unsere pragmatische Antwort darauf lautet, die Stimmen eines Parts zu mischen,  zum Beispiel Alt mit Tenor, oder Bariton mit Tenor, oder Sopran mit Alt, sodass ein Sänger aussteigen kann, wenn es zu hoch oder tief für ihn wird.

GL Glauben Sie, dass das der Aufführungspraxis des 15. und 16. Jahrhunderts entspricht?

PP Ich glaube, dass sie nicht so sangen, wie manche Musikwissenschaftler uns glauben machen wollen.

GL Sodass die Sänger damals frei in andere Stimmlagen gewechselt wären?

PP Das ist sicher die moderne Erklärung dafür, dass sie anders als wir heute gesungen haben, viel weicher, in einer Art von Summen, was ein Wechseln in andere Stimmlagen unnötig gemacht haben würde.

GL…was wiederum bedeuten würde, dass  Notenschlüsselcodes und Stimmlagen nur das Gefilde des Komponisten waren?  

PP Genau, sie waren möglicherweise nur ein theoretisches Konstrukt…

GL…erdacht vom Komponisten, um zu demonstrieren, dass er auf dem neuesten Stand der musikalischen Notation und au fait mit allen Arten geheimer Praktiken war?

PP Vermutlich, und, obwohl wir darüber nie Gewissheit haben werden, die plausibelste Erklärung…

GL… vor allem, was Stimmlagen betrifft…

PP … so ist es.

 

GL Was steht als nächstes an?

PP Hoffentlich noch lange viele Reisen um den Globus, um der Renaissance Polyphonie ein immer größeres Publikum zu erschließen. Das Repertoire ist riesig. Ein mir am Herzen liegendes Projekt ist die Aufnahme aller Messen von Josquin. Bisher haben wir erst zehn aufgenommen, es bleiben also noch sechs. Außerdem möchte ich auch einige Werke aus dem 21. Jahrhundert aufnehmen, vor allem von Arvo Pärt. Aber auch andere, wir haben bei Eric Whitacre, Gabriel Jackson, Nico Muhly und Michael Nyman Kompositionen in Auftrag gegeben.

 

Peter Phillips, Gabriel Jackson, Eric Whitacre ©2013 Clive Barda 22 Gibson Square; London, UK; 15 January 2013; Credit: CLIVE BARDA/ArenaPAL;
Peter Phillips, Gabriel Jackson, Eric Whitacre ©2013 Clive Barda

 

“…Die Rockstars der Vokalmusik der Renaissance…”

(The New York Times)

 

„…eine frappierende Fähigkeit, aus dem Nichts eine so subtile emotionale Intensität zu erzeugen. Dann, plötzlich, bumm! Die Musik steht in Flammen – und man selbst auch…“

(The Times)

 

Die Tallis Scholars wurden 1973 von ihrem damaligen Leiter, Peter Phillips, gegründet. Mit ihren Aufnahmen und Konzerten haben sie sich weltweit als führendes Ensemble für sakrale Renaissancemusik fest etabliert. Unter der Leitung von Peter Phillips erarbeitete das Ensemble den auf guter Intonation und Abmischung basierenden reinen und klaren Klang, der es laut Peter Phillips am besten ermöglicht, jedes Detail der musikalischen Linien der Renaissancewerke herauszuhören. Es ist vor allem die daraus resultierende Klangschönheit, die das Renommee der Tallis Scholars befestigt hat.

 

Die Tallis Scholars konzertieren mit ca. 70 jährlichen Auftritten weltweit sowohl in sakralen als säkularen Veranstaltungsorten. In der Saison 2012/13 reist das Ensemble zweimal in die USA und einmal nach Japan, und zu zahlreichen Festivals und Konzertauftritten in Großbritannien und Europa. Ihre Zusammenarbeit mit der Reihe Choral at Cadogan, deren künstlerische Leitung in den Händen von Peter Phillips liegt, wird mit zwei Konzerten fortgeführt. 2013 feiert das Ensemble seinen 40. Geburtstag mit zwei Auftragskompositionen von Gabriel Jackson und Eric Whitacre, sowie mit ausgedehnten Konzertreisen und besonderen CD-Veröffentlichungen. Am 7. März 2013 findet in der Londoner St. Paul’s Cathedral ein einmaliges Festkonzert mit Spem in alium statt.

 

Höhepunkte der Karriere der Tallis Scholars waren eine China-Tournee 1999, mit zwei Konzerten in Peking, sowie ein live im japanischen und italienischen Fernsehen übertragenes Festkonzert in der Sixtinischen Kapelle im April 1994 anlässlich der fertiggestellten Restaurierung des Michelangelo-Freskos. Das Ensemble hat viele Kompositionen in Auftrag gegeben, 1998 feierte es sein 25-jähriges Bestehen mit einem Festkonzert in der Londoner National Gallery mit der Uraufführung eines Werkes von Sir John Taverner, geschrieben für das Ensemble und mit Sting als Sprecher. Regelmäßige Radioübertragungen, einschließlich der Auftritte bei den BBC-Proms in der Royal Albert Hall (2007, 2008 und 2011), und ein Auftritt in dem bekannten Fernseh-Programm The Southbank Show gehören dazu.

 

Einen Gutteil des Renommees für ihre Pionierarbeit verdankt das Ensemble seiner Zusammenarbeit mit Gimell Records, 1980 von Peter Philipps und Steve Smith ausschließlich für Aufnahmen des Ensembles ins Leben gerufen. Im Februar 1994 trat das Ensemble mit seinem Leiter Peter Phillips anlässlich des 400. Todestages von Palestrina in der Basilika Santa Maria Maggiore in Rom auf. Dort war Palestrina Chorknabe und später Maestro di Cappella gewesen. Diese Konzerte wurden von Gimell aufgenommen und sind als CD und auch als DVD erhältlich.

 

Die Aufnahmen der Tallis Scholars sind weltweit mit vielen Preisen ausgezeichnet worden. Für Ihre Aufnahme von Josquins Missa La sol fa re mi und Missa Pange lingua erhielten sie den Record of the Year award  des GRAMOPHONE Magazins, zum ersten Mal wurde dieser begehrte Preis für eine Aufnahme von Alter Musik vergeben. 1989 folgten zwei Diapason d’Or de l‘Année des französischen Magazins DIAPASON für die Aufnahme von Motetten und einer Messe von  Lassus sowie für zwei Messen über das Lied L’Homme armé von Josquin. Für Palestrinas Missa Assumpta est Maria und Missa Sicut lilium wurden sie 1991 mit dem GRAMOPHONE Early Music Award ausgezeichnet, es folgte 1994 der  Early Music Award für die Aufnahme von Cipriano de Rore, dieselbe Auszeichnung noch einmal 2005 für die Aufnahme mit Werken von John Browne. Die 2010 anlässlich des 30. Geburtstages von Gimell Records veröffentlichte Aufnahme von Victorias Lamentations of Jeremiah wurde von der Kritik gewürdigt. Weitere Geburtstagsveröffentlichungen waren 4 CD Boxen, eine pro Jahrzehnt, mit „The Best of The Tallis Scholars“. Das laufende Aufnahme-Projekt mit dem vollständigen Werk von Josquin wird bei Vollendung 9 CDs umfassen.

 

Diese Auszeichnungen und Leistungen zeugen von dem außerordentlich hohen Niveau der Tallis Scholars und von ihrem Einsatz für eines der großen Repertoires in der westlichen klassischen Musik.

 

www.thetallisscholars.co.uk                            

www.gimell.com

 

 

Graham LackGraham Lack studierte Komposition und Musikwissenschaft am Goldsmiths’ College und an King’s College, University of London (BMus Hons, MMus), Musikerziehung an der Universität Chichester (Staatsexamen), und zog 1982 nach Deutschland (Technische Universität Berlin, Dissertation). Dozent für Musik an der Universität Maryland bis 1992. Beiträge für Groves Dictionary und Tempo. Kompositionsaufträge: Sanctus (Queens’ College Cambridge), Two Madrigals for High Summer, Hermes of the Ways (Akademiska Damkören Lyran), Estraines, (The King’s Singers, eingespielt bei Signum), Four Lullabies (VOCES8, Signum), Petersiliensommer (Münchener Philharmonischer Chor). The Legend of Saint Wite war 2008 Gewinner eines BBC Wettbewerbs. REFUGIUM wurde vom Trinity Boys Choir London 2009 uraufgeführt und 2012 auf CD veröffentlicht. Zu den jüngsten Werken gehören Wondrous Machine für den Multipercussionisten Martin Grubinger, Nine Moons Dark für großes Orchester. Uraufführungen 2010/11: Streichtrio The Pencil of Nature (musica viva, München), A Sphere of Ether (Young Voices of Colorado), The Angel of the East. Uraufführungen 2011/12: The Windhover (Solovioline und Orchester) für Benjamin Schmid. Korrespondierendes Mitglied des Instituts für Advanced Musical Studies King’s College London, regelmäßiger Teilnehmer an ACDA-Konferenzen. Verlegt bei: Musikverlag Hayo, Cantus Quercus Press, Schott, Josef Preissler, Tomi Berg. Email:  graham.lack@t-online.de

 

 

Übersetzt aus dem Englischen von Ursula Wagner, Frankreich