Der Päpstliche Chor der Sixtinischen Kapelle: zwischen Tradition und Moderne

Interview mit dem Chorleiter, Msgr. Massimo Palombella

Von Andrea Angelini, Chorleiter, Komponist und Chefredakteur des ICB

Andrea Angelini: Im Hinblick auf unsere Zeiten möchten wir Sie bitten, über die sakrale Musik zwischen Kultur und Liturgie zu sprechen: Welche Überlegungen und Vorschläge gibt es in Bezug auf die Situation in Italien?

Massimo Palombella: Die harmonische Verbindung von Kultur und Liturgie ist sehr interessant, denn es ist genau das, was uns das Zweite Vatikanische Konzil, die letzte große liturgische Reform der katholischen Kirche, aufgetragen hat. Die Kirche möchte, dass wir einen Dialog mit der Moderne führen und auch dasjenige in den Kanon der liturgischen Musik aufnehmen, was die musikalische Gegenwart prägt; man braucht nur an den Fortschritt zu denken, den die Musik im 20. Jahrhundert gemacht hat, nach Wagner, nach Mahler…Ich glaube, dass uns das Konzil zweierlei Dinge aufgetragen hat: Zum einen, dass man beim Komponieren für die Liturgie nicht nach hinten schauen, sondern  darauf achten soll, wo wir heute stehen; zum andern, dass wir das kulturelle Erbe der Kirche – welches der Ursprung der abendländischen Musik ist –, d.h. den gregorianischen Gesang und die Polyphonie, bewahren sollen. Während das Konzil uns dazu aufruft, den Dialog mit der Moderne zu suchen, erinnert es uns gleichzeitig daran, die semiologischen Studien, die auf diesem Gebiet gemacht wurden, nicht  zu vernachlässigen.  Aufgrund der wissenschaftlichen Arbeit, die in Solesmes geleistet wurde und die uns im Graduale Triplex[1] zur Verfügung steht, kommt es nicht mehr in Frage, den gregorianischen Gesang mit dem Liber Usualis[2] zu singen. Aufgrund der erwähnten semiologischen Studien, aufgrund der Erkenntnisse, die wir durch die wissenschaftlichen Studien zum kulturellen Erbe gewonnen haben, ist jeder, der bei Gottesdiensten die Polyphonie der Renaissance aufführt, verpflichtet, die Notation korrekt in musikalischen Klang umzusetzen. Das sind die beiden großen Aufgaben, die uns das Zweite Vatikanische Konzil mit auf den Weg gegeben hat. In dieser Hinsicht leistet die italienische Bischofskonferenz seit langem eine solide und wichtige kulturelle Arbeit, schon durch die Kodifizierung eines nationalen Gesangsrepertoriums. Auch sind Prozesse eingeleitet worden, die vielleicht nicht jeder gutheißt, der beklagt, dass „früher, ja früher…“ Aber wenn wir einen Blick in die Geschichte werfen, sehen wir, dass auch das Konzil von Trient Prozesse in Gang gesetzt hat, und wir wissen, wer diese Prozesse mitgetragen hat: Giovanni Pierluigi da Palestrina. Damals hat die Sixtinische Kapelle als erste das Konzil von Trient auf großartige Weise umgesetzt, indem sie die Texte verständlich machte. Aber unsere letzte liturgische Reform hat noch nicht den gesamten kirchlichen Raum durchdrungen, obwohl schon viele Jahre vergangen sind.  Insofern sind wir noch nah beim Zweiten Vatikanischen Konzil. Ich darf sagen, dass in Italien sehr gute Prozesse zur Verwirklichung des Konzils auf den Weg gebracht wurden, was einer langatmigen Anstrengung  bedarf, denn man muss in einer lebenden Sprache denken, wodurch man automatisch in einen kulturellen Kontext gelangt, den man erst kennenlernen muss und der es erforderlich macht, das ganze kulturelle Erbe der Kirche durchzugehen. Es handelt sich um eine lange, harte Arbeit, die eines Studiums und einer Recherche bedarf, und ich bin überzeugt, dass die italienische Kirche in dieser Hinsicht eine sehr gute Arbeit leistet.  

The choir in concert

AA: Die Welt des Chorgesangs führt oft ein Nischendasein, wird wenig geschätzt oder gar kritisiert. Wenn man an die Worte von Papst Franziskus denkt, der die Notwendigkeit betont, das Erbe der sakralen Musik aufzuwerten und es gleichzeitig mit modernen Ausdrucksformen zu bereichern: Wie kann man es schaffen, die Jugend an die sakrale Chormusik heranzuführen?

MP: Ich glaube, dass es in Bezug auf die Erziehung der Jugend ein grundlegendes Prinzip gibt: Wir müssen das lieben, was die Jugendlichen lieben, damit sie lieben, was wir lieben. In der Vergangenheit – bevor ich Chorleiter der Sixtinischen Kapelle wurde, habe ich an der Universität gearbeitet, wo ich außer meiner Lehrtätigkeit auch pastorale Arbeit als Chorleiter leistete – hatte ich nie Schwierigkeiten, mit Jugendlichen auf einem hohen kulturellen Niveau zu arbeiten. Denn ohne ein gewisses Niveau geht es nicht. Man muss in der Lage sein, das kulturelle Erbe in einer verständlichen Sprache zu vermitteln. Die Gleichung „Runter mit dem Niveau, dann habe ich mehr Zulauf“ funktioniert zum Glück nicht. Je mehr sich ein Erzieher oder Chorleiter  weiterbildet, studiert und darum bemüht ist, seine Erkenntnisse zu vermitteln, desto faszinierender der Weg. Wenn wir denken „Diese Dinge versteht keiner mehr, also lassen wir sie weg“, heißt das, dass wir uns keine Mühe mehr geben, nicht einmal die, geliebt zu werden. Um Liebe, um den Respekt für die Dinge zu kämpfen, kostet Mühe: Man muss auf der Suche bleiben und seine Urteilskraft schärfen,  was ebenfalls anstrengt (weil man leicht Fehler machen kann, wie immer, wenn man pädagogisches Neuland betritt). Insofern ist es eine Arbeit, die eine gehörige Portion Energie verlangt. Ich glaube nicht, dass es schwierig ist, die Jugend an die sakrale Musik heranzuführen, genauso wenig wie an die Kunst, an die lateinische Literatur, oder insgesamt an die Grundlagen unserer Kultur, wenn man dies in einen für sie verständlichen Zusammenhang stellt. Die Jugendlichen  sind für solche Dinge offen,  wenn wir ein gutes Verhältnis zu ihnen haben. Ohne ein solches Verhältnis geht es nicht. Es ist wichtig, die großen kulturellen Werte auf der Grundlage von Beziehungen zu vermitteln, die auf das Wachstum und das  Streben zur Wahrheit bei unseren Jugendlichen abzielen.

The beauty of the Sistine Chapel with the frescoes of Michelangelo

AA: Sprechen wir über den Knabenchor (Pueri Cantores), welcher die Gottesdienste traditionell mit seinem Gesang begleitet, und über die Rolle der Sängerschule (Schola Cantorum): Sie verschwinden immer mehr. Was tun, um ihre Präsenz zu garantieren und ihren Aktionsradius zu erweitern, nicht nur in Kirchen von größerer Bedeutung?

MP: Es gibt auch einen internationalen Verband der Pueri Cantores, deshalb müssen wir hier genau unterscheiden. Warum hat die Sixtinische Kapelle Pueri Cantores und investiert in eine mit ihr verbundene Schule, von der dritten Klasse der Grundschule bis zur dritten Klasse der Sekundarschule? Warum bestehen die Pueri Cantores nur aus Jungen und nicht aus Mädchen? Weil die sogenannte „weiße Stimme“ (voce bianca) eine Knabenstimme ist, die nicht immer gleich bleibt, sondern vor dem Stimmbruch eine Reihe von Schattierungen durchläuft, physiologisch bedingte Änderungen, die einen Reichtum an Harmonien erzeugen,  den Knabenchöre besitzen, aber kein reiner Mädchenchor. Für uns gibt es hier ein Problem kultureller Natur: Wenn wir etwas für die Deutsche Grammophon einspielen, müssen wir ein ästhetisch angemessenes Ergebnis erzielen. Ich muss mich also entweder für Falsette oder für Knaben entscheiden! Dies ist ein kulturell sehr wichtiges Feld. Ich glaube fest daran, dass die Gesangserziehung Jungen und Mädchen  eine optimale pastorale und erzieherische Grundlage gibt, denn die Disziplin, die ein gehaltvoller Chorgesang erfordert, vermittelt ihnen eine strenge, wissenschaftliche Arbeitsmethode, die sie später bei jeglicher Art von Arbeit anwenden können, auch in anderen Lebensbereichen, sowie in ihrer Rolle als Vater oder Mutter. Deshalb denke ich, dass es wichtig ist, musikalisch in Jungen und Mädchen zu investieren, weil die Musik den doppelten Aspekt hat, schön zu sein und gleichzeitig Opfer, eine kontinuierliche Anstrengung zu verlangen,  um diese Schönheit zu erreichen.  Bei diesem Prozess ist eine Art Attraktivität mit einer unvermeidlichen Anstrengung gepaart,  und er ist eminent erzieherisch in einem zarten Alter, in dem die die Begegnung mit einer präzisen Methode für das ganze restliche Leben nützlich sein kann.

Mons. Massimo Palombella and the Cappella Sistina during a rehearsal

AA: Reden wir ein wenig über den Päpstlichen Chor der Sixtinischen Kapelle, also den ältesten noch aktiven Chor der Welt. Im Lauf der Jahrhunderte hat er bis heute alle päpstlichen Liturgiereformen aktiv mitgestaltet. Wie groß ist die Verantwortung bei einer so wichtigen Rolle, und welches sind die entscheidenden Momente bei den verschiedenen Aktivitäten?

MP: Der Päpstliche Chor der Sixtinischen Kapelle hat die große Verantwortung, innerhalb der Kirche zu wirken, wie er dies im 16. Jahrhundert in Bezug auf die liturgische Reform des Konzils von Trient tat. Diese Reform konnte sich durchsetzen, weil  die Sixtinische Kapelle sie bei den päpstlichen Zeremonien unmittelbar umgesetzt hat. Wenn wir ehrlich sein wollen, müssen wir zugeben, dass das Gleiche nicht mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil passiert ist, weil Domenico Bartolucci – in diesem Jahr feiert man seinen 100. Geburtstag – als Leiter der Sixtinischen Kapelle die liturgische Reform des Zweiten Vatikanischen Konzils rundweg abgelehnt hat, wobei er sich auf unhaltbare Positionen zurückzog. Diese kulturelle Verschlossenheit hat ihm nicht einmal erlaubt, all das zur Kenntnis zu nehmen, was sich zur gleichen Zeit in der Musikwelt ereignete, also auch nicht die semiologischen Studien zum gregorianischen Gesang, die Polyphonie der Renaissance, wie überhaupt alles, was sich nach Verdi entwickelt hat. Irgendwie hörte für Bartolucci die Geschichte der Musik mit Verdi auf. In der Geschichte der Sixtinischen Kapelle war dies vielleicht ein echtes hapax legomenon[3], weil es vermutlich das erste Mal war, dass diese Institution einer Reform nicht gefolgt ist, und so war der Heilige Stuhl in gewisser Weise gezwungen, die Stelle neu zu besetzen, weil er sich einer Institution gegenübersah, die kirchlich, ästhetisch und kulturell blockierte. Mein Vorgänger, der Chorleiter Liberto, hat diese musikalische Institution aber wieder in den Rahmen der liturgischen Reform des Zweiten Vatikanischen Konzils gestellt, jedoch unter großen Schwierigkeiten, da es immer noch viele gab, die glaubten, man müsse weitermachen wie Bartolucci. Ich hatte zum Glück einen Vorgänger, der so etwas ein Puffer zwischen Bartolucci und der liturgischen Reform war, die für mich quasi etwas Normales darstellte. Ich bin Kind dieser Reform, weshalb ich fest an sie glaube, und ich glaube auch, dass sie für die alte Musik sehr nützlich sein kann, wie ich eben schon erwähnt habe, eben wegen der Verpflichtung, die semiologischen Studien einzubeziehen und mit der Moderne einen intelligenten Dialog zu führen. Der Päpstliche Chor der Sixtinischen Kapelle hat wie gesagt in erster Linie die Aufgabe, die Reformen der Kirche auf dem Gebiet der musikalischen Liturgie umzusetzen, und – nicht weniger wichtig –  die Verantwortung, ein Vorbild für die Aufführungspraxis zu sein. Die Art, wie wir den gregorianischen Gesang und die Polyphonie der Renaissance aufführen, muss in gewisser Weise exemplarisch sein, nicht weil wir mutiger wären als andere, sondern weil der Päpstliche Chor der Sixtinischen Kapelle täglich drei Stunden einem fast „monographischen“ Studium des gregorianischen Gesangs und der Polyphonie der Renaissance widmet, genauso wie die Accademia Nazionale di Santa Cecilia jeden Tag einen bestimmten symphonischen Chorgesang und das Teatro dell’Opera jeden Tag ein bestimmtes Opernrepertoire übt. Außerdem steht uns das Archiv des Päpstlichen Chors der Sixtinischen Kapelle zur Verfügung, der sogenannte Fondo Cappella Sistina in der Biblioteca Apostolica Vaticana,  das weltweit größte  musikalische Archiv für liturgische Musik des 15. bis 17. Jahrhunderts. Das ganze Repertoire ist katalogisiert, weshalb alles, was Sie zum Beispiel im Konzert von heute Abend hören werden, auf kritischen Editionen beruht, die entweder auf der Grundlage von Manuskripten oder älteren Drucken beruhen. Der Chorleiter der Sixtinischen Kapelle hat die Pflicht, diese Studien und Forschungen zu betreiben, denn wenn ich das nicht tue, bleibt zu viel Musik nur auf dem Papier. Die Pflicht zur exemplarischen Aufführungspraxis leitet sich daraus ab, dass der Chorleiter der Sixtinischen Kapelle die Möglichkeit hat, die Renaissancestimmen einzusehen und sie semiologisch-wissenschaftlich korrekt und sachbezogen zu studieren. Das heißt auch, „experimentieren“ zu können ohne die Sorge, gleich ein Mottet auf die Beine stellen und aufführen zu müssen.  Man kann in aller Ruhe eine color minor ausprobieren oder wie man am besten eine bestimmte rhetorische Figur ausführt. Von daher gesehen ist die Sixtinische Kapelle so etwas wie ein Laboratorium! Letztendlich singt die Sixtinische Kapelle bei allen Gottesdiensten, an denen der Papst teilnimmt, aber er hat darüber hinaus auch ein volles Konzertprogramm. Warum diese Konzerttätigkeit? Wir machen unsere Konzertreisen nicht wegen des Vergnügens, ein bisschen Musik zu machen, sondern vor allem,  um einen kirchlichen Auftrag zu erfüllen, nämlich den der Verkündigung des Evangeliums; jedes unserer Konzerte ist ein ästhetisches Experiment, aber alles musikalische Material geht letztlich auf den Ort zurück, wo diese Musik ihren Ausgang nahm, die Liturgie. Jedes Stück, das wir aufführen, wird immer in Bezug auf  seine historische und liturgische Bedeutung präsentiert und erläutert. Ein Konzerterlebnis des Päpstlichen Chors der Sixtinischen Kapelle ist immer eine Glaubenserfahrung, Gelegenheit für eine Begegnung mit Gott. Dies ist der einzige Grund, warum die Sixtinische Kapelle es auf sich nimmt, Konzerte zu geben.

AA: Die Sixtinische Kapelle geht immer wieder auf internationale Tourneen. Unter Ihrer Leitung hat sie damit begonnen, exklusiv für die Deutsche Grammophon aufzunehmen, und mit der CD Cantate Domino  haben Sie  2015 den Echo-Klassik-Preis gewonnen. Können Sie uns etwas über  diese Erfahrung erzählen?

MP: Nicht ich bin zur Deutschen Grammophon gegangen, sondern sie ist an mich herangetreten, weil sie festgestellt hat, dass der  Päpstliche Chor der Sixtinischen Kapelle seine Art zu singen geändert hat, d.h., er ist von einem überholten opernhaften Ausdrucksstil des ausgehenden 18. Jahrhunderts auf einen Renaissance-Gesangsstil umgestiegen, auf eine kohärente Phrasierung und die Suche nach einer starken ästhetischen Aussagekraft bei allem, was er ausführt. Er ist die älteste Institution der Welt und verfügt über ein solches Spektrum, dass die Deutsche Grammophon gewissermaßen ganz auf ihn gesetzt hat. Sie sagte, dass sie schon immer eine Zusammenarbeit mit dieser Institution angestrebt hätte, dass dies aber nie möglich gewesen sei wegen ihres sehr weit von der Renaissance-Praxis entfernten Gesangstils. Die Erfahrung einer solchen Einspielung ist sehr interessant.  Wir nehmen die Einspielungen  in der Sixtinischen Kapelle vor, da wir vielleicht die einzige Chorformation der Welt sind, welche über den kompletten ästhetischen Zugriff  zu solchen Musikaufführungen für päpstliche Zelebrationen verfügt, die  damals in der Sixtinischen Kapelle stattfanden, sie also heute mit der  präzisen dortigen Akustik durchführen können.

 

AA: Für Sie ist der philologische Diskurs offenbar sehr wichtig, sei es auf der  ästhetischen Ebene der Räumlichkeit, sei es bei der Aufführungspraxis…

MP: Ja, absolut. Aus dem Grund können wir es uns auch erlauben, für ein Label wie die Deutsche Grammophon aufzunehmen. Ich würde aber  nie bereit sein, William Byrd aufzunehmen, weil er von unserer Tongebung bzw. Klangfarbe weit entfernt ist.  Als wir für die Deutsche Grammophon zum Beispiel das Miserere von Allegri aufnehmen sollten, habe ich im Archiv der Sixtinischen Kapelle den sixtinischen Kodex 205-206, das Originalmanuskript von Allegri, gesucht und gefunden. Infolgedessen habe ich auch versucht, die Solisten räumlich so zu platzieren, dass es der Aufstellung entsprach, wie ich sie den Chroniken der päpstlichen Gottesdienste jener Zeit entnehmen konnte. Etwas für ein solches Label herzustellen, verlangt eine große wissenschaftliche, philologische und ästhetische Anstrengung.

 

AA: Darf ich Sie um einen Vergleich bitten mit dem kontrapunktischen und obertonfreien Gesangsstil, den die Engländer pflegen, zum Beispiel die Tallis Scholars, die anlässlich der umfangreichen Renovierung der Sixtinischen Kapelle dort ein Konzert gegeben haben, wo sie unter anderem auch das Miserere von Allegri gesungen haben.

MP: Was die Tallis Scholars betrifft, so stehen sie uns  in Bezug auf die ästhetische Filiation ein wenig fern, durch die einfache Tatsache, dass bei ihnen auch Frauen singen. Ich glaube, dass der Gesangsstil all dessen, was zum Singen in der Sixtinischen Kapelle geschrieben wurde, auch treu der Renaissance sein sollte. Bei dieser Technik gibt es keinen terzo registro, infolgedessen muss es ein sehr verhaltener, zugespitzter Gesang  sein, aber mit der ganzen mediterranen Wärme, zu der wir Italiener mit unserem  Gesangstil fähig sind. Ich glaube zum Beispiel – und das ist meine Überzeugung aufgrund der Manuskripte, die ich studiere -, dass die vokale Renaissancemusik voller rhetorischer Figuren ist,  die wir dann im Barock akkurat kodifiziert vorfinden. Daher wissen wir über die Aufführungspraxis viel aus der Barockzeit, dagegen wenig aus der Renaissancezeit. Ich glaube, dass die Renaissancemusik eine  Fülle rhetorischer Figuren enthält, Spannung und Entspannung, welche kontinuierliche messe di voce verlangt.  Es ist per se eine sehr farbige Musik, weswegen ich dafür halte, dass man sie in Cantus firmus-Technik singt und wie Musik aus dem Quattrocento zu behandeln hat. Ich kann verstehen, wenn man Dufay oder Despresz auf diese Weise singt, weil der Text oft ein „Vorwand“ war, um kontrapunktisch zu singen. Bei der Aufnahme von Stücken von Dufay oder Despresz haben wir gesungen, als ob wir Musikinstrumente wären, weil das die kompositorische Absicht war, das heißt, dem Text wurde keinerlei Aufmerksamkeit gewidmet. Es gibt einen großen Einschnitt, das ist der Eintritt in die Hochrenaissance, als der Text bis zu einem gewissen Grad das Fundament wird, auf dem die Musik komponiert wurde. Im Hinblick auf den Text gibt es rhetorische Figuren von Spannung und Entspannung; dem Wort und der Phrase wird eine große Spannweite gegeben. Ich glaube, dass all dies zur DNA der Musik gehört, die für die Sixtinische Kapelle, für die päpstlichen Gottesdienste, geschrieben wird. Im Übrigen genügt es,  die Gemälde Michelangelos zu bewundern, um sich darüber klar zu werden, dass die Renaissance alles andere als ein blasser  historischer Moment war. Auf jeden Fall muss alles von der ratio, von einer mächtigen Intelligenz gefiltert werden: messe di voce,  Spannung, Entspannung, colores minores, hochetus[4] Kurzum, es muss alles von einer tiefen ratio gefiltert werden, von einer profunden, fast manischen Kontrolle dessen, was für die Renaissance typisch und charakteristisch ist.

AA: Können Sie der Idee zustimmen, dass eine Aufführung in Cantus-firmus-Technik dem einzigen Zweck dient, eine andere Ästhetik auszuprobieren, allerdings mit dem Bewusstsein, sich nicht im Bereich einer philologischen Reproduktion, sondern im Kern eines andersartigen ästhetischen Vergnügens zu befinden?  

MP: Ja, in der Tat, absolut. Das kann man machen, es gibt da kein Verbot. Ich glaube aber, dass man dieser Musik damit gewissermaßen die Würze entzieht, dass sie dadurch harmonisch verarmt. Wenn dann der Chor den Text nicht genügend akzentuiert…Die Renaissance ist ein historisch charakteristischer Augenblick, weil für sie Kontrapunkt und Text gleichermaßen wichtig waren. Wenn ein Chor dem keine Aufmerksamkeit schenkt, wird die Aufführung öde.

 

AA: Man könnte entgegnen, dass auch die Musik von Arvo Pärt, die auf der Technik der tintinnabuli (glockenähnlicher Klang) aufbaut, von sehr einfacher Harmonie ist, die nicht die Aufmerksamkeit und den Gesangsstil verlangt, von denen wir gerade gesprochen haben. Hier geht es vielleicht mehr um die Suche nach dem kontemplativen Vergnügen des Kontrapunkts. Vielleicht ist es das Ziel dieser englischen Formationen, solche  andersartigen Experimente auch in die Musik der Renaissance einzuführen.

MP: Ich bin überzeugt, dass der Erfolg der englischen Gruppen in den 80er und 90er Jahren sehr darauf beruhte, dass einer, dem eine große philologische Arbeit oblag, diese nicht erledigt hat! Die Sixtinische Kapelle hat sie damals nicht wirklich gemacht. Wir haben mit der Deutschen Grammophon die Missa Papae Marcelli von Palestrina eingespielt, was unglaublich viel Arbeit war: Es gibt davon so viele Aufnahmen, dass ich mir sagte: „Entweder machen wir eine Aufnahme, die eine wirkliche Wende darstellt, oder wir nehmen nicht auf“. Es war eine enorme philologische Arbeit, weil ich auf die Edition von 1567 zurückgreifen und folglich entscheiden musste, das Agnus Dei II wegzulassen, weil es nicht von Palestrina ist. Obwohl sie sich  im Kodex 18 von Santa Maria Maggiore befindet, im Kodex 22 der Sixtinischen Kapelle, hat Palestrina sie nicht in sein zweites Buch der Messen aufgenommen, das er 1567 herausgegeben hat. Und 1599, als eine posthume Ausgabe herauskam, hat sie der Herausgeber auch nicht eingefügt, und sie schrieben Agnus Dei secundus dicitur ut supra primus. Und die colores minores, das Problem, die Takte zu überwinden, das Problem der rhetorischen Figuren, das des kohärenten tactus in der Niederschrift des Komponisten…es war eine sehr engagierte Arbeit, um ein philologisch fehlerfreies Ergebnis zu erzielen – auf der Höhe der Institution, welche die Manuskripte besitzt -, ein Produkt, das etwas Neues sagen und die Gründe dafür in dem Begleitheft der CD erklären würde; ich glaube schon, dass ein Chor ein ästhetisches Vergnügen empfinden kann, wenn er es so macht, wie Sie sagen, aber unsere Aufgabe ist es, diese Musik so auszuführen, dass sie plausibel, verifizierbar, wissenschaftlich, auch offen für Kritik, aber durchdacht und aus der Tiefe schöpfend erscheint.

 

AA: Die Musik ist die Sprache des Geistes. Ihre geheimen Strömungen vibrieren im Herzen derer, die sie singen, wie im Herzen derer, die sie hören; diese Worte sind von Kahlil Gibran. Welche Rolle kommt dabei dem Chorleiter zu? 

MP: Der Chorleiter spielt für mich eine sehr wichtige Rolle. Zunächst ist er derjenige, der studiert und forscht. Sodann muss er sich peu-à-peu immer unsichtbarer machen. Die Musik soll etwas Gemeinsames sein, nicht etwas, das geleitet wird. Das entspricht auch einer großen Tradition: Die Musik der Renaissance wurde nicht dirigiert; alle lasen in einem zentralen Buch, ohne dass jemand die Aufgabe des Dirigierens übernahm, wie wir sie heute verstehen.

Lorenzo Perosi, maestro of the Cappella Sistina between 1898 and 1956

AA: Im Markusdom gab es vermutlich jemanden, der mitten in der Apsis stand, hinter dem Altar, um die Probleme zu lösen, die sich bei einer Aufführung mit doppeltem Chor ergaben…

MP: Die Aufgabe des Chorleiters besteht darin, ein gutes Einstudieren zu gewährleisten. Aber die wirkliche Rolle des Chorleiters – und glauben Sie mir, dass die Choristen das im Nachhinein bemerken – besteht darin zu studieren, zu forschen, auch darin, dass er von den Choristen ein bisschen weniger verlangt als von sich selber; man kann von den Choristen nichts verlangen, was der Chorleiter nicht auch tut, er muss mit gutem Beispiel vorangehen. Meine Choristen müssen drei Stunden täglich selbständig und  weitere drei Stunden mit dem Chor üben. Also muss ich jeden Tag wenigstens sechs Stunden studieren, aber ich tue erheblich mehr, denn da ist ja auch noch die Forschung und vieles andere…z.B. das Problem, welche Stücke man singen soll; dazu in meinem Falle als Chorleiter das Problem, dass ich  auch komponieren muss. Der Chorleiter dieser Institution sollte meiner Meinung nach in erster Linie nicht so identifiziert werden, wie es mit Bartolucci geschah, wonach der Leiter der Sixtinischen Kapelle im Grunde „nur“ Komponist ist. Der Leiter der Sixtinischen Kapelle ist „auch“ Komponist, aber wie schon gesagt,  er hat auch die Verantwortung für das kulturelle Erbe der Kirche; folglich muss er Experte und Student der alten Musik sein und das graphisch Notierte kompetent in Klang umsetzen. In Bezug auf das Komponieren muss der Leiter   der Sixtinischen Kapelle den Blick nach vorne richten. Er muss es so machen wie Palestrina, wie Lorenzo Perosi. Letzterer hat zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Sixtinische Kapelle aus der Lage befreit, in die Domenico Mustafà sie manövriert hatte, der nur kontrapunktisch im Stile Palestrinas schrieb. Perosi hat es gewagt, nicht alla Palestrina zu schreiben, weil er tief in seiner Zeit verwurzelt war. Ich glaube also, dass der Leiter der Sixtinischen Kapelle jemand sein muss, der mit seinen Kompositionen in der Gegenwart lebt, nach Wagner, nach Mahler, und sich von allem herausfordern lässt, was in der Musik passiert. Die Kompositionsweise des Leiters  der Sixtinischen Kapelle muss einen Bezug zu der Welt haben, in der wir heute leben: Er muss für die heutigen Menschen schreiben und nicht für die der Renaissance. Meine Arbeit muss von jemand getan werden, der in seiner Zeit lebt, sich für moderne und experimentelle Musik begeistert, seine Kollegen respektiert und neugierig ist auf das, was andere komponieren und aufführen; er darf sich nicht darauf beschränken, Palestrina und die eigene Musik zu lesen. Das ist wichtig, weil der Chorleiter in der Lage sein muss, die Hörbarkeit und das Verständnis der Musik mit der Moderne zu verbinden. Ich glaube, dass dies im Moment die Herausforderung ist, der wir uns stellen müssen.

Mons. Massimo Palombella and Andrea Angelini after the interview

 

Mons. Massimo Palombella wurde am 25. Dezember 1967 in Turin geboren. Am 7. September 1996 wurde er von der Congregazione Salesiana zum Priester geweiht. Er studierte Philosophie und Theologie und promovierte in Forschung zur dogmatischen Theologie. Gleichzeitig studierte er Musik bei den Chorleitern Luigi Molfino, Valentín Miserachs Grau, Gabriele Arrigo und Alessandro Ruo Rui und erwarb ein Diplom in Chormusik und Komposition. Als Gründer und Chorleiter des Coro Interuniversitario von Rom war er von 1995 bis 2010 in der universitären Seelsorge der Diözese von Rom tätig und betreute in seiner Eigenschaft als Chorleiter alle Treffen des Heiligen Vaters mit der Cultura Universitaria.  Bis 2011 war er an der  Theologischen Fakultät der Päpstlichen Universität der Salesianer Dozent für Musik und Theologie. Am Konservatorium Guido Cantelli von Novara gibt er den zweijährigen Kurs für Spezialisierung in geistlicher Musik, liturgischer Komposition, römischer Polyphonie und Rechtsvorschriften der geistlichen Musik.  Außerdem war er Dozent für musikalische Ausdrucksformen an der Università La Sapienza von Rom und am Konservatorium von Turin, und am Päpstlichen Institut für Geistliche Musik in Urbe lehrte er Liturgie. Von 1998 bis 2010 leitete er die Zeitschrift Rivista di Musica per la Liturgia Armonia di Voci des Verlags ElleDiCi. Am 16. Oktober 2010 wurde er von Papst Benedikt XVI. zum Chorleiter des Päpstlichen Chors der Sixtinischen Kapelle ernannt, in welchem Amt er 2015 von Papst Franziskus bestätigt wurde. Als Fachberater ist er Mitglied der Consulta dell’Ufficio Liturgico Nazionale der italienischen Bischofskonferenz. Am 14. Januar 2017 wurde er von Papst Franziskus zum Berater bei der Congregazione per il Culto Divino und der disciplina dei Sacramenti ernannt. Sowohl mit dem  Coro Interuniversitario von Rom, den er bis 2011 leitete, wie mit dem Päpstlichen Chor der Sixtinischen Kapelle hat er zahlreiche Konzerte in und außerhalb Italiens gegeben und viele CDs und DVDS bei ElleDiCi, der Libreria Editrice Vaticana und der Deutschen Grammophon eingespielt. Mit letzterer gewann er den angesehenen Preis der Echo-Klassik für die CD Cantate Domino. E-Mail: info@cappellamusicalepontificia.va

 

[1] Das Graduale Triplex ist ein liturgisches Buch, welches die Messgesänge des gregorianischen Repertoires enthält. Es wurde 1979 ediert und wird im offiziellen Auftrag der katholischen Kirche von der Abtei von Solesmes immer wieder neu aufgelegt.

[2] Das Liber usualis Missae et Officii, gemeinhin Liber usualis, ist ein liturgisches Buch, das eine Sammlung gregorianischer Gesänge enthält, die nicht nur von der Römisch Katholischen Kirche benutzt werden. Die Texte der Gesänge und die Melodie werden einzig in der Quadratnotation  transkribiert. Die erste Ausgabe geht auf 1896 zurück und wurde von den Mönchen der Abtei von Solesmes bewerkstelligt. Es folgten mehrere Editionen, und nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil gab es keine weiteren Ausgaben mehr. Das Liber Usualis ist in der ganzen Welt auf Lateinisch verbreitet, auch wenn es gegenwärtig durch das aktualisiertere Graduale Triplex ersetzt wird, wo beim Repertoire, über die Quadratnotation hinaus, auch die Notation von St.Gallen und Metz umgeschrieben wird und die Auswahl der Stücke sorgfältiger ist.

[3] In der Linguistik und der Philologie ist hapax legomenon (oft auch nur hapax oder, seltener, apax; im Plural hapax legomena oder hapax legomenoi), vom Griechischen ἅπαξ λεγόμενον (hápax legómenon, “nur einmal gesagt”) eine linguistische Form (Wort oder Ausdruck), die im Rahmen eines Textes, eines Autors oder innerhalb des ganzen literarischen Systems einer Sprache nur einmal vorkommt.

[4] Vor allem in Frankreich zwischen dem 11. und 12. Jahrhundert verbreitete polyphone Technik, bei der die Stimmen durch Pausen zwischen den einzelnen Silben zerstückelt werden (wobei auch  zwischen den Stimmen nach Offbeats gesucht wird), um den Effekt des Schluchzens zu erzeugen.

 

Übersetzt aus dem Italienischen von Reinhard Kißler, Deutschland