Stimmen im Kopf

Von Aurelio Porfiri und

Astri Soemantri

 

In den letzten Jahrzehnten haben sagenhafte Durchbrüche im Bereich der Hirnforschung so manches andere Forschungsfeld revolutioniert. Heute sprechen wir daher über Neuro-Ökonomie, Neuro-Theologie, Neuro-Biologie, um nur einige wenige Beispiele zu nennen. Ebenso kann die bildende Kunst dieser Tage aus einer neurowissenschaftlichen Perspektive untersucht werden (Ramachandran & Blakeslee, 1998). Da wir nun die Vorgänge in unserem Gehirn besser verstehen, können wir auch uns selbst besser verstehen. Ein Schwerpunkt in der weiteren Forschung sollte nicht nur auf den Neurowissenschaften selbst liegen, sondern auch im Bereich der Psychologie, damit wir besser verstehen, dass der Grund, warum wir auf bestimmte Art und Weise reagieren, eine Folge der Interpretation unseres Gehirns von Kunst ist.

Musik ist also ein Teil des neurowissenschaftlichen Phänomens. Wichtige Forschung im Bereich der Wahrnehmung und Verarbeitung von Musik hilft uns, den Sinn unserer musikalischen Erfahrung zu erkennen (beginnend mit Meyer, 1961). Um die grossen wissenschaftlichen Fortschritte auf diesem Gebiet zu verdeutlichen, brauchen wir nur auf das kürzlich erschienene und sehr erfolgreiche Buch „This is your brain on music“ von Daniel J. Levitin verweisen (auf Deutsch erschienen unter dem Titel „Der Musik-Instinkt: Die Wissenschaft einer menschlichen Leidenschaft“).

Unserer Ansicht nach können diese Erkenntnisse auch auf Chormusik angewendet werden. Können neueste Ergebnisse der Hirnforschung (Neurowissenschaften und Psychologie) helfen, die Leistungen unserer Chöre zu verbessern? In unseren Augen ist dies sehr gut möglich. Bisher haben erst einige wenige Artikel (Porfiri, 2010) den Zusammenhang zwischen Neurowissenschaften und Chormusik angesprochen. Diese haben jedoch gezeigt, dass mit einer offenen Denkweise Chorleitern und Sängern Unterstützung und Material angeboten werden kann, das ihnen hilft,  ihre musikalischen Aktivitäten mehr Bedeutung und Effektivität zu geben.

Unser Begriff von Wissen ist oft sehr eng gefasst. Wissen wird häufig nur im Bezug auf ein bestimmtes Thema gesehen. So denken wir beispielsweise, dass alles, was man über Chormusik wissen muss, auch in direktem Zusammenhang mit Chor und Singen stehen muss. Weltweite Veränderungen jedoch lehren uns, Wissen als etwas Ganzheitliches zu sehen. Es gibt nur ein Wissen und viele Perspektiven darauf. Daher denken wir, dass man eine neue Fachrichtung aufbauen sollte, die wir als Neuro-Chorality bezeichnen. Dieser Begriff vereint sowohl Chorgesang als auch Gedanken zum Singen einer einzelnen Person. Alle guten Chorleiter wissen, dass sie einem Chor nicht nur als Dirigent, sondern auch als Psychologe, Manager, Geschäftsmann, Marketingspezialist, Ernährungsberater usw. vorstehen müssen. Der reine Musiker ist heutzutage schon fast zu einer mythischen Figur geworden. Auch früher hatte der oft idealisierte Musiker bereits mehr Rollen einzunehmen als allein das reine Musizieren.

Wie können wir also unseren Chorgesang noch herausragender machen im Lichte der neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse, insbesondere der der Neurowissenschaften? Glücklicherweise haben wir heute umfangreiche Ressourcen, die uns helfen uns ein besseres Bild davon zu machen, wie unser Gehirn Musik verarbeitet. So können wir uns zum Beispiel bei sehr schwierigen Chorstücken mit dem Wissen behelfen, wie das Gehirn Melodien lernt und behält. Wir müssen dabei berücksichtigen, dass unser Gehirn ein musterbildendes System ist. Für unsere Chorsänger ist nichts von vorn herein unmöglich, jedoch sollten wir mit ihnen dahingehend zusammenarbeiten, das Beste aus ihren akustischen Wahrnehmungen zu machen und ein Musikstück in Kategorien auf zu teilen (Thompson, 2009). Niemand wurde damit geboren, dass er einen bestimmten Musikstil mag oder nicht mag. Daher stellt sich um so mehr die Frage, warum Menschen in bestimmten Ländern gewisse Musikstile nicht mögen oder sie sogar lästig finden. Das liegt daran, dass ihre Gehirne gewissen akustischen Signalen keinen Sinn geben und die Menschen dadurch den Melodien oder Stücken keinen Sinn beimessen können.

Aus der Bildungsforschung wissen wir, dass das Gehirn bei neuen externen Information zunächst abfragt, ob diese wichtig für es sind und wie sie für es relevant sind (Sousa, 2006). Einige Kompositionen, von denen wir denken, dass sie wichtig sind, können also nicht wichtig sein für unsere Chorsänger. Was sollen wir dann tun? Aufgeben? Keineswegs. Wir müssen uns aber an das Lernmuster des Gehirns anpassen. In dieser Hinsicht können wir dann den Prozess der Kategorisierung eines bestimmten Musikstils unterstützen, so dass Studenten ihn nicht mehr als ungewohnt empfinden. (Kategorisierung ist der Prozess, den das Gehirn verwendet, um externe Signale zu verstehen.)

Der Umgang mit jugendlichen Sängern ist ein weiteres Anwendungsgebiet von moderner Forschung in der Chormusik. Wir wissen nur zu gut, dass man bei der Leitung eines Schulchores mit vielen Gefühlsausbrüchen konfrontiert wird: Tränen, Stimmungsschwankungen, Unvereinbarkeiten usw. (Santrock, 2008). Diese können einen Chorleiter durchaus wahnsinnig machen. Wir sollten dabei aber im Gedächtnis behalten, dass das Verhalten Heranwachsender Teil des Wachstumsprozesses ihres Gehirns ist. So spielt in diesem Alter der Mandelkern (lat.: Corpus amygdaloideum; der Sitz der Emotionen) eine große Rolle im Verhalten, da der Stirnlappen (lat.: Lobus frontalis; der Sitz des rationalen Denkens) noch nicht vollständig entwickelt ist (Papalia, Olds & Feldman, 2009). Dieses Wissen und viele andere Informationen helfen uns, mit diesen Problemen besser umzugehen und uns besser ihrer tatsächlichen Natur bewusst zu werden. Dies bedeutet jedoch auch, dass wir besser nach psychologischer Unterstützung suchen sollten, als einfach die Stimme in einer Chorprobe zu erheben. Wir wissen, dass neuste Forschungsergebnisse unsere Proben dadurch effektiver machen werden, dass wir die richtigen Farben wählen und wissen, dass Humor den Lernprozess begünstigen kann.

 

Table of the emotions
Table of the emotions

 

Dieses sind nur einige wenige Beispiele für das Potenzial dieses neuen Ansatzes für chorisches Musizieren. Neue Artikel und Forschungsergebnisse zeigen uns neue Perspektiven auf unser Gehirn und das Potenzial es besser zu nutzen und zu entwickeln für jede Art von Aktivität, so auch für Musik. Wissenschaft und Kunst zu verbinden kann zu überraschenden Resultaten führen. Dies ist keineswegs eine neue Erkenntnis. Schon im Mittelalter hat man Musik als Reflektion der übergeordneten Vollkommenheit und Ordnung betrachtet.

Viele dieser neuen Entdeckungen sind mittlerweile akzeptiert und werden im Bildungsbereich berücksichtigt. Unserer Meinung nach ist es daher höchste Zeit, diese Forschungsergebnisse auch im Chorbereich umzusetzen. Tatsächlich kennen wir viele Musikwissenschaftler, die bereits begonnen haben, Kompositionen aus dem kognitiven Prozess des Hörers heraus zu untersuchen (Marsden, 1987). Wir müssen uns bewusst machen, dass wir nicht einfach wegschauen können, wenn sich die Welt so dramatisch verändert. Wir müssen diese Herausforderung annehmen und beginnen, unsere Chorsänger nicht nur als Stimmen zu betrachten, da Stimmen das Resultat eines Prozesses im Gehirn sind. Chorleiter leiten also in erster Linie Gehirne, und je mehr sie über die Funktionsweise des Hirns wissen, um so mehr werden sie die langersehnten guten Ergebnisse erzielen können.

 

LITERATURANGABEN

  • Levitin, D.J. (2006). This is Your Brain on Music: The Science of a Human Obsession. New York, NY: Penguin Group.
  • Levitin, D. J. (2009). The world in six songs: How the musical brain created human nature. New York, NY: Penguin Group.
  • Marsden A.A. (1987). A Study of Cognitive Demands in Listening to Mozart’s Quintet for Piano and Wind Instruments, K. 452. Psychology of Music: 15, 30.
  • Meyer, L.B. (1961). Emotion and Meaning in Music. Chicago, IL: University of Chicago Press.
  • Papalia, D. E., Olds, S. W., & Feldman, R. D. (2009). Human development (11th ed.). Boston, MA: McGraw-Hill.
  • Porfiri, A. (2010). Brain for conductors. Paper presented at the Music Cognition II conference, December 3, 2010, Macau, China.
  • Ramachandran, V. S. & Blakeslee, S. (1998). Phantoms in the brain: Probing the mysteries of the human mind. New York, NY: HarperCollins Publishers.
  • Santrock, J. W. (2008). Children (10th ed.). Boston, MA: McGraw-Hill.
  • Sousa, D. A. (2006). How the brain learns (3rd ed.). Thousand Oaks, CA: Corwin Press.
  • Thompson, W. F. (2009). Music, thought, and feeling: Understanding the psychology of music. New York, NY: Oxford University Press.

 

 

Aurelio_PorfiriAurelio Porfiri ist italienischer Organist, Chorleiter und Komponist. Er ist zur Zeit Associate Professor für Musik und Koordinator des Studiengangs Musik an der University of Saint Joseph (Macau, China). Zusätzlich ist er der Direktor für Chor und zugehörige Aktivitäten an der englischen Abteilung der Santa Rosa de Lima-Schule. Außerdem ist er Gastdirigent der Fakultät Musikpädagogik am Musikkonservatorium von Shanghai (China). Aus seinem Schaffen als Komponist hat er Dutzende Psalmen, Oratorien, Hymnen, Responsorien und Motetten in Italien, Deutschland und den USA veröffentlicht. Email: aurelioporfiri@usj.edu.mo 

 

angela-astri-soemantriAngela Astri Soemantri steht in der Ausbildung zum Master in pädagogischer Psychologie. 14 Jahre ihres Lebens hat sie sich ganz dem Unterrichten von Musik gewidmet – insbesondere dem Klavierunterricht. In den letzten 10 Jahren hat sie sich dann auf das Studium von Chormusik konzentriert. Sie wirkt aktiv bei Solo- und Ensembleworkshops mit und hat an Meisterklassen teilgenommen. Die Weitergabe ihres Wissens an Mitsänger ist dabei eine ihrer Leidenschaften. Im internationalen Chorwettbewerb 2009 in Venedig (Italien) leitete sie den Monarch Orcaellanum Luminare (MOL) Chor (vormals bekannt als Orcaellae Vox Sacra) und wurde dabei mit zwei goldenen Preisen ausgezeichnet (in den Kategorien gemischter Kammerchor und Folklore). Als stolze Indonesierin hat sich Frau Soemantri der Mission verschrieben, der ganzen Welt die reiche Indonesische Kultur durch Chormusik nahe zu bringen. Email: angela.astri@gmail.com

 

Übersetzt von Sabine Schnabel, Niederlande

Edited by Anita Shaperd, USA