Auf dem Weg zur Polyphonie – Wrocɫaw (Breslau) 2016, ein Wettbewerb für junge Chordirigenten in Polen
Agnieszka Franków-Zelazny, Leiterin des Polnischen Nationalen Jugendchores und Pädagogin
2016 war ein besonderes Jahr für das kulturelle Leben in Wrocɫaw (Breslau). Zwölf Monate lang hatte diese aufgrund ihrer wechselvollen Geschichte bunte Stadt den Titel Europäische Kulturhauptstadt inne. Zur Feier dieses Anlasses wurde ein sehr reichhaltiges kulturelles und künstlerisches Programm auf die Beine gestellt, das nahezu 1000 Musikveranstaltungen in Form von rund 80 Projekten umfasste. Nicht nur weltberühmte Künstler aus dem Ausland waren zu Gastspielen eingeladen, sondern es gab auch Sonderauflagen regulärer Veranstaltungen, die in der Stadt regelmäßig stattfinden, und die der ganze Stolz der Bevölkerung von Wrocɫaw sind und deren kulturelle Identität ausmachen.
Zu den bedeutenden Musikveranstaltungen der Europäischen Kulturhauptstadt zählte der von der Karol-Lipiński-Musikakademie in Wrocɫaw organisierte Internationale Wettbewerb für junge Chordirigenten „TOWARDS POLYPHONY“ (AUF DEM WEG ZUR POLYPHONIE). Es hätte nicht anders sein können, ist das kulturelle Leben Wrocɫaws doch in hohem Maße von einer einzigartigen Chortradition geprägt! Denken wir nur an die 1825 gegründete Singakademie sowie an die zahlreichen Sing- und Gesangsvereine, dank derer die Bibliothek der Universität von Wrocław heutzutage viele Handschriften von Werken in ihrem Besitz hält, die aus der Feder von Komponisten von Vokalmusik stammen, die mit dem alten Breslau eng verbunden waren. Viele dieser Kompositionen warten noch auf ihre Erstaufführung. 1966 wurde in Wrocław das Internationale Festival „Wratislavia Cantans“ (Breslau singt) ins Leben gerufen. Es knüpft an die verschiedenen Gesangstraditionen der Stadt an und gibt seit seiner Gründung die Richtung vor, in die sich die Vokalmusik Polens entwickelt. Wrocław war auch der Ort, an dem das Projekt „Singing Wrocław“ (Singendes Breslau) zur Förderung von Schulchören im Jahre 2001 seinen Anfang nahm. Es wurde zum Pilotprojekt für das landesweite Programm „Singendes Polen“. Heute ist es Teil eines größeren Projektes des Ministeriums für Kultur und nationales Erbe mit der Bezeichnung „Chorakademie“. Dieses zielt darauf ab, Schulchöre, Dirigentinnen und Dirigenten sowie junge Sängerinnen und Sänger, die ihre Fähigkeiten mit Blick auf professionellen Ensemblegesang weiterentwickeln wollen, finanziell und pädagogisch zu unterstützen und zu fördern. Auch dieses Projekt ist in Wrocław angesiedelt und wird von dem Nationalen Forum für Musik (NFM) „Witold Lutosławski” geleitet.
Und schließlich gibt es in Wrocław noch die Karol-Lipiński-Musikakademie, die seit über 70 Jahren erfolgreich Dirigentinnen und Dirigenten, Chorleiterinnen und -leiter sowie Musikpädagoginnen und -pädagogen für die Arbeit mit Vokalensembles ausbildet. Es ist den dort ausgebildeten Dirigentinnen und Dirigenten zu verdanken, dass es in Wrocław über 80 Chöre gibt, darunter 7 professionelle Chöre, 12 akademische Chöre, 18 Gemeindechöre und über 40 Schulchöre. Unter den zahlreichen von der Akademie organisierten Aktivitäten und Veranstaltungen –zum Beispiel Meisterkurse, Workshops und Konferenzen – nimmt der Internationale Wettbewerb für Chordirigenten „TOWARDS POLYPHONY“ einen bedeutenden Platz ein. Dieser Wettbewerb wurde 1991 erstmals veranstaltet und sollte nach der ursprünglichen Idee seiner Initiatorin, Frau Prof. Zofia Ubranyi-Krasnodębska, „für Studierende eine musikalische Brücke zwischen dem Osten und dem Westen schlagen“. Die siebte Auflage dieses Wettbewerbs zeigte, wie weit seine Entwicklung innerhalb von 25 Jahren – nach den Umwälzungen in Polen, Europa und der Welt – vorangeschritten ist. Reisten die Teilnehmenden an den Wettbewerben der früheren Jahre noch mehrheitlich über die Ostgrenze Polens an, so durfte die Veranstaltung 2016 bereits Teilnehmende aus zehn Ländern begrüßen: Litauen, Russland, Rumänien, Spanien, Südkorea, Weißrussland, Ukraine, Japan, Lettland und Polen.
Die Teilnehmenden des letzten Wettbewerbs wurden von einer Jury bewertet, die sich aus erfahrenen Dirigenten/Chorleitern und Komponisten zusammensetzte: Frau Prof. Marta Kierska-Witczak – Präsidentin/Vorsitzende des Wettbewerbs, Prof. Lack, Prof. Vytautas Miśkinis, Prof. Raul Talmar und Prof. Marcin Tomczak.
Der in Wrocław veranstaltete Wettbewerb ist die einzige internationale Veranstaltung dieser Art in Polen und zieht daher die Aufmerksamkeit der ganzen Chorwelt Polens auf sich. Diese Veranstaltung wird von Studierenden genauso wie von Lehrenden besucht, aber auch von Dirigentinnen und Dirigenten, die, wenngleich nicht mehr direkt mit Musikhochschulen und -konservatorien in Beziehung stehend, aus allen Teilen Polens nach Wrocław kommen.
Das dem Wettbewerb zugrundeliegende Prinzip findet dank der Vielzahl der offerierten Möglichkeiten nach wie vor seine Umsetzung durch die einfache Formel: die Anwesenden können Teilnehmende beobachten, die verschiedene Dirigierschulen vertreten, und junge Dirigentinnen und Dirigenten können unterschiedliche künstlerische Ideen zur Wirkung bringen, während sie mit sehr guten, anpassungsfähigen und freundlichen Wettbewerbschören arbeiten. 2016 übernahmen drei akademische Chöre aus Studierenden, allesamt angehende Dirigentinnen und Dirigenten, und ein professioneller Chor die Rollen als Wettbewerbschöre. Es handelte sich hierbei um zwei Chöre der Karol-Lipiński-Musikakademie in Wrocław: den Chor ‘Feichtinum’ unter der künstlerischen Leitung von Dr. Artur Wróbel und den von Prof. Jolanta Szybalska-Matczak gegründeten und geleiteten Kammerchor ‘Senza Rigore’; den Chor der Karol-Szymanowski-Musikakademie in Katowice unter der künstlerischen Leitung von Prof. Aleksandra Paszek-Trefon sowie den Chor des Nationalen Musikforums (NFM) „Witold Lutosławski“ in Wrocław unter der Leitung von Dr. hab. Agnieszka Franków-Żelazny.
Ein Verdienst des Wettbewerbs „TOWARDS POLYPHONY“ ist zweifellos das überaus vielfältige Repertoire, das während der drei Wettbewerbsrunden zur Aufführung gelangt. In der ersten Runde der jüngsten Auflage konnten die Teilnehmenden ihr Gespür für die stilistischen Unterschiede zwischen romantischer Musik, vertreten durch die Lieder von Johannes Brahms, und früher Musik, beispielhaft vertreten durch die wichtigsten polnischen Komponisten des 17. Jahrhunderts, Mikołaj Zieleński und Bartłomiej Pękiel, unter Beweis stellen. Die zweite Runde hatte ihren Schwerpunkt auf Madrigalmusik unter dem Einfluss der Renaissance, komponiert von Morten Lauridsen und die Kurpie-Lieder von Karol Szymanowski – kunstvolle Arrangements von Volksliedern aus der Region Kurpie, eine der zahlreichen kulturell bunten und unverwechselbaren ethnischen Regionen Polens. Die dritte Runde des Wettbewerbs stellt für alle Teilnehmenden immer eine besondere Herausforderung dar, da hier Werke zeitgenössischer Komponisten im Zentrum stehen, die sich sowohl konventioneller als auch unkonventioneller Kompositionstechniken bedienen. 2016 umfassten die Wettbewerbsstücke Werke von Andrzej Koszewski, Miłosz Bembinow, Przemysław Szczotka, Perttu Haapanen, Frederik Neyrinck und Gundega Śmite.
Eine besondere Attraktion für die Teilnehmenden sind stets die Vielzahl und Vielfalt von satzungsgemäßen und nicht-satzungsgemäßen Preisen, Geldpreise eingeschlossen. Während der siebten Auflage des internationalen Dirigentenwettbewerbs „TOWARDS POLYPHONY” vergab die Jury folgende Preise:
- 1. Preis – Linas Balandis (Litauen)
- 2. Preis – Javier Fajardo (Spanien)
- 3. Preis – Izabela Polakowska-Rybska (Polen)
- Lobende Anerkennungen – Kaoru Tani (Japan), Paweł Szypulski (Polen)
- Preis für die beste Interpretation eines durch italienische Poesie inspirierten Werks: Magdalena Lipska (Polen)
- Preis für die beste Arbeit zu dem kompositorischen Werk von Karol Szymanowskis – Linas Balandis (Litauen)
- Preis für die beste Darbietung von früher Musik aus Polen – Kaoru Tani (Japan)
- Preis der Fakultät für Chorkunst und Chorleitung für die beste Interpretation von zeitgenössischer Musik – Izabela Polakowska-Rybska (Polen)
- Preis des Chores des Nationalen Forums für Musik (NFM) – ein Konzertprojekt zusammen mit dem Chor – Kaoru Tani (Japan)
- Preis des Chores der Musikakademie in Wrocław – Linas Balandis
- Preis des Chores der Musikakademie in Katowice – Izabela Polakowska-Rybska.
Betrachtet man den weiteren Werdegang der Preisträgerinnen und Preisträger früherer Wettbewerbe, so lässt sich feststellen, dass die meisten von ihnen eine Laufbahn als Berufsmusiker eingeschlagen haben und als Dirigenten tätig sind, die mit ihren Chören Erfolge erzielen und für die die Teilnahme an dem Wettbewerb ein bedeutsamer Schritt in ihrer Entwicklung darstellte. Die meisten Teilnehmenden der jüngsten Veranstaltung, wenngleich noch sehr jung, bewiesen ebenso künstlerische Reife und erwiesen sich als ihrer Sache sehr bewusste Dirigentinnen und Dirigenten, von denen eine jede und ein jeder in musikalischer Hinsicht etwas Wichtiges zu sagen weiß. Ich bin sicher, dass sie alle eine große Karriere als Dirigentin bzw. Dirigent vor sich haben.
Der wichtigste Nutzen jedoch, den der Wettbewerb mit sich brachte, ist in der Tatsache zu sehen, dass während der vier Wintertage eine Atmosphäre in der Musikakademie herrschte, die voller Emotionen war: Emotionen, die mit der Kunst des Chorgesangs in Verbindung standen. Überall war Gesang in verschiedenen Sprachen zu vernehmen, in Englisch, Deutsch, Italienisch, Polnisch und Latein. Von allen Seiten ertönten Gespräche in unterschiedlichen Sprachen zwischen Teilnehmenden und Zuhörenden. Es fand ein unschätzbarer Austausch an Erfahrungen und Meinungen statt, ein voneinander Lernen, was für die Entwicklung eines jeden Musikers von großer Bedeutung ist.
Es bereitet große Freude, an einem solch bedeutenden Ereignis teilzunehmen und Menschen zu begegnen, die die Teilnahme daran gleichermaßen wertschätzen. Es bereitet auch große Freude, Menschen zu begegnen, die ein solches Ereignis veranstalten und Entwicklungsmöglichkeiten für andere, für den Nachwuchs, schaffen wollen. Solche Chancen werden von der Karol-Lipiński-Musikakademie und dem internationalen Wettbewerb für Chorleiter „TOWARDS POLYPHONY” in Wrocław geboten.
Wir laden alle Liebhaberinnen und Liebhaber der Kunst der Chormusik weltweit ein, die nächste Ausgabe unseres Wettbewerbs im Dezember 2019 zu besuchen.
Agnieszka Franków-Żelazny studierte an der Universität in Wrocław (Diplom in Biologie 2000) und an der Musikakademie in Wrocław (Diplom in Musikpädagogik 2004, Diplom in Stimmbildung 2005). Sie absolvierte ein Aufbaustudium in Chorleitung an der Musikakademie in Wrocław. Seit Juni 2006 ist sie künstlerische Leiterin des Nationalen Forums der Musik (NFM) (vor 2013 – Philharmonischer Chor Wrocław). Von Januar bis Juli 2013 oblag ihr die künstlerische Betreuung des Polnischen Rundfunkchores und sie half dabei, das Ensemble wieder zu etablieren und ihm zum Wiedereintritt in die professionelle Szene Polens zu verhelfen. Ihre Idee, einen Polnischen Nationalen Jugendchor zu gründen, trug 2013 Früchte. Seit Anbeginn obliegt ihr die künstlerische Leitung dieses Chores. Der Nationale Jugendchor Polens wird von dem Ministerium für Kultur und nationales Erbe gefördert und von der Philharmonie Wrocławs gemanagt. Im Januar 2015 wurde sie zur Programmdirektorin des Projekts „Chorakademie“ ernannt. Zur Zeit lehrt sie als Senior Lecturer (PhD in Arts) an der Fakultät für Musikpädagogik, Chormusik und Kirchenmusik an der K.-Lipiński-Musikakademie in Wrocław. 2013 wurde sie vom Bürgermeister von Wrocław als Kuratorin für den Bereich Musik in den Kuratoriumsrat der Europäischen Kulturhauptstadt 2016 berufen. Sie ist Trägerin von über 70 Preisen und Auszeichnungen, darunter der 1. Preis beim Nationalen Chorleiter-Wettbewerb (2004), der 1. Platz beim Wettbewerb „National Student of the Year Competition Primus Inter Pares“, Provinz Niederschlesien (2004), der Wrocław Musikpreis (2010), „Personality of the Year“ 2011, die Auszeichnung „Juvenes Wratislaviae”, die von der Polnischen Akademie der Wissenschaften verliehen wird (2012), das Ehrenabzeichen „Meritorious Service to Polish Culture” für ihre Verdienste um die Polnische Kultur (2008) sowie die Bronzemedaille „Merit to Culture – Gloria Artis” für ihre Verdienste um die Kultur (2014). Ihre Erfolgsgeschichte beinhaltet über 700 Konzerte in 19 europäischen Ländern und in den USA, 12 CDs und die Aufbereitung von 600 Vokalwerken und 170 Vokal-Instrumental-Werken zur Aufführung. E-Mail: a.frankow-zelazny@wp.pl
Übersetzt aus dem Englischen von Petra Baum, Deutschland