Durch die Pandemie neue Kreativität entwickeln

 

Ki Adams, IFCM-Vizepräsident, Präsident des Fundation World Youth Choir, Gründungs-Co-Direktor des Singing Network

Es ist inzwischen nicht mehr zu übersehen, dass es in der Welt der Chöre nach der Pandemie ein ”neues Normal” geben wird. Vielen war die Chortradition vor der Pandemie vertraut, bequem und sicher, aber, wie die Zeit vielleicht zeigt, war sie in ihrer Vision und Zielsetzung möglicherweise begrenzt. Die Pandemie beschert uns ein Intermezzo mit außergewöhnlichen Möglichkeiten, wenn wir bereit sind, uns auf Veränderungen einzulassen und neue Wege und Motive für das gemeinsame Singen zu finden. Dieser Artikel stellt einige Innovationen und Experimente kanadischer Chöre und Komponisten vor, die gemeinsam kreative und phantasievolle Projekte durchgeführt haben, die ohne Covid-19 nicht denkbar gewesen wären.

 

Das Faltungshall-Projekt

Kanada, mit seinen 38 Millionen Einwohnern und der zweitgrößten Landmasse der Welt (9,98 Millionen Quadratkilometer), hat eine nationale Kultur-Service-Organisation, die sich speziell dem Bereich der Chorkunst widmet – Choral Canada/Canada Choral. In Partnerschaft mit Choral Canada/Canada Choral gibt es neun Provinz-Chorverbände in den zehn Provinzen und drei Territorien des Landes. Choir Alberta ist der Chorverband in der Provinz Alberta (Westkanada), einer Hochburg des Chorwesens unseres Landes. Während der Pandemie, als Chöre nicht die Möglichkeit hatten, sich persönlich zu treffen oder aufzutreten, wollte Choir Alberta ein Projekt organisieren, das die Gemeinschaft der Chöre in der Provinz stärkt und gleichzeitig die Grenzen herkömmlicher virtueller Chorprojekte überschreitet.

Das Faltungshall-Projekt entstand aus der neuen Pandemie-Realität, insbesondere aus der Sorge und fast panischen Angst der Chorszene, wie sie überleben würde. Der Ansatz bestand darin, zu erforschen, wie die Pandemie anstelle einer Katastrophe als Chance genutzt werden könnte. Durch die Schaffung eines neuen digitalen Chormediums bringt Reunion nicht nur Chorsänger*innen aus ganz Alberta virtuell zusammen, sondern auch den virtuellen Klang ihrerChorräume zurück, in denen sie normalerweise singen, indem es die Resonanzen von Kirchen und Konzertsälen in der ganzen Provinz simuliert.

 

Chorsänger*innen beklagen den Verlust ihrer geliebten Kunst, mit all den sozialen, kulturellen, emotionalen und selbst gesundheitlichen Vorteilen, die sie mit sich bringt, aufgrund des durch die Pandemie erzwungenen sozialen Abstands. Wir hoffen, mit Reunion etwas von der Magie des Chorgesangs virtuell wiederherstellen zu können, die den Sängern*innen  so gefehlt hat. (Jason Noble, Komponist)

An dem Projekt waren 89 Sängerinnen und Sänger aus 54 Chören in der ganzen Provinz Alberta beteiligt, und zwar sowohl mit Vorsingen als auch ohne Vorsingen – die Vielfalt der Chöre in ganz Kanada. Alle Klänge auf der Aufnahme stammen von der menschlichen Stimme. Der Komponist beschreibt den kompositorischen Prozess:

Ich habe versucht, ein Stück zu komponieren, das die Sänger*innen mit Begeisterung singen würden, mit lyrischen Melodien, üppigen Harmonien, einer Vielzahl von Texturen von zart bis mächtig und klangvoll, und einem dramatischen emotionalen Crescendo. Nachdem die Sänger*innen ihre Parts eingesungen hatten, habe ich einige der Gesangsparts verwendet, um virtuelle Klanglandschaften zu erzeugen, die nur mit elektronischer Verstärkung möglich sind. Auf diese Weise hoffen wir, die uns auferlegte Distanz in eine Möglichkeit zu verwandeln, neue Klangräume zu erkunden.

Mit Hilfe von Faltungshall, einer elektroakustischen Technik, konnte Noble die Resonanz eines Raumes für die Stimmen der Chorsänger*innen modellieren und die Stimmen in ihre eigenen Chorräume zurückführen. In einigen Abschnitten des Stücks wurde Faltungshall verwendet, um diese akustischen Räume zu simulieren. In anderen Abschnitten wird der Hall vermindert oder aufgehoben, was eine erstaunliche Intimität erzeugt, indem die Illusion von Distanz aufgehoben wird. Diese Technik ist ein wirkungsvolles Mittel, um den Text zu evozieren, angefangen bei der Zeile: Die Distanz verschwindet in Klangräumen.

Zusätzlich nahmen die Sänger*innen gesprochene und textfreie Vokalklänge auf, die digital manipuliert wurden, um naturalistische und soziale Klanglandschaften zu schaffen. Diese Klänge sollten Szenarien wachrufen, von denen viele Menschen aufgrund der eingeschränkten Reisemöglichkeiten und Aktivitäten während der Pandemie isoliert waren: einen Wald, das Meer und geselliges Beisammensein. Bei der Aufführung werden keine Bilder von Sängern*innen gezeigt, nur leere Konzerträume und natürliche Umgebungen. Das Projekt war äußerst erfolgreich, da es die Sänger*innen in ihrer akustischen Umgebung wieder sozial und musikalisch zusammenbrachte – auch wenn es ein virtuelles “Wiedersehen” war.

 

Sonic Timelapse Projekt

Sonic Timelapse Project ist ein gemeinschaftliches Chorauftragsprojekt, das aus der Überlegung heraus entstand, wie Chöre während der Pandemie Aufträge finanzieren könnten. Gegründet von Katerina Gimon, Laura Hawley und Geung Kroeker-Lee mit Unterstützung von Prairie Voices Inc. bringt dieses Projekt gemeinsame Kreativität und finanzielle Ressourcen in einer Zeit der Not zusammen, um die Schaffung von 10 neuen Werken zu finanzieren sowie die Online-Programmierung der teilnehmenden Chöre zu unterstützen.

Kroeker-Lee erklärt die Entstehungsgeschichte des Projekts:

Bei Sonic Timelapse geht es im Kern um Gemeinschaft. Die Idee hinter dem Projekt war, der kanadischen Chorgemeinschaft die Möglichkeit zu geben, auf die Auswirkungen der weltweiten Pandemie zu reagieren, indem sie sich durch neue Chorwerke ausdrücken. Uns schwebte ein kreativer Prozess vor, bei dem Komponist*innen, Dirigent*innen und Sänger*innen gleichberechtigt an diesen Werken mitwirken, weil wir der Meinung waren, dass dies ein Weg ist, authentische Ausdrucksformen unserer Gemeinschaft zu schaffen. Wir hoffen, dass dieses Projekt eine Erfahrung bietet, die unserer Kunstform und unserer Gemeinschaft die Möglichkeit gibt, zu betrauern, zu reflektieren, neue Entdeckungen zu machen und die wundervolle Komplexität des Lebens zu feiern.

Die Idee ist, neue Werke in Auftrag zu geben, die darauf basieren, wie sich die Chorsänger*innen im Laufe der Zeit während der Pandemie fühlen. Der gemeinschaftliche Prozess beinhaltet das Sammeln von Beiträgen aus der Gefühlswelt von Chorgemeinschaften in Kanada und die Verwendung dieser kreativen Reflexionen als Texte für Chorkompositionen. Gimon beschreibt das Ziel der Zusammenarbeit:

Als Komponist war es mir schon immer ein Anliegen, Sängerinnen und Sänger in den Entstehungsprozess eines neuen Werkes für ihren Chor einzubeziehen. Das Ergebnis der bewussten Einbeziehung von Sänger*innen ist die Schaffung eines neuen Werks, das sich wirklich wie das ihre anfühlt – etwas, das ihre Stimme, ihre Gefühle, ihre Zeit, ihre Ideen und ihre Schwierigkeiten repräsentiert. Während dieser Pandemie ist das meiner Meinung nach sogar noch wichtiger geworden. Die Zeiten des sozialen Abstands haben uns bewusst gemacht, wie sehr wir Verbindung wertschätzen und uns danach sehnen, durch Chor und gemeinsames Singen Teil von etwas Größerem als uns selbst zu sein. Unsere Hoffnung bei Sonic Timelapse ist, dass die Teilnehmer auch in Zeiten, in denen wir nicht gemeinsam in einem Raum singen können, genau diese Verbindung und Beziehung zu anderen spüren können.

Dieses Kollaborationsprojekt ist mit viel Flexibilität und vielen Optionen auf der Basis von neun Finanzierungsstufen konzipiert, die jeweils unterschiedliche Zugangsrechte zu digitalen Lizenzen für Auftragspartituren, Kreativitätsworkshops, kreative Reflexionen und die New Works Video Library beinhalten. Unter Verwendung eines innovativen Crowdfunding-Modells wird das Projekt eine Reihe neuer Kompositionen hervorbringen, viele davon für mehrere Stimmen in flexiblen Besetzungen. Hawley erklärt das Finanzierungsmodell:

Als ich mich Sonic Timelapse aus meiner Doppelrolle als Komponistin und Dirigentin näherte, war es mir ein besonderes Anliegen, Chören den Zugang zu neuer Musik in einem Jahr zu ermöglichen, in dem viele von ihnen verzweifelt kämpfen, ohne dabei unsere Ziele bei der Bezahlung aller beauftragten Komponisten zu gefährden. Deshalb haben wir ein Finanzierungsmodell entworfen, das es Chören finanziell erleichtern soll, neue Musik zu kaufen und sich online zu engagieren. Zum Beispiel beinhaltet die Finanzierungsstufe von $350 CAD den Zugang zu Chorsätzen von vier neuen Werken, Lerntracks, Videos, in denen jeder Komponist sein neues Stück bespricht, und drei Workshop-Sitzungen, die nach Länge und Niveau angepasst werden können. All dies hat einen Wert von $800-$1000 CAD.

Bei so vielen hilfesuchenden Chören und so vielen Einzelpersonen, die die Gemeinschaft und die Kunst unterstützen wollen, glauben wir, dass wir gemeinsam die finanziellen und kreativen Ressourcen bündeln sollten. Jede Einzelperson oder jeder Chor, der spendet oder sich anmeldet, hilft beim Aufbau einer starken Gemeinschaft, verbindet Chöre untereinander und mit Komponisten, gibt unserer gelebten Erfahrung mit der Pandemie eine Stimme, gibt Musik in die Hände von Sängern und erzeugt eine enorme kreative Kraft, eine positive Ausstrahlung in unserer Welt!

Sonic Timelapse hat zehn herausragende kanadische Komponist*innen für die Auftragswerke engagiert. Alle wurden für diesen Artikel eingeladen, ihre Gedanken über das Projekt darzulegen.

 

 

Carmen Braden

Es ist eine großartige Idee, so viele Aufträge in kurzer Zeit unter einem übergeordneten Thema zu generieren. Sie mehreren Chören gleichzeitig zugänglich zu machen, ist brillant, da es einige der Grenzen der Exklusivität im traditionellen Auftragsprozess aufhebt. Nach der Pandemie stelle ich mir eine vielschichtige Auseinandersetzung mit diesen Stücken aus dem gesamten Netzwerk von Chören und Komponisten vor, die an der ersten Generation von Sonic Timelapse beteiligt waren. Als eine Reihe von Werken, die durch die Umstände ihrer Entstehung definiert sind, werden sie in den kommenden Jahren ein faszinierendes Zeugnis der Zeit ablegen, auf die wir zurückblicken werden.

 

Deanna Edwards (Gestrin)

Sonic Timelapse trat fünf Monate nach Beginn der Pandemie in mein Leben, als klar war, dass sich die Chorwelt in einer prekären Lage befand und unklar war, was in Bezug auf Musikschaffen, Gemeinschaft und Verbindung überhaupt noch möglich sein würde. Die Inspiration aus den künstlerischen Reflexionen, die für das Projekt eingereicht wurden, gab mir ein Gefühl von dringend benötigter Hoffnung und Sinn in dieser Zeit. Ich fühlte mich inspiriert, ein Stück zu schreiben, das nicht nur meine Erfahrung mit der Pandemie thematisiert, sondern auch einige der Herausforderungen aufgreift, denen sich der Online-Chorunterricht und das Singen stellen müssen. Es ist bewegend, dass in einer Zeit solcher Ungewissheit Chorkomponisten aus ganz Kanada gemeinsam auf der gleichen “Bühne” stehen können, um Hoffnung und Ästhetik auf eine praktische und bedeutungsvolle Weise anzubieten.

 

Jeff Enns

Ich liebe die Idee von Sonic Timelapse als eine Zusammenarbeit von Ideen, Kreativen, Gönnern und Anwendern. Als Komponist ist es gut, einige Parameter zu haben, und die eingereichten Texte aus verschiedenen Quellen und von verschiedenen Personen boten eine große Vielfalt zur Auswahl. Ich denke, es ist eine großartige Idee, die Stücke unter allen beteiligten Chören aufzuteilen. Das gibt den Chören und Komponisten die Möglichkeit, mehr Aufführungen der einzelnen Stücke zu erleben.

 

Katerina Gimon

Eines der Dinge, die mich am meisten an Sonic Timelapse reizen,  ist der “Zeitraffer”-Aspekt: Jeden Monat werden zwei neue Musikstücke veröffentlicht, die jeweils auf den fortlaufend gesammelten Reflexionen der Chormusikszene basieren. Die entstehende Musik wird als “Zeitkapsel” dieses einzigartigen Moments unserer Geschichte dienen – die Schwierigkeiten, mit denen wir konfrontiert waren, wie wir Hoffnung fanden, wie es uns veränderte und wie es unsere Welt veränderte. In der Ungewissheit des Jahres 2020 war dieses Projekt ein leuchtendes Licht für mich – es hat mich inspiriert und mir in schwierigen Zeiten Hoffnung gegeben.

 

Laura Hawley

Die Arbeit mit den eingereichten Creative Reflections bedeutete eine kreative Verbindung mit all den Chorschaffenden, die diese Reflexionen eingereicht hatten. Als ich ihre Beiträge las und darüber nachdachte, wie ich diese Emotionen und Ideen vertonen könnte, hatte ich das Gefühl, dass eine Brücke zwischen uns entstand. Wenn ich jetzt mein fertiges Stück durchsinge, verbindet mich jede Phrase, jedes Wort oder jede emotionale Idee mit der Person, die diesen Moment inspiriert hat. Das war eine Seite des Projekts, die ich nicht unbedingt vorhersehen konnte – die Kraft dieses kollaborativen kreativen Prozesses, die Distanz zwischen uns zu verkürzen, und wie mich das daran erinnern würde, dass ich Teil einer Gemeinschaft bin, die das kreative Potenzial selbst in den dunkelsten Momenten zu entdecken vermag und gemeinsam daran arbeitet, es in einen Ausdruck von Kunst zu verwandeln.

 

Ryan Henwood

In einer Zeit, in der Künstler eine Schaffenspause einlegen mussten, hat mir dieses Projekt die Möglichkeit gegeben, meine Erfahrungen mit der weltweiten Pandemie zu verarbeiten und zu reflektieren. Ich wurde durch die Creative Reflections, die von Dirigent*innen aus der gesamten kanadischen Chorgemeinschaft geteilt wurden, auf Sonic Timelapse aufmerksam. Während meines Kompositionsprozesses hoffe ich, ihre einzigartigen Perspektiven mit meinen eigenen zu verweben, um die komplexen Emotionen darzustellen, die während dieser Zeit entstanden sind.

 

Shane Raman

Während der Zeit der Pandemie und des sozialen Aufruhrs bewertete ich meine Beziehung zur Chormusik als Frau mit südasiatischer Abstammung neu. In einer spezifischen Kunstform der Kultur zu arbeiten, die mein Volk kolonisiert hat, ist eine Hürde, die ich schon mehrfach übersprungen habe. Sonic Timelapse ermöglichte es mir, einige meiner Gedanken und Gefühle zu diesen Themen in ein Stück zu kanalisieren, das mehr Beachtung finden könnte. Die Ideen von Dazugehören und Diversität und die Unterstützung der Chorgemeinschaft während dieser Pandemie schienen so wichtig, dass ich die Chance ergriff, Teil dieser Gruppe kanadischer Komponisten zu werden.

 

Marie-Claire Saindon

Was für ein Projekt! Als sich im Frühjahr auf Grund der Absagen tausender Konzerte und Chorproben noch alle in Schockstarre befanden, bot Sonic Timelapse Chorsängern, Dirigenten und Komponisten bereits einen Lösungsvorschlag an, um trotz des physischen Abstandsgebots gemeinsam neue Musik zu schaffen. Natürlich wollte ich sofort auf diesen Zug aufspringen! Es ist ja auch eine tolle Herausforderung, etwas zu komponieren, das unkompliziert genug ist, in Zoom- Chorproben verstanden zu werden und gleichzeitig künstlerisch anspricht. Ich hoffe wirklich, dass dieses Modell allen internationalen Chorgemeinschaften zugutekommt, da die geringeren Kosten auch kleineren Chören Zugang zu den Aufträgen verschaffen.

 

Ben Sellick

Es ist kalt und dunkel und wir können unsere Freunde nicht sehen. Tod und Trauer werden in unangemessener, distanzierter Weise erfahren und erlitten. Die kanadische Seele schleppt sich schwer dahin. In dieser Zeit verspricht das Tauwetter mehr denn je neue Hoffnung. Sonic Timelapse handelt vom Geist kanadischer Widerstandsfähigkeit und Kreativität als Antwort auf die harten Umstände, die Not und das Elend. Aufgabe der Musik ist es, dieses globale Horrorschicksal mit einem lebendigen Schnappschuss festzuhalten, jetzt und hier. Ich habe die Hoffnung auf ein transzendentes Bild inmitten der Dunkelheit, des Kummers und des Schnees.

 

Tracy Wong

Sonic Timelapse bringt der Chorgemeinschaft auf bahnbrechende Weise neue Hoffnung, und zwar Sängern, Dirigenten, Zuhörern und Komponisten gleichermaßen. Es verlangt ein gemeinschaftliches Engagement, neue Musik zu schaffen, finanziell zusammen zu stehen und emotionalen Widerstand zu leisten, in einer Zeit, die uns zum Schweigen verurteilt. Für mich als Dirigentin, Chorsängerin, Musikerzieherin und Komponistin fühlt sich dieses Projekt an, als könnte es gerade jetzt vielschichtige Lücken bei der gemeinsamen Gestaltung musikalischer Werke füllen, und es wird dies auch nach der Pandemie tun. Sonic Timelapse befähigt uns mit Hilfe der Musik zu Hoffnung und Ausdauer.

 

 

Veritas: Wahrheit suchen, Weisheit teilen

Um während einer globalen Pandemie, die mit fake News, Enttäuschung und falschen Informationen gesättigt ist, den Begriff der Wahrheit zu erforschen, haben die Aeolian Singers (Halifax, Nova Scotia) unter dem Titel Veritas: Seeking Truth, sharing Wisdom bei kanadischen Komponistinnen musikalische Werke in Auftrag gegeben. Die drei Komponistinnen sind Frances Farrell (Nova Scotia), Marie-Claire Saindon (Quebec), und Carmen Braden (Northwest Territory) – jede aus einer anderen Region Kanadas. Die künstlerische Leitung hat Heather Fraser. Sie beschreibt die Idee für dieses Projekt wie folgt:

Wir suchen alle nach der Wahrheit in unserem Leben, und die Wahrheit zu finden, scheint immer schwerer zu werden. Das Projekt bringt zum Ausdruck, wie groß der Interpretationsspielraum für die Wahrheit ist und wie sehr unsere eigenen Gewissheiten sich von anderen unterscheiden. Wir ringen andauernd mit der Vielschichtigkeit von Schatten und Licht, dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren und der Manipulation der Wirklichkeit.

 

Bei ihrer Auftragsarbeit haben die Komponistinnen das Motiv der Wahrheit untersucht und ließen sich dabei auf sehr unterschiedliche schöpferische Pfade führen. Farrell bezieht ihre Inspiration aus der Rose als einem Symbol für die Wahrheit. Der Rosen Blütenblätter mögen eines nach dem anderen abgerissen werden, um an unerwarteten Orten neu zu erblühen. Saindon untersucht die Wahrheit auf dem Gebiet der fake News, der Impfgegner, der Verschwörungstheorien und total fingierten Technologien. Braden fordert die Zuhörer auf, die Wahrheit mit den Augen eines Kindes zu erfahren, dessen Eindrücke und Erinnerungen sich ständig wandeln und neu entstehen.

Anstatt die Auftragswerke in einem einzigen Premierenkonzert aufzuführen, präsentiert das Projekt drei Konzerte, damit die Zuhörer Gelegenheit haben, mit diesen außergewöhnlichen, kanadischen Komponistinnen jeweils einzeln zu kommunizieren. Jedes Konzert ist die Weltpremiere eines der Auftragswerke. Durch ihre Moderation bei der Vorstellung kann die Komponistin selbst über den kreativen Prozess sprechen, der ihr Werk begleitet hat. Zusammen mit dem Chor demonstriert und erklärt sie die Entstehung des Stücks. Die Zuhörer haben so die seltene Gelegenheit, direkt von den Urhebern über deren Arbeit zu erfahren, den gemeinschaftlichen Schöpfungsprozess mitzuerleben und dabei einen tiefen Einblick in die Welt des Musikschaffens zu bekommen.

Frances Farrell, composer

 

Lesen Sie hier, was eine der Komponistinnen, Frances Farrell, einerseits über ihren eigenen kreativen Prozess sagt und andererseits über den Beitrag, den das Veritas Projekt, an dem die Komponistin, der Chor und die Zuhörer beteiligt waren, geleistet hat.

Die erste Herausforderung bei der Verwirklichung des Auftrags bestand darin, ein derart breitgefächertes Themenfeld in Angriff zu nehmen: A Rose by Any Other Name (Eine Rose in jeder Bedeutung des Wortes). Ich beschloss daher, drei Sätze zu schreiben, um die Wahrheit aus mehreren Gesichtspunkten heraus zu reflektieren. Eine vorläufige Auswahl von Gedichten brachte mich auf Anne Brontes Zitat: „Denn wer nicht wagt, die Dornen zu ergreifen, soll auch die Rose nicht begehren”. Ich spielte mit der Rose als einem Symbol für die Wahrheit, durch das die drei Sätze von Eine Rose in jeder Bedeutung miteinander verbunden werden sollten. Als ich die letzte Strophe von Hilda Doolittles (H.D) Gedicht Nacht las, war ich fasziniert von der Vorstellung fallender Rosenblätter, die nur die kahle Blütenkrone in der Mitte zurücklassen. Beim Lesen des Gedichts kam mir eine Arie von Händel in den Sinn. Die Wahrheit scheint mir heute ein ziemlich archaisches Konstrukt zu sein, und ich beschloss, diese Vorstellung mit einem archaischen, aber sehr beliebten Musikstil, dem Barock, in Verbindung zu setzen, was zu einem langsamen und stetigen Abschied von der Wahrheit führt. Dies legt auch der Titel dieses ersten Satzes – Elegie – nahe.

Ein Bild in einem Gedicht von Tupac Shakur regte mich zum zweiten Satz meines Werks an, das Bild einer aus Beton wachsenden Rose. Die Unmöglichkeit dieses Bildes reizte mich und, als ich länger darüber nachdachte, schuf die Vorstellung, in der eigenen Wahrheit zu bleiben, an sich selbst zu glauben, wenn auch sonst niemand mehr an einen glaubt, die musikalische Substanz dieses Satzes.

Die musikalische Idee zum letzten Satz meiner Suite Frauen sind keine Rosen kam mir durch ein Gedicht gleichen Namens. In ihrem Gedicht hinterfragt die berühmte Dichterin Ana Castillo die Art und Weise, mit der Frauen stereotyp beschrieben und katalogisiert werden, wobei die Wahrheit darüber, wer wir in Wirklichkeit sind, bewusst übersehen wird. Musikalisch wollte ich die Vorstellung von der vorenthaltenen Definition der Frau dadurch reflektieren, dass ich die Melodien hin und her schickte, so dass sie nicht an einem Platz blieben; dies geschah durch Tempowechsel, unorthodoxe Melodien und kurzzeitige Wechsel der Tonart, was abrupte Änderungen der musikalischen Idee bewirkte. Dieser Satz ist wirklich eine bewegliche Zielvorgabe von Kriterien.

In dieser Pandemiezeit scheint die Chormusik selbst eine bewegliche Zielvorgabe zu sein. Jede von uns ist aufgefordert, möglichst alle Parameter der Chormusik zu untersuchen. Das Veritas Projekt deutet darauf hin, dass in Zeiten der Verunsicherung echte Neuerungen eingeführt werden können. Dass das Projekt unter den bestehenden Covid Restriktionen überhaupt begonnen wurde, deutet auf die Entschlossenheit von Heather Fraser, der künstlerischen Leiterin, und der Aeolian Singers hin. Aber auch ganz abgesehen von Covid unterstreicht das Veritas Projekt die Rolle, die ein zeitgenössischer Komponist bei der Förderung von Chormusik zu spielen vermag.

Hinter den Kulissen stattfindende Vorarbeiten haben sich offensichtlich auch in vielen anderen Kunstformen als Krampen (Heftklammern) herausgestellt, wie sich bei Interviews mit Schauspielern, Filmregisseuren, Autoren und Songwritern zeigt. Sie geben den Künstlern über ihre Kreationen hinaus eine Stimme.

In der Welt der Chormusik, und ich spreche hier ganz allgemein, wird die Stimme des Komponisten auf Hinweise im Konzertprogramm oder ein paar kurze Bemerkungen des Dirigenten degradiert. Dies ist natürlich bei Komponisten, die nicht mehr am Leben sind, unvermeidlich. Man könnte natürlich auch sagen, dass bereits die Aufführung eines Musikwerkes dem Komponisten eine Stimme gibt. Aber stellen Sie sich vor, wie der Erfahrungswert der Aufführenden und der Zuhörer gesteigert würde, wenn sie die Gelegenheit bekämen, mit dem Komponisten selbst zu sprechen? Wenn die Komponisten eingeladen würden, mit den Chormitgliedern und dem Dirigenten zusammenzuarbeiten und ihre Vorstellung des Werks mit ihnen zu teilen? Wenn der Komponist aufgefordert würde, über den Entstehungsprozess seines Werks und seine besonderen kompositorischen Wesensmerkmale mit dem Publikum zu sprechen?

Das Veritas Projekt könnte als Vorbild für ein Chorkonzert dienen, bei dem die Interaktion zwischen Aufführenden, Zuhörern und Komponisten aufgewertet wird und somit neue Antworten auf die alten Sorgen um die Erhaltung und Vergrößerung einer Zuhörerschaft gefunden werden. Darüber hinaus würde die Einladung, den Komponisten zu hören, das Gleichgewicht zwischen dem Entstehungsprozess und dem fertigen Produkt verbessern, den Ansichten des Komponisten einen höheren Stellenwert verschaffen und gleichzeitig dazu beitragen, die Stimmen der Chorsänger und Dirigenten in ihrer gemeinsamen Rolle als Vermittler der Kunst zu stärken. Die Wahrheit ist, dass Projekte wie das Veritas Projekt uns einen Weg aufzeigen in die Welt der Chormusik, durch diese schwierige Zeit und darüber hinaus.

 

Aeolian Singers

 

Ein Hoffnungsschimmer kommt zurück

Shawn Kirchner

Im Juni 2020, als sich die Überzeugung durchzusetzen begann, dass durch die Pandemie eine ganze Chorsaison verloren gehen würde, meldete sich Ofer dal Lal, der künstlerische Direktor der Gruppe Women Sing (Orinda, California, USA), bei Morna Edmundson, der künstlerischen Leiterin der Gruppe Elektra Women’s Choir (Vancouver, British Columbia, Kanada) und schlug ihr vor, eine gemeinsame Aufführung von Shawn Kirchners: The Light of Hope Returning vorzubereiten, was eine internationale Zusammenarbeit ihrer beiden Chöre voraussetzte.

 

Edmundson sagt dazu:

Da der Auftrag des Frauenchors Elektra unter anderem darin besteht, Musikstücke für Oberstimmenchöre zu finden, und weil größere Werke für unsere Stimmlage so selten sind, stürzte ich mich auf die Gelegenheit, das Werk kennenzulernen und den Vorschlag meines amerikanischen Kollegen zu unterstützen. Auf Grund der Reisebeschränkungen zwischen Kanada und den USA war uns von vornherein klar, dass wir die Aufführung getrennt aufzeichnen mussten. Bereits frühzeitig während der Planung beschlossen wir, dass dieses virtuelle Chorprojekt mit einer Animation versehen werden sollte. Mit der Arbeit des syrisch-amerikanischen bildenden Künstlers Kevork Mourad, der mit klassischen Musikern, wie La Master Chorale und Yo-Yo Ma zusammenarbeitet, machte uns Kirchner bekannt. Wir fanden es sehr reizvoll, unsere beiden Kunstformen zusammen zu bringen.

 

The Light and Hope Returning ist eine abendfüllende ”Volkslieder-Feierstunde”, die eine Reihe von Kirchners beliebtesten Weihnachtsliederarrangements mit neu geschriebenen Chören zu Weihnachts-, Wintersonnwend- und Neujahrsthemen verbindet. Zusammen ergeben die Choräle einen dramatischen Bogen, der den Hörer auf eine Reise mitnimmt, die in der weit entfernten Hoffnung beginnt und durch die Dunkelheit bis zur Wiedergeburt des Lichts und die wahre Hoffnung auf die Zukunft führt.

Die kanadische Sopranistin Alison Girvan und Mitglieder des San Francisco Opera Orchesters beteiligten sich an dem Projekt, bei dem auch verschiedene Texte von Susan Cooper gelesen wurden.

 

Kevork Mourad

 

Die thematischen Aspekte dieser Arbeit passen, wenngleich zeitlos, sehr gut zu den augenblicklichen Beschränkungen, denen wir alle während der Pandemie ausgesetzt sind. Indem das Virus das Leben vieler Menschen bedroht und uns von der Wärme trennt, die wir uns gegenseitig nicht mehr geben können, hat Covid 19 die Welt gleichsam in einen Winterschlaf versetzt. Als ein Gegengift zu Hoffnungslosigkeit in schweren Zeiten spiegelt diese internationale Multimedia-Zusammenarbeit auf ergreifende Weise den augenblicklichen Zustand globaler Unsicherheit wider und vertraut gleichzeitig auf den Zyklus der Jahreszeiten und auf die Hoffnung, die letztendlich mit dem Licht zurückkommt. Wir werden noch oft zusammen singen!

 

Elektra Women’s Choir

 

Auf die Zukunft…

Allzu oft versuchen Organisationen Mittel und Wege zu finden, sich von anderen Organisationen zu unterscheiden, seien es Chöre, Festivals oder Einrichtungen, die andere heimische Kunstformen betreuen. Wir verstehen uns eher als Wettbewerber als dass wir zusammenarbeiten. Die Pandemie hat nun gezeigt, dass die Kunst der Chormusik am Ende nur dann überlebt und wieder blüht, wenn wir uns gegenseitig helfen und unterstützen. Nicht nur die Sänger, die sich gerade nicht treffen und miteinander singen können, sollen sich zusammentun. Es gilt vielmehr auf allen Ebenen der Chorarbeit: sich miteinander in Verbindung setzen und zusammenarbeiten.

Nie hätten wir uns vorstellen können, dass der Auslöser für die Freischaltung von Kreativität, wie bei den vier besprochenen Projekten, eine Pandemie sein könnte, die unsere Art zu leben fundamental verändert hat. Wir werden niemals zu unserem alten Lebensstil zurückkehren. Zusammen werden wir die Kommunikation und die Zusammenarbeit der Chorgemeinschaft neu erfinden. Wir sind zweifellos alle auf einem neuen gemeinsamen Weg unterwegs.

Ich werde nicht dem Pfad folgen, sondern ich werde da gehen, wo kein Pfad ist, und ich werde eine neue Spur legen (Muriel Strode, 1903)

Die Herausforderung für uns alle besteht darin, eine neue Spur zu legen, statt einem eingetretenen Pfad zu folgen.

 

Übersetzt aus dem Englischen von Wolfgang Saus, Deutschland und Silke Klemm, Belgien

 

Ki Adams stammt aus Birmingham, Alabama (USA) und hat eine Ehrenprofessur an der Memorial University von Neufundland (Kanada) inne, wo er 25 Jahre lang Musik lehrte und Education-Programme durchführte. Zur Zeit ist er Vorstandsmitglied der IFCM und Präsident der World Youth Choir Foundation und ist Co-Gründungsdirektor von The Singing Network, einem Kollektiv, das etliche Gelegenheiten für Gesang und Chorgesang schafft, wobei die Bandbreite von Workshops, Seminaren, Meisterklassen bis hin zu Gesprächen beim International Symposium on Singing and Song reicht. E-Mail: kiadams@mun.ca