Das Requiem (1605) von Tomás Luis de Victoria, eins der anerkannten Meisterwerke der Renaissance-Polyphonie
Bruno Turner, Chorleiter und Musikwissenschaftler
Die Veröffentlichung des Officium defunctorum aus dem Jahr 1605 von Tomás Luis de Victoria enthält seine zweite Totenmesse, geschrieben für einen sechsstimmigen Chor. Diese Komposition, die meist nur unter der Bezeichnung Victorias Requiem bekannt ist, wird als eines seiner besten und als eins der letzten großen Werke im, wie wir es heute nennen, Stil der Renaissance-Polyphonie angesehen. Die verfeinerte und würdevolle Strenge des Requiems wird von stürmischer Überzeugung durchwoben; es glüht innerhalb einer musikalischen und spirituellen Atmosphäre von Abgeklärtheit und Eignung für eine liturgische Bestimmung. Man muss es aber erst einmal erklären.
In den letzten etwa zwanzig Jahren, die der Komponist Tomás Luis de Victoria in Rom verbrachte, verfasste und publizierte dieser spanische Mönch aus Avila im Jahr 1583 ein Buch mit Messen, das eine vierstimmige Missa pro defunctis enthält. Dieses erste Requiem wurde später noch einmal publiziert, im Jahr 1592. Zu der Zeit war Victoria als Chorleiter und Hofkaplan der Kaiserwitwe Maria angestellt, der Schwester von Philip II. und Witwe von Maximilian II. , die sich jetzt auf ihrem Alterssitz beim Königlichen Konvent der Barfüßernonnen von Santa Clara de la Cruz in Madrid aufhielt. Prinzessin Margaret, Tochter von Maria, wurde 1584 mit feierlichem Gelübde eingeführt und war dann eine der dreiunddreißig Nonnen im Kloster, deren täglicher Gottesdienst, die Liturgie des Stundengebets, musikalisch von zwölf singenden Priestern und vier Knaben ausgeführt wurde (nach 1600 auf sechs erweitert).
Am 26. Februar 1603 starb die Kaiserin und wurde drei Tage darauf im Frauenkloster begraben. Die Gottesdienste dafür waren wahrscheinlich verhältnismäßig schlicht. Die großen Trauerfeierlichkeiten wurden dann am 22. und 23. April abgehalten. Diese fanden in der Kirche St. Peter und St. Paul statt (am Platz, wo sich heute die Kathedrale von Madrid befindet). Die Klosterkapelle wäre viel zu klein gewesen für solch einen Trauergottesdienst. Eine Vesper zur Totenfeier wurde gesungen; dann folgte in den frühen Morgenstunden eine Totenmette, deren erste Nocturn mit dem Lateinischen „Dirige, Domine“ beginnt. Nach dem Absingen der Lauden wurde die Missa pro defunctis zelebriert, die feierliche Hohe Totenmesse. Der Katafalk (die Totenbahre), der die Kaiserin Maria in ihrem Sarg darstellte, stand zwischen Chor und Hochaltar. König Philipp III. war in seiner schwarz-silbernen Trauerkleidung anwesend, seine Kusine Margaret (die königliche Nonne), alle kirchlichen und staatlichen Würdenträger – zu einer Szene zusammengefasst, die uns heute an ein El Greco-Gemälde erinnern würde – alle versammelt, Zeugen einer alten katholischen Tradition zu sein, des Requiems.
Zu diesem Anlass schrieb der Komponist Victoria sein zweites Requiem, oder, wie er es selber korrekt nannte, die „Totenmesse“ (Officio defunctorum). Er komponierte Musik für die eigentliche Messe, eine Begräbnismotette zusätzlich zu der genauen Abfolge der Messe, und einen der großen lateinischen Texte für die Zeremonie der Absolution, die der Messe folgt, sowie eine Lectio, die zur Frühmesse gehört.
Zwei Jahre später veröffentlichte Victoria diese Komposition [Madrid, Königliche Druckerei 1605], und sie wurde verehrt und bestaunt, weil sie irgendwie ein Requiem für eine ganze Epoche zu sein scheint – das Ende des Spanischen Goldenen Zeitalters, das Ende der Renaissance-Musik, und tatsächlich das letzte Werk von Victoria selbst. Zumindest publizierte er fortan nichts mehr.
Man hat gesagt, dass dies Victorias Schwanengesang ist; aber in seiner Zueignung an Prinzessin Margaret wird es klar, dass sich der Begriff Cygneam Cantinem auf die Kaiserin selbst bezieht. Victoria hätte 1603 oder 1605 kaum wissen können, dass er 1611 im Alter von nur 63 Jahren sterben würde. Die Widmung im Titelblatt des Druckes von 1605 stellt jedenfalls eindeutig fest, dass er, Victoria, diese Musik für die „Obsequien Ihrer sehr verehrten Mutter“ geschrieben hat.
Die Musik der Messe, die von Victoria mit den zugehörigen gregorianischen Einleitungen und den zeitgenössischen Melodien geliefert wurde, ist für sechsstimmigen Chor geschrieben, mit geteiltem Sopran, Alt, zweifachem Tenor und Bass. Die gregorianischen Melodien erscheinen in der mehrstimmigen Komposition wieder im zweiten Sopran (außer im Offertorium, wo sie sich im Alt befinden). Der erste Sopran schwebt über und unter dem sich langsam entfaltenden paraphrasierten gregorianischen Gesang und gibt dem ganzen Aufbau eine herrliche Leuchtkraft. Die Verwendung von zwei Tenorpartien verstärkt die Leichtigkeit und Klarheit. Sogar die einleitende Gregorianik und die Verse sind deutlich dafür geschrieben, von den Knabensopranen angestimmt zu werden. Die sechsstimmige Klangpracht, mit der Victoria sein Kyrie eleison vorstellt, wird abgelöst durch sein kurzes Christe mit nur den vier obersten Stimmen, in einer so traurigen Stimmung, dass es wie ritualisiertes Weinen in Musik scheint.
Nach dem Ende der Messe fährt Victoria mit der Motette Versa est in luctum fort und man kann sich vorstellen, dass sie gesungen wurde, während sich die Geistlichkeit und die Würdenträger um den Katafalk versammelten (der die Kaiserin versinnbildlichte). Die Responsorien schrieb er für den weihevollen Anlass.
Die vollständige Partitur von CPDL kann man kostenlos herunterladen
Bruno Turner (* 1931) ist ein freischaffender Chordirigent und Musikwissenschaftler, der sich auf spanische Polyphonie des 16. Jahrhunderts spezialisiert. Als Dirigent war er zunächst Kirchenmusikdirektor von 1952 bis 1973; Leiter von Pro Musica Sacra (1956-1964). Er dirigierte häufig Pro Cantione Antiqua (1968-2007) und Coro Cappella (1977-1984). Mit Martyn Imrie gründete er 1977 den Verlag Mapa Mundi, der sich der Veröffentlichung iberischer geistlicher Musik widmet. Als Ehrenpräsident der Renaissance Singers war er Präsident der Plainsong and Medieval Music Society (die 1888 gegründet wurde) und ist Mitglied des Herausgebergremiums der Zeitschrift Plainsong & Medieval Music (Cambridge University Press). Turner war regelmäßiger Teilnehmer an Gesprächsrunden bei Sendungen von BBC Third Programme in den 60er und 70er Jahren. In den 1950er Jahren wurde er sehr von Michael Howard [1922-2002, ein wichtiger früher Vertreter der Entwicklung der Alten Musik in Großbritannien] und den Renaissance Singers beeinflusst. Als Herausgeber hat er viel von Denis Stevens, Thurston Dart und Frank Harrison gelernt. Das erste von der BBC übertragene Rundfunkkonzert unter Bruno Turner fand im Jahr 1958 statt (Musik des Eton Choir Book), seine erste LP enthielt die Missa Gloria tibi Trinitas von John Taverner (1962, Disques Lumen – Schwann). Bruno Turner entwarf und dirigierte etwa sechzig LP- und CD-Aufnahmen für die Archiv Produktion der DGG (The Flowering of Renaissance Polyphony), Das Alte Werk der Teldec (hervorzuheben El Siglo de Oro); deutsche harmonia mundi; Hyperion, und viele andere. Schallplattenpreise für PCA sind u.a. ein Deutscher Schallplattenpreis (1978) und ein Edison-Preis (1979). Vor kurzem verlieh das spanische Kulturministerium ihm die Medalla de Oro al Mérito en las Belles Artes (Goldmedaille für Verdienste in den Schönen Künsten); sie wurde ihm im Dezember 2015 vom spanischen Königspaar in Sevilla überreicht.
Übersetzt aus dem Englischen: Klaus L Neumann, Deutschland