Die Stimme der Natur und des Menschen

By Giacomo Monica, Chorleiter und Lehrender

1. Die Schönheit einer harmonischen Ästhetik

Ein möglicher Dialog zwischen dem Klang der Steine (Stimme der Natur) und der menschlichen Stimme (im Chor)

Spontan erhebt sich eine Frage: warum sollte man über eine Skulptur sprechen in einem auf Musik spezialisierten Heft wie dem ICB, das sich mit verschiedenen Gattungen, Stilen und darauffolgenden Interpretationen beschäftigt, mit Aufführungspraxis und Vorschlägen, mit der Einzigartigkeit, Komponisten und vergessene oder zumindest selten aufgeführte Kompositionen wiederzuentdecken – oder sich Themen gegenübersieht, die Instrumente, Chöre, die Stimme oder die sie flankierenden Hilfethemen betreffen?

Wenn der Kern von allem (in weiterem Sinne) die Stimme ist, und die Stimme Klang, dann kann man auch nach der Herkunft des Klangs fragen, wie er entstand, welche Materie er ausstrahlt, welche Eigenart er hat, welche die mitschwingenden Räume sind, welches die Ausdruckskraft ist, und so weiter.

Mit den Klangskulpturen von Pinuccio Sciola betritt man eine alte Welt, gleichzeitig magisch und real; in ihnen erkennen wir sehr gut die Idee, die jedem Musiker zu eigen ist, dass Klang aus der Stille entsteht. Genauso, als Vermischung von Gedanken, führt uns unser Verstand zurück zum Titel des Chorbuchs von Fosco Corti Atem ist bereits Singen, oder zu den Thesen von Yehudi Menuhin in Musik und inneres Leben.

Der Klang lebte seit Urzeiten, bevor er im Menschen, seinen Stimmbändern auftauchte, vor der Geburt des Lichtes im Stein … (sagt der Bildhauer). Es ist wundervoll, nicht utopisch, zu denken, dass der Klang in allem ist, bei Menschen und im Stein, und dass dies die Seele des Mysteriums ist. Nicht eingesperrt oder erstickt, im Gegenteil, befreit führt uns der Klang zu einem Dialog mit uns selber, welcher Art er auch sein möge.

Es ist nicht undenkbar, dass zeitgenössische Komponisten, deren erfindungsreiche Ausdrucksweisen ständig auf Erkundung sind, sinnvolle Lösungen finden können, die sich bei Pinuccio Sciolas Klangskulpturen nicht mit „Klangmobiliar“ abfinden, sondern sie als eine bedeutsame Ursprache empfinden, die in einem direkten Weg erläutert werden kann und eine Notwendigkeit für einen Dialog zwischen dem Element Naturstein und dem Klang der Singstimme des Menschen wird.

Fähig zu sein, die Künste in beiden zu vereinigen, die mentalen Grenzen zu durchbrechen, die zu leicht aufgerichtet werden, um den Weg von der einen zu der anderen Disziplin zu behindern, heißt, den ersten Schritt auf das Verständnis der Kunst selbst gehen – das ist, sicherzustellen, dass in diesem Fall Polyphonie und Lithophonie (Stimme – Stein) sich als komplementär und ausgleichend zeigen, wie es üblich ist zwischen Schauspielerei und Gesang.

Die Stimme zwischen Natur und Mensch, zwischen Atem und Singen, zwischen Materie und Seele, zwischen Technik und Künsten bleibt das Sein von allem.

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2. Die Bedeutung der Kompositions-Forschung im Dialog mit der Stimme

Wie die Skulpturen zu interpretieren und zu spielen sind

Aus diesem Grund bin ich der Meinung, dass man bei den Klangskulpturen von Pinuccio Sciola nicht vorgeben sollte, eine Komposition zu erfinden (verschiedene Komponisten haben sich in dieser Beziehung versucht und experimentiert); dies sind lebende Plastiken, die man im wahrsten Sinn des Wortes zu interpretieren lernen muss. Jede spricht eine andere Sprache in Beziehung zu den physischen Eigenheiten des Klanges: Tonhöhe, Stärke, Timbre. In Beziehung auf die Form: Form, Größe, Gewicht, Zwischenräume, das Format der Steinketten, in der Tiefe der Einschnitte oder nicht, und je nach der Art des Anschlags.

Die Komposition steckt bereits innerhalb des Steins, der seine eigene Sprache spricht. Alles hat einen eigenen Startcode, der zu Ausdruckszwecken genutzt werden kann, und in der Matrix findet sich bereits ein vorgeformtes Skelett, das die interpretatorischen Lösungen suggeriert – unter der Bedingung, dass es dort bereits das Verlangen und die Beschäftigung mit einem tiefen Lauschen gibt, meditativ, um den Klang besser herauszubringen und wieder vorzuschlagen. Jahrhunderte der Geschichte haben uns wunderbare dreidimensionale Statuen gegeben, die uns auch heute noch verzaubern. In einer uns ganz nahestehenden Vergangenheit wurden Künstler an beweglichen Skulpturen gemessen, die vier Dimensionen schufen; einige Skulpturen schaffen mechanische Geräusche, fallen in das Experimentalfeld mit fünf Dimensionen. Pinuccio Sciola ging darüber hinaus und schuf eine sechsdimensionale Skulptur, die verzaubert, weil der Stein singt.

In der Analyse der Komposition wird es offenbar, dass keine Hindernisse zwischen den Schwingungen des Steins und den Stimmklängen aufgerichtet werden, so dass die Forschung eindeutig auf diese Idee von Austausch und Ausgleich stößt. Die „eingesperrte“ menschliche Stimme kann ein Kontrapunkt zu den vom Stein befreiten Klängen werden im stetigen Hin und Her zwischen dem gesungenen Wort und dem Klang. Die Stimme der Natur erzeugt in genauer Übereinstimmung mit der menschlichen Stimme eine Art Ursymbiose, die erweckt und animiert werden kann.

Nachdem das Kunstwerk von der Hand des Bildhauers in Kalkstein oder Basalt geschaffen wurde, bleibt dem Musiker die sensible Aufgabe der Interpretation des Ergebnisses, so dass die Skulpturen sich untereinander mitteilen oder sich mit der menschlichen Stimme verbinden. Indem ich die Schönheit dieser neuen Ausdrucksquelle vorschlage, eröffnet sich mir eine Quelle tiefen Interesses mich mitzuteilen: nicht aus dem Grund einfacher und oberflächlicher Neugier, einem Überraschungs- oder noch schlimmer dramatischem Effekt, sondern aus Einsicht in den Pulsschlag einer neuen Dimension, die größeren Wert und Wesen besitzt, nicht nur formal und ästhetisch, sondern vor allem lebendig, empfindlich, ätherisch und vibrierend.

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3. Zwei Kompositionsbeispiele

Klangprofile (mit einem Text von Yehudi Menuhin)

Verknüpfung von Klängen in ihrer mystischen Farbe

Länge etwa 4 Minuten

Aus den Kalkstein-Skulpturen tauchen nacheinander monodische Linien auf, wie kurze gregorianische Tonfolgen, die sowohl mit dem gewollten Schnitt der Steine in Bezug auf ihre Gestalt, auf ihre Ästhetik, Tiefe und Dicke vom Künstler bestimmt werden, ebenso wie die Gestaltung des Gegenstandes mit seinen mehr oder weniger verdichteten und sedimentierten Elementen. Die klangliche Seele der Sache mit ihrer Einzigartigkeit (jede Plastik enthält eine Art von genetischem Code mit Musiknoten, einzigartig und unveränderlich) teilt sich mit ihren Stärken und Beschränkungen dem Musiker mit, der nach einem schöpferischen Pfad sucht. Die Steinplatten, einmal angeschlagen, senden Töne aus, Klangfarben und Stimmungen, bis an die Grenze des Hörbaren, die in der Stille schweben können und zu uns sprechen.

Aus der Stille gebiert sich der Klang und wird hörbar. Die Gliederung des Stücks geschieht in vier kurzen Perioden (an einer Skulptur mit dem Bogen angestrichen und aufblühend mit ergänzenden Klängen der Reflektion von den anderen Skulpturen); sie alle werden von einer kurzen Lesung über den Wert der Stille eingeleitet, Ergebnis von Gedanken des großen Geigers, ausführenden Künstlers und Lehrers Yehudi Menuhin.

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Der Wert der Stille (aus Musik und inneres Leben)

Yehudi Menuhin

Stille. Einen Musiker bitten, etwas zu sagen, das offensichtlich das Gegenteil dessen ist, was er vorstellt, mag unsinnig erscheinen oder zumindest paradox. Aber lassen Sie mich Ihnen erklären, was die Stille für mich als Musiker bedeutet.

Diese so schöne Kirche ist ein Beispiel für Frieden und erlaubt uns, die tiefe Bedeutung dieses Wortes zu ergründen. Ist Stille nicht vielleicht „das tiefe Wesen dessen, was wir erhoffen, von allem, das noch nicht erfüllt worden ist“? In dieser furchtbar überfüllten Welt wurde Stille abwesend, in der Leere versuchen wir Raum zu schaffen mit Gerede statt mit gehaltvollem Sprechen, mit etwas Tieferem, zum Beispiel mit Glauben. Und was unerfüllt ist, ist es nicht eine süße kleine Stimme, die wir in dem schrecklichen Geräusch nicht mehr erkennen können, das unser Leben umgibt?

Die Stille ist ohne Unruhe, ist nicht Leere, ist Klarheit, aber nicht Farblosigkeit. Sie ist Rhythmus wie derjenige, der von einem gesunden Herzen ausgedrückt wird. Sie ist die Basis jeden Gedankens, jeder wirklichen Schöpferkraft. Aus der Stille kommt alles, was lebt und bleibt; wer die Stille im Inneren behält, kann dem äußeren Geräusch unbewegt begegnen, denn Stille verbindet uns mit dem Universum, der Ewigkeit. Sie ist die wirkliche Wurzel des Daseins und gibt dem Leben Ausgewogenheit. Die Stille ist gleichzeitig fassbar und unfassbar, und in diesem Sinne wage ich sie Musik zu nennen.

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AVE MARIS STELLA

Komposition, in der die menschliche Stimme mit den Naturklängen zusammenwirkt

für Skulpturen, Stimme und Chor

Länge etwa 5 Minuten

Die Klangskulpturen verweben mit der menschlichen Stimme und übertönen Momente, in denen eine Art von archaischem Kontrapunkt für zwei Stimmen geschaffen wird. Natur – Mensch, Materie – Geist, Stille – Klang in einer Verbindung von Greifbarem und Abstraktem. Der religiöse Text über die Reinheit von Maria, dem Meerstern, begleitet und spielt all die Klänge, die den aus Wasser geborenen Kalkstein wieder im Echo zu Wasser zurückgeben und ihn wie die Natur singen lassen.

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4. Gesichtspunkte von Lehren und Lernen

Die Sache entdecken und fühlen mit verschiedenen Augen

Es ist eine unglaubliche Freude für jedes Kind, herauszufinden, dass Klang in allen Elementen der Natur ist und daher auch im Stein (der per definitionem unter die kalten Elemente gezählt wird, statisch, kalt und leblos); es lässt das Kind in absolutem Staunen zurück. Das Kind bleibt still angesichts eines Steins, der jedoch spricht, singt und erzählt … wer möchte mit ihm reden?

  • Wie wichtig ist es für ein Kind, herauszufinden, dass der Klang aus der Stille kommt?
  • Und dass es nicht einfach ist, der Stille nachzuhorchen?

Steine legen das aber nahe.

Jedes Kind kann Pinuccio Sciolas Skulpturen mit eigener Hand spielen, indem es streichelt, reibt, schlägt – und auf diese Weise sich sofort einfühlen, viele gute Antworten für sein Einfühlungsvermögen und seine Neugier finden kann. Die Neugier ist sehr entscheidend, weil sie ein Maßstab für das intellektuelle Wachstum ist.

Jedes Kind, das sich selbst der Kunst nähert, indem es die Aesthetik und die harmonische Schönheit, verfeinert und zart, die inneren Charakteristiken entdeckt, wird sich inne, dass die Künste miteinander verwoben sind. Der Tanz zum Beispiel ist mit Klang und Bewegung verbunden, genau wie auch die Mobiles von Alexander Calder mit ihren leichten und schwebenden Blättern; ebenso auch die Plastiken von Jean Tinguely oder Bruno Munari, die wohlüberlegt auf Geräusche reagieren, die aus Bewegung entstehen. Wenn wir diesen Pfad chronologisch weiter verfolgen, kommen wir zu den Klangskulpturen von Harry Bertoia, die bei Berührung Cluster von ohrenbetäubenden Klängen auslösen.

Anhand der Klangskulpturen von Sciola erkennt das Kind jedoch, das dies keine gewöhnlichen Objekte sind, sondern lebende Dinge, die zu ihm gehören und eine tönende Seele enthalten.

Eine Skulptur zu spielen bietet überdies eine wunderbare Gelegenheit, sich der magischen Welt der Musik zu nähern. Das Kind beginnt die Sache zu lernen, zu sehen und in einer anderen Art zu hören, mit achtsamem Ohr und Verstand bereit zu sein, lebhaft aber lustig zu lernen, so lustig, dass die Skulptur in ein Spiel verwandelt werden kann.

 

5. Link und Videos

Klangprofile: http://bit.ly/1QW1LX3

Ave Maris Stella: http://bit.ly/1M0wEN0

 

Giacomo Monica studierte Musik am Musikkonservatorium von Parma und promovierte in Violine mit Auszeichnung und Prädikat; danach studierte er an der Accademia Chigiana in Siena bei Salvatore Accardo. Er ist Geigenprofessor am Konservatorium ‚Boito’ in Parma. Ab den 70er Jahren widmete er sich auch der Chormusik und ethnomusikalischen Forschungen und nahm an nationalen Konferenzen über Volksmusik als Vortragender teil, auch als Jurymitglied vieler internationaler Wettbewerbe. Er nimmt systematisch an Kursen für junge Sänger und Chorleiter teil. Im Jahr 1978 gründete er den gemischten Coro Montecastello, für den er die Stücke schrieb, die sein Repertoire bestimmen und mit denen er regelmäßig Choraktivitäten ausführt. 2008 erhielt er den renommierten „Premio Caravaggio“ für die Aufmerksamkeit für und Aufwertung von Volksmusik durch seine ethnomusikalischen Forschungen und seine Chorarrangements. Kürzlich studierte er sehr gründlich neue ausdrucksvolle Wege im Dialog mit der Stimme, nachdem er begeistert die Klangfülle in Klangskulpturen von Pinuccio Sciola entdeckt hatte. E-Mail: giacomomonica.3@gmail.com

 

Übersetzt aus dem Englischen von Klaus L Neumann, Deutschland