Ist die Stimme Wirklich Verloren Gegangen?
Walter Marzilli, Chordirigent und Lehrer
Wenn wir hier auf den Titel einer weit verbreiteten Veröffentlichung über Kastrati[1] Bezug nehmen, so stellen wir damit die Frage, ob wir die Definition der verlorengegangenen Stimme nicht ausweiten müssen, so dass sie sich nicht nur auf die Stimme der Kastraten bezieht, sondern vielleicht auf den Renaissance-Chor im Allgemeinen. In anderen Worten: wird es je möglich sein, den Klang eines Renaissance-Chores so zu rekonstruieren, dass er dem Original treu ist? Wenn der Gips entfernt wird, der über ein Renaissancefresko gestrichen worden war, so kommen die Originalfarben und die erkennbaren Pinselstriche wieder zum Vorschein; aber der Staub, der sich auf einem alten Musikmanuskript angesammelt hat, scheint nur Spuren von Tinte zu verbergen, inmitten eines abgrundtiefen Schweigens. Wie können diese verlorengegangenen Stimmen wieder zum Klingen gebracht werden? Starben diese Stimmen zusammen mit ihren Sängern, um nie wieder auferstehen zu können? Oder haben sie vielleicht doch ein paar Spuren hinterlassen, auf Grund derer sie rekonstruiert werden können?
Mit diesem Ziel ist es offensichtlich, dass wir den Weg der Forschung einschlagen, ihr Repertoire untersuchen und die zeitgenössischen Lehrbücher studieren müssen. Vor allem auf diesem letztgenannten Gebiet müssen wir Gelegenheiten suchen, zu versuchen, den alten Klang zu rekonstruieren, trotz einer Schwierigkeit, die nicht unterschätzt werden darf. Wenn wir uns Gedanken darüber machen, müssen wir zugeben, dass der Versuch, einen verlorengegangenen Klang[2] zu rekonstruieren, indem wir eine Beschreibung auf Papier lesen, dieselben Bedenken erwecken dürfte wie sie über Menschen zum Ausdruck gebracht werden, die Gesang im brieflichen Fernunterricht lernen wollen.
Darüber hinaus konnten die Verfasser der Renaissancelehrbücher nicht die geringste Ahnung haben, dass der Wirbelsturm der Romantik sich zwischen ihre und unsere musikalische Wahrnehmung stellen würde, mit den daraus folgenden riesigen Veränderungen im Stil der Musik und sowohl stimmlicher als auch instrumentaler Techniken[3]. Das ist vielleicht der Grund, dass sie meinten, es reiche aus, wenn sie nur sagten “Wir möchten die Sänger dazu anhalten, sich dieser Warnung zu fügen, dass es eine bestimmte Art und Weise gibt, wie man in der Kirche singt und in den öffentlichen Kapellen, und eine ganz andere, wie man in privaten Räumen singt: denn man singt mit voller Stimme […]”[4], ohne zu wissen dass in der Zwischenzeit ihre Vorstellung von voller Stimme sich durch die Techniken des passaggio (der Wechsel zwischen den Stimmregistern) und durch die copertura dei suoni (das Abdecken des Klanges), die sich während der Romantik dazwischen schoben, total verändern würde.[5]
In Bezug auf Stimmen und ihre Klangfarben muss hinzugesetzt werden, dass – abgesehen von den Stilen für Kirche oder private Räume, die sich, so scheint es, mehr in der Dichte des Klanges als in spezifischen Charakterisierungen von Klangfarben unterschieden – die Renaissance sich auf eine zusammenhängende Einheit der Stimme verlassen konnte, wodurch es wenig Spielraum für Missverständnisse gab. Wir können uns deshalb vorstellen, wie sehr es den Verfassern der Lehrbücher darum ging, die Kennzeichen der Stimmen ihrer Zeit zu beschreiben, ohne die besondere Absicht, diesbezügliche Erklärungen beizusteuern, und dass sie darüber hinaus keinen Grund sahen, die Kennzeichen der Klänge ihrer Zeit unzweideutig und allgemeingültig zu beschreiben. Dadurch wird unsere Aufgabe nennenswert komplizierter.
Trotz dieses notwendigen Vorbehaltes, der uns dazu nötigt, die zeitgenössischen Texte mit Vorsicht und viel Nachdenken zu prüfen, möchten wir dennoch untersuchen, wie viel Hilfe wir doch bei ihnen finden können. Untersuchen wir also, mit dieser Einstellung, einen sehr wichtigen Absatz von Biagio Rossetti (der als Rossetto bekannt war), in dem der Theoretiker aus Verona vier Adjektive benutzt, um die Richtlinien der Klangfarben zu beschreiben, die die ideale schöne Stimme seiner Zeit ausmachten:[6]
Perfecta vox est alta, suavis, fortis et clara. Alta ut in sublime sufficiat, clara ut aures impleat, fortis ne trepidet, aut deficiat. Suavis, ut auditum non deterreat, sed potius, ut aures demulceat et ad audiendum [= audientium. Siehe Is., E., III, 20] animos blandiendo ad se alliciat et confortet. Si ex his aliquid defuerit, vox perfecta (ut dicit Ysidorus) nequiquam erit. [Die deutsche Übersetzung findet sich in der Fußnote.]
Alta (hoch). Wie wir alle wissen, benötigte der Renaissance-Chor, der keine Frauen aufnahm, den Einsatz von Männerstimmen und/oder Kindern für die hohen Stimmen. Aus diesem Grunde konnten Kompositionen der Renaissance gewisse Grenzen des Tonumfangs nicht überschreiten. Daraus resultiert die Tatsache, dass, wenn ein moderner Chor – der sich auf Frauen zur Ausführung der zwei hohen Stimmen verlässt – ein Stück aus der Zeit der Renaissance aufführt, er es eine Terz oder eine Quarte höher singt, als das vor fünfhundert Jahren üblich war. Oder, anders herum gesagt, in unserem Falle würden wir sagen, dass ein Renaissance-Chor diese Stücke eine Quarte tiefer sang als wir das heute tun. Unter diesen Umständen nimmt der Begriff einer hohen Stimme eine sehr andere Bedeutung an als jene, die wir ihm heute üblicherweise zusprechen.
Und das ist nicht alles. Die Abwesenheit der passaggio-Technik (dem Wechsel zwischen den Stimmregistern) verhinderte jegliche Veränderung der Klangfarbe innerhalb der Stimmgruppen und begrenzte so die Tongebung auf den charakteristischen Stimmumfang: die tiefen Stimmen waren tief und die hohen Stimmen waren hoch, die tiefen Stimmen benutzten immer die Bruststimme, die anderen immer Kopfstimme oder Falsetto[7]. Wenn hingegen die Sänger eines modernen Chores die höheren Regionen ihres Stimmumfanges benutzen, dann klingt das, als ob dem Chor eine neue Stimmgruppe hinzugefügt worden wäre: das Ergebnis ist so unähnlich in der Klangfarbe, verglichen mit den zentralen Tönen, dass es sich um eine total andere Klangsubstanz zu handeln scheint.
Dann stellt sich eine weitere Frage, diesmal strikt physikalisch und akustisch. Wie können wir den Ausdruck alta “hoch” mit Camillo Maffeis siebter Regel unter einen Hut bringen, wo es heißt, dass die Sänger “ … ihre Münder korrekt öffnen [sollten] und nicht mehr, als für eine Unterhaltung mit Freunden nötig ist”?[8] Obwohl sie, oberflächlich betrachtet, mit dieser unserer Untersuchung nichts zu tun hat, so erwirbt sich diese Feststellung viel mehr Bedeutung, wenn sie im Rahmen von Helmholtzens Lehrsatz[9] betrachtet wird, der die Frequenz eines Klanges mit dem Resonanzraum und seiner Öffnung in Verbindung setzt. Wir brauchen uns nicht mit richtigen Zahlen abzuärgern; die Untersuchung des Verhältnisses zwischen den verschiedenen Faktoren wird ausreichen. Aus diesem Grunde können wir die mathematische Gleichung erheblich vereinfachen, die Quadratwurzel und die Konstanten[10] außer Betracht lassen, und die Frequenz f eines Klanges mittelst der Gleichung f = s/v definieren, wobei der Querschnitt durch den Resonanzraum der Zähler und sein inneres Volumen der Nenner ist. Wenn wir den Fall der menschlichen Stimme bedenken und deshalb angemessene Maßstäbe anwenden, dann betrachten wir das Volumen v des Resonanzraumes als eine Zusammensetzung aus – in absteigender Größenordnung – der Brusthöhle, der Mundhöhle und den Kiefernhöhlen in der Gegend, die Maske[11] genannt wird. Als Querschnitt s betrachten wir die Öffnung, die den Kontakt zwischen dem Resonanzraum und der äußeren Umgebung gestattet, in diesem Fall der Mund. Daraus ergibt sich, dass – um die hohen Frequenzen hoher Töne zu erzielen, der Faktor des Zählers (Querschnitt Mund) groß sein, während der, der als Nenner benutzt wird (das Volumen des Resonanzraumes) klein sein muss[12]. Wenn wir diesen Punkt erreicht haben, können wir – abgesehen von den farblichen und ausdrucksmäßigen Charakteristika des Vokalstils der Renaissance – bestätigen, dass die Körperhaltung der zeitgenössischen Chorsänger, in der sie, wie schon erwähnt, “… den Mund korrekt öffneten und nicht mehr, als zum Gespräch mit Freunden nötig ist”, die Produktion von Tönen, die höher sind als die, die in der mittleren oder allenfalls der ober-mittleren Stimmlage möglich sind, beeinträchtigt hätte. Wir kommen nicht um den Schluss herum, dass unsere Vorstellung einer “hohen Stimme” uns von den wahren Eigenschaften der Renaissance wegführt.
Soave (süß). Erst einmal müssen wir uns fragen, wie “süß” die Stimmen der Bass- (bassus) und Bariton- (tenor) Sänger wohl waren; wir stellen sie uns vor, als wären sie mit einer intensiven und einschneidenden Textur ausgestattet gewesen, wenn sie eine Quarte tiefer sangen als die entsprechenden Stimmgruppen eines modernen Chores. Ein Blick in die ausgesprochen häufigen Kritisierungen und bitteren Abkanzelungen des Klanges der Chorsänger von Seiten der Theoretiker wird uns helfen, die Lage besser zu verstehen und zu sehen, dass man oft sehr weit davon entfernt war, das Ideal der “süßen” Stimme in die Praxis umzusetzen. Die Liste der Fehler, die diese Stimmen lieferten, ist so lang wie abwechslungsreich, und sie ist mühelos in fast jedem historischen Lehrbuch zu finden. Diese Fehler reichen von nasalen Klängen bis zu denen, die mit “tiergleicher Gewalt und Wut”[13] produziert wurden, von “rohen Klängen, wie eine Hornisse, die in einem ledernen Sack eingesperrt ist”[14] zu “barbarischen Schreien”[15] und Tönen, die mit ungenauer Intonation hervorgebracht wurden. Laut Luigi Dentice, der sich in den Worten einer der zwei Hauptfiguren in seinen Duo dialoghi della musica, Paolo Soardo und Giovanni Antonio Serone, ausdrückt: “Jeder macht irgendetwas falsch, sei es Intonation oder Aussprache, im Singen, im passaggio, oder im Projizieren oder Verstärken der Stimme, wenn das gebraucht wird … “[16] Die Antwort der anderen Hauptfigur des Dialoges ist von besonderem Interesse; die Bestätigung, dass “[d]as heißt, dass du mit niemandem zufrieden bist”[17], womit gesagt zu werden scheint, dass alle Sänger unter mindestens einem dieser Defekte leiden, oder dass sein Gefährte ein gar zu großer Perfektionist ist und einfach lernen sollte, sich mit den Gegebenheiten abzufinden. Der gesunde Menschenverstand legt nahe, dass jegliche “¨Süße” durch die Ungenauigkeiten, Auslassungen und Irrtümer (um nicht zu sagen: Schrecken) der Sänger beeinträchtigt gewesen sein muss.
Forte (stark). Was die weltliche Musik angeht, so wissen wir, dass sie von sehr kleinen Sängergruppen aufgeführt wurde, und wir kennen schon Zarlino (der oben zitiert wurde): “Im Zimmer singt man mit einer leiseren, süßeren Stimme, ohne zu viel Lärm zu machen”[18] Auf der anderen Seite bestanden die Chöre dieser Epoche im Allgemeinen aus nur etwa einem Dutzend Leute, und so kann kein Zweifel bestehen, dass der Klang, den sie produzierten, sich in den großen Basiliken verlief und verlor. Ebenfalls in Bezug auf die Kirchenmusik muss betont werden, dass die Intensität des Klanges darüber hinaus noch mehr dadurch gedämpft wurde, dass die Chöre mit dem Gesicht in Richtung Altar sangen, was der starken Hinwendung zu Gott von Seiten der liturgischen Theologie entsprach. Der Altar war der Angelpunkt der heiligen Rituale, und vor allem: dort präsidierte derjenige, der den Chor unterstützte und bezahlte, über alles, was vorging. Wie wir aus zahlreichen erhaltenen beispielen der Musik in der bildenden Kunst ersehen können, wandten die Chorsänger der Gemeinde/dem Publikum den Rücken zu und richteten ihre Stimmen gegen das Allerheiligste. Die Tatsache, dass ein aufnahmebereites Publikum ein nützliches Ziel für die Aufführenden sein kann, wurde erst beim Auftreten der Mehrchörigkeit anerkannt. Aber selbst in diesem Fall können wir uns den klanglichen Eindruck einer begrenzten Anzahl Sänger auf einem kleinen, erhöhten Podium in einer der gewaltigen Basiliken gut vorstellen[19]; oder sie mussten vielleicht zum schwindelerregenden Geländer der Kuppel des Petersdomes in Rom hinaufklettern[20].
Darüber hinaus müssen wir berücksichtigen, dass – wenn ein Chorsänger der Renaissance falsettierte – der Klang, den er hervorbrachte, in Anbetracht der charakteristischen Physiologie der menschlichen Stimme nur von einer partiellen Schwingung der Stimmbänder unterstützt wurde. In dieser Technik vibrieren die Stimmbänder des Sängers entweder nur an den äußeren Rändern, ohne den gesamten conus elasticus mit einzubeziehen, oder nur im vorderen Teil. In beiden Fällen wird die Klangfülle, besonders, was den Kern der Stimmlage angeht, viel geringer gewesen sein im Vergleich zu der, die durch vollständiges Vibrieren der Stimmbänder erzielt wird, was bei den Klängen, die Bass und Tenor lieferten, immer der Fall war. Darüber hinaus müssen wir nicht nur folgern, dass – innerhalb der allgemeinen Klangstruktur des Chores – der Klang, den die falsettierende Stimme beitrug, recht schwach gewesen sein dürfte, sondern auch, dass die anderen Sänger sich dieser Tatsache würden haben anpassen müssen, um die diversen Klangschichten hörbar zu machen und die Klangstärken zu regulieren und auszubalancieren. Diese Suche nach dem Gleichgewicht, die ihnen von den zeitgenössischen Theoretikern zugeteilt wird, gehörte zu den wichtigsten Aufgaben und Pflichten der Chorsänger. Schließlich – und aus demselben Grunde – können wir sicher sein, dass das ausgefeilte Können der Sänger und ihrer begehrten Verzierungskünste nicht mit der geballten Kraft der anderen Stimmen kämpfen musste, sondern dass letztere ausgedünnt und gedämpft wurden, um Raum für deren kostbare und viel bewunderte Virtuosität zu schaffen.
Chiara (klar). Zu diesem Punkt scheint es wenig Zweifel zu geben. Die Annahme, dass der Klang der Renaissance zu Klarheit neigte, wird von Zeugnissen akustischer und physiologischer Natur untermauert, und diese wollen wir jetzt untersuchen.
Die Praxis des Singens vor einem librone (Chorbuch) zwang die Sänger dazu, ihre Köpfe angehoben zu halten, mit dem Nacken zurückgelehnt und vorwärts geneigt, wie wir in zahlreichen Abbildungen von singenden Chören sehen können. [Hier folgt im italienischen Original eine physiologisch genaue Begründung des positiven Einflusses, den diese Körperhaltung auf die Klarheit des Klanges ausübte. Auch hier werden medizinisch besonders interessierte Leser an die englische Fassung dieses Textes verwiesen. Übersetzerin.]
In diesem Zusammenhang ist der Vorschlag von Giovanni Camillo Maffei in Bezug auf die Stellung der Zunge interessant. In seiner sechsten Regel sagt er, dass sie ausgestreckt bleiben und vorwärtsgerichtet werden soll “in einer Art und Weise, dass die Spitze die unteren Zahnwurzeln erreichen und berühren”[21]. Diese Stellung deckt sich vollkommen mit der Vokalpraxis der Renaissance (die, wie wir schon gesehen haben, keinerlei Mechanismus zum Abdecken des Klanges in Betracht zog) und verfolgt mit Konsequenz dasselbe Ziel wie im vorhergehenden Absatz dargelegt. Der Rat, die Zunge so weit auszustrecken, bis sie die unteren Zahnwurzeln erreicht, wird in der Tat auch modernen Sängern erteilt, als einfache Methode, einen klareren Ton zu erzielen, ohne das Risiko einzugehen, den Klang zu beeinträchtigen. Um den größtmöglichen Effekt zu erzielen, kann der Konsonant ‘L’ vor Vokale gesetzt oder allen Vokalen eines Werkes vorangestellt werden. Dadurch berührt die Zunge die oberen Zahnwurzeln und verlängert sich weiter, was zur Erreichung einer bemerkenswert klaren Aufhellung führt.[22]
Eine weitere interessante Berücksichtigung kann ebenfalls in Verbindung gebracht werden mit einer Reihe wichtiger Empfehlungen, die die Theoretiker den Sängern machten. Obwohl sie scharfer Tadel sind, so können sie uns zweifellos Denkanstöße geben. Wir begegnen immer wieder der unmissverständlichen Verurteilung der Angewohnheit, Vokale zu verändern, wobei dunkle Vokale durch helle ersetzt wurden. Als Beispiel wollen wir einen Abschnitt von Zarlino zu eben diesem Thema betrachten, obwohl es in der zeitgenössischen theoretischen Literatur zahlreiche ähnliche Beispiele gibt, die alle dieselbe Vorstellung vermitteln:[23]
„[…] Aber vor allem (damit die Worte des Sängers verstanden werden können) müssen sie den Fehler vermeiden, der vielen unterläuft, nämlich den, die Vokale der Wörter nicht unverändert zu lassen. Dies wäre zum Beispiel der Fall, wenn man A statt E ausspricht, I statt O, oder U statt eines anderen. Aber sie müssen sie korrekt aussprechen […] Wir haben manchmal irgendeinen Schrei gehört (ich kann es nicht Singen nennen), Lieder, von recht ungeschlachten Stimmen vorgetragen, die Bewegungen und Verhalten einsetzen, dass so gekünstelt ist, dass sie wahrlich den Eindruck von Affen hervorrufen, und sie sagen Sachen wie Aspra cara, e salvaggia e croda vaglia wenn sie Aspro core, e selvaggio, e cruda voglia sagen sollten: wer sollte da nicht lachen! Oder, besser gesagt, wer wäre da nicht wutentbrannt, wenn er etwas so gekünsteltes, so hässliches und so scheußliches hört?“
Trotz der Ernsthaftigkeit dieses schlechten Stils, den Zarlino als “so gekünstelt, so hässlich und so scheußlich” beschreibt, weigerten sich die Sänger mit konstanter Bosheit, solche Kritik anzuerkennen und ihre Angewohnheit aufzugeben, dunkle, runde Vokale mit hellen zu ersetzen, vor allem dem A, dem klarsten von allen.[24] Wir können daraus mit Sicherheit schließen, dass dies nicht nur ein Trend oder eine verbreitete Sitte, sondern viel mehr eine Notwendigkeit war, die mit den Faktoren der Physiologie und der Klangerzeugung zu tun hat, die wir schon erörtert haben. Die Notwendigkeit, mit klarem Ton zu singen, muss für die Sänger von dermaßen grundlegender Wichtigkeit gewesen sein, dass sie gewillt waren, sich vernichtender Kritik auszusetzen; vor allem führte diese tief empfundene Notwendigkeit sie dazu, die Worte und die Bedeutung der Texte, die sie sangen, sich selbst zu überlassen (und die Gelehrten sind sich weitgehend einig, dass Rhetorik, Dialektik und die ars oratoria eng mit der Kunst der polyphonen Musik zusammen hingen).[25]
In Anbetracht des spezifischen Madrigals, das Zarlino als Beispiel benutzte, darf man schließen, dass all dies sich ausschließlich im Bereich der weltlichen Musik abspielte, wo es Sinn gibt anzunehmen, dass eine größere Freiheit des Ausdrucks und des Benehmens herrschte. Stattdessen wird diese beruhigende Vorstellung von 1471 an ausdrücklich von dem widerlegt, was in einem interessanten Aufsatz von Conrad von Zabern zu lesen ist.[26] Er behauptet, dass er Sänger gehört habe, die sangen “Dominos vabiscum, aremus”, und er mockiert sich dann über das Bild des ‘Felderpflügens’[27]. Im gleichen Absatz fügt er hinzu, dass er zwischen Frankfurt und Koblenz und von dort bis Trier sehr oft dasselbe gehört habe, vor allem von Anfängern. Das bedeutet, dass die Neigung, Klänge durch Aufhellung falsch darzustellen, schon im vorhergehenden Jahrhundert tiefe Wurzeln geschlagen hatte und nicht auf Italien beschränkt war.
Wir können auch mit Interesse zur Kenntnis nehmen, dass sich die Lage im Verlauf der Jahrhunderte nicht geändert hat. Nach dem historischen Zeitabschnitt der Romantik fuhren gewisse Opernsänger damit fort, Vokale zu modifizieren: sie verdunkelten sie beträchtlich, indem sie den Klang abdeckten. Der Grund dafür war, dass sie die Notwendigkeit verspürten, einen besonders prononcierten Zuwachs in der Resonanz bestimmter harmonischer Klänge zu erzielen, die sich um 2500 Hertz herum einstellt und Formant genannt wird. Dies stellt sicher, dass das Publikum einen Sänger über das Orchester hinweg hören kann, eine Einzelstimme, die sich über 80-120 Orchestermusiker erhebt.[28] Wir wissen, dass dies – wenn ins Extrem geführt – oft dazu führt, dass der Text unverständlich wird. Wie zuvor fand auch dies im Namen der Vokaltechnik statt.
Die Zusammensetzung des Renaissance-Chores im Hinblick auf seinen Klang bestätigt auch die Tatsache, dass unser Vorfahren dazu neigten, einen hellen Klang als erstrebenswert zu empfinden. Wenn es auch auf der einen Seite wahr ist, dass der frühe Chor seine Musik viel tiefer anstimmte als es der Chor unserer Tage tut, so können wir auf der anderen Seite beobachten, wie sich die Entwicklung der Klangfarben der Stimmen des Renaissance-Chores bruchlos von tiefer zu höher schob, wie sie von einer Klangfarbe zu einer anderen überging, um eine immer größere Helligkeit zu erzielen. Vom tiefen Klang des bassus zum hellen des cantus – der frühe Chor bevorzugte eindeutig die helle Farbe. Der tenor war eine Männerstimme mit der Klangfarbe eines Baritons[29], über welcher sich – in dieser Hinsicht besonders charakteristisch – die Stimme des altus weiterhin um Helligkeit bemühte. Diese war nicht der dunklen Stimme des modernen Alt anvertraut, sondern den hellen, durchdringenden der Falsettisten und der hohen Stimmen.[30] Es ist offensichtlich, dass die cantus Linie die ansteigende Rangordnung der Klangfarben vervollständigte, und sie war den Knaben, hohen Falsettisten oder Kastraten anvertraut.
Dies besondere Streben nach Helligkeit der Klangfarbe wird jedoch von der klanglichen Zusammensetzung des modernen Chores total zerstört. Wir sehen, dass die Anwesenheit der dunklen Stimmen der Altistinnen neben der hellen Farbe der modernen Tenöre unweigerlich zu einer Umkehrung der Farben führt. Diese verursacht ein unsicheres Fortschreiten – vom dunklen Ton der Bässe zum hellen der Tenöre und der Rückkehr zum dunklen Ton mit der Ankunft der Altistinnen, bevor er sich mit den Sopranistinnen wieder aufhellt. Es ist die abgerundete, allumfassende Farbe der Altistinnen, die hauptsächlich (ob das nun gut ist oder nicht) für den Klang des modernen Chores verantwortlich ist. Dies ist ausgezeichnet und notwendig, wenn es sich um moderne Musik handelt, aber weniger geeignet für den Zeitabschnitt der Renaissance. Es ist eine bekannte Tatsache, dass die Aufführung einer Motette durch eine Gruppe, die nach den Grundsätzen der alten Musik zusammengesetzt ist, einen Eindruck von Brillianz und Durchsichtigkeit der Klangfarben erwecken kann, der nennenswert stärker ist als der, den die Aufführung durch eine moderne Gruppe erzielt – und das, obwohl letztere das Stück bis zu einer Quarte höher anstimmen kann, als das den Spezialisten für alte Musik möglich ist.
Was die Zusammensetzung des frühen Chores angeht, so könnte es von Nutzen sein, einen Aspekt in Betracht zu ziehen, der wichtig sein könnte, und der vermutlich substanzreicher ist als die Parallelfrage, ob es eine gute Idee ist, frühe Musik auf modernen Instrumenten zu spielen. Wir dürfen nicht vergessen, dass der Komponist der Renaissance gewisse Lösungen beim Komponieren einsetzte, oder gewisse kontrapunktische Figuren statt anderer wählte, weil er eine klare Vorstellung des Klangs der Stimmen seiner Zeit besaß, und vor allem des Klangeffektes, den sie in einer gegebenen Situation erzielen würden. Wir wissen, dass eine harmonische Dissonanz um so wirkungsvoller ist, je ähnlicher die Klangfarben der Stimmen, die sie hervorrufen, einander sind. Wenn wir von dieser Annahme ausgehen, so wäre es beispielsweise interessant, Statistiken aufzustellen, um herauszufinden, wie oft der Komponist der Renaissance seine Dissonanzen, Vorhalte und harmonischen Zusammenstöße dem tenor gegen den altus zuschrieb, und wie oft er sie dem tenor gegen den cantus überließ. In anderen Worten: wir können untersuchen, welche der zwei Stimmgruppen des frühen Chores die Mehrheit der harmonischen Dissonanzen bekamen, und daraus schließen, dass ihre Klangfarben ziemlich ähnlich gewesen sein müssen. Es wäre besonders interessant, die Ergebnisse zweier hypothetischer Situationen zu finden: logischerweise sollte es die tenor-altus Kombination sein, die die Mehrheit der Dissonanzen erledigte, statt tenor-cantus, was in modernen Chorwerken häufiger der Fall zu sein scheint.
Wie wir oben gesehen haben, führte die besondere Struktur des frühen Chores in Hinblick auf Klangfarbe zu einer interessanten Farbähnlichkeit zwischen tenor und altus. Wir müssen bedenken, dass beide Männerstimmen zugeteilt waren, einander in Klangfarbe recht nahe: letztere war eine Entwicklung ersterer in eine höhere Lage. Auf diese Weise erscheinen sie vollkommen anders als die Tenor-Frauenalt Konstellation, die sich im Chor unserer Tage findet, einer Konstellation, in der die Stimmen zu zwei Klangfarbenwelten gehören, die einander ausgesprochen fern sind: eine Dissonanz zwischen diesen beiden macht keinen nennenswerten Eindruck.[31] Wir können auch annehmen, dass die Kombination altus/cantus zu fragwürdigen Ergebnissen geführt haben dürfte, wenn es sich um Dissonanzen oder Tonangleichung handelt, wenn wir die Hypothese eines Kastraten-Alts und eines Knabensoprans aufstellen, wegen des kraftvollen Klanges des ersteren, verglichen mit letzterem.
Es besteht keine Frage, dass wir ziemlich unbegrenzt fortfahren könnten mit der Analyse der vielen Möglichkeiten der Stimmführung der Polyphonie und der Klangfarben, die den Federn der frühen Komponisten zur Verfügung standen, aber das ist nicht unsere Absicht. Viel mehr möchten wir lieber, als Folge dieser Gedankengänge, eine Endfolgerung als Hypothese aufstellen: der Einsatz von modernen Stimmen mit einer Klangfarbe, die sich von der der Renaissance unterscheidet, kann die gesamte Konstruktion eines musikalischen Werkes verzerren, denn er untergräbt die Grundlagen seiner kontrapunktischen Konstruktion, die Stimmführung, die Zuteilung der Dissonanzen, die Einsätze der verschiedenen Stimmgruppen – wirklich das gesamte Gerüst der Komposition. In anderen Worten – die Frage ist gerechtfertigt: wenn Giovanni Pierluigi da Palestrina in der Lage gewesen wäre, die Klangmöglichkeiten eines modernen gemischten Chores zu benutzen, wären die kontrapunktischen Entscheidungen, die er beim Komponieren seiner zahlreichen Meisterwerke fällte, andere gewesen? Hätten wir dann eine Missa Papae Marcelli, die wesentlich anders ist als die, die wir besitzen? Es muss gesagt sein, dass die Antwort auf diese Frage eine bejahende sein muss, und wir können (im Scherz) sagen, dass wir riskiert haben, viele Meisterwerke zu verlieren …[32]
Aber jede Frage hat zwei Seiten. Um genau den Effekt zu erzielen, nach dem der Komponist mit dem Einsatz von Renaissance-Stimmen strebte, sollten wir [heute] dieselben Stimmen benutzen, wie sie im sechzehnten Jahrhundert erklangen?
Über die erwähnten Verzerrungen und die (menschlich bedingten) Übertreibungen der Renaissance-Sänger hinaus, und ganz abgesehen von der Frage, ob die verlorengegangenen Stimmen der entmannten Sänger durch die von Falsettisten und den Kontratenören unserer Tage ersetzt werden können: vom strikt vokalen Blickpunkt aus könnten wir zu dem Schluss kommen, dass die Distanz zwischen modernen Aufführungen und der authentischen Renaissance-Aufführung beträchtlich sein muss, wegen gewisser physiologischer Umformungen, die die Stimmlagen geändert haben im Laufe der fünf Jahrhunderte, die uns von der Renaissance trennen,.
Die Annahme, dass die Durchschnittsgröße des modernen Menschen, so viel größer als Renaissance-Menschen[33], einen nennenswerten Einfluss auf die stimmliche Klangfarbe ausgeübt haben könnte, ist vernünftig. Die Stimmbänder sind zweifellos länger, wegen des zunehmenden Einflusses der Hypophyse – und vor allem der Hormone, die diese reguliert – auf die Knochen und Knorpel, die die Größe des Kehlkopfes bestimmen. Daraus folgt, dass wir annehmen dürfen, dass sich die Klangfarbe bis zu einem gewissen Grade verdunkelt hat, während die durchschnittliche Frequenz des Klanges sich verringert hat.[34]
Dabei haben wir die Stimmen der pueri noch nicht einmal erwähnt. Im Unterschied zu Renaissance-Kindern werden die Knaben unserer Zeit geradezu mit Hormonen bombardiert, denn sie essen Lebensmittel, die reich an solchen Substanzen sind. Dies übt einen grundlegenden Einfluss nicht nur auf die Knochenentwicklung aus, sondern auch auf die Entwicklung des Lymphsystems. Wir wissen, dass die menschliche Stimme in einem andauernden Prozess der Umformung begriffen ist; es scheint eine zunehmende Maskulinisierung der Frequenz und der Klangfarbe zu geben, so dass wir annehmen dürfen, dass der durchsichtige Klang der ungebrochenen Stimmen der Renaissance in unserer Zeit sich in etwas ganz anderes verwandeln dürfte. Die Knabenstimmen unserer Zeit sind kräftiger und besitzen eine ziemlich ‘wollige’ Textur; sie haben die brillante, leichte und ‘seidige’ Eigenschaft verloren, die sie sogar noch vor ein paar Jahrzehnten kennzeichnete. Darüber hinaus findet der sexuelle und stimmliche Umbruch viel früher statt als das der Fall zu sein pflegte, und der Zeitabschnitt, in dem die ungebrochene Stimme eingesetzt werden kann, ist viel kürzer, was darauf hinaus läuft, dass all die Mühe, die nötig ist, um eine Knabenstimme zu ihrer vollen Reife zu führen, ziemlich wenig belohnt wird.
Wir haben im Vorübergehen die Möglichkeit erwähnt, Kastraten durch die Stimmen von Falsettisten zu ersetzen. Wir sollten diese komplizierte Frage nicht beiseite schieben, ohne ihr einige Gedanken zu widmen, aber wir müssen zugestehen, dass der Kehlkopf eines Kastraten vollkommen anders gewesen sein muss als der eines Falsettisten – letzterer gehört in den meisten Fällen einem Bariton. Wegen der umwälzenden Veränderungen durch Hormone, die während der Pubertät eintreten, die aber durch den Akt der Kastrierung fast vollständig unterbunden wurden[35], blieb der Kehlkopf eines Kastraten in seiner Größe reduziert, ähnlich dem eines Kindes vor der Pubertät. Darüber hinaus blieb er näher an dem Resonanzraum des Mundes als der eines nicht kastrierten Sängers (wenn auch nur wegen des leichteren Körpergewichts des Sängers), was dem Besitzer eine ganz ungewöhnliche Klangfarbe verlieh, mit der das Publikum buchstäblich verzaubert werden konnte.[36] Die Stimmbänder, kürzer und dünner als die eines Mannes, ermöglichten eine größere Agilität nicht nur der Phrasierung, sondern auch des Klanges selbst, wodurch die Kastraten auf den Olymp der Musik (und nicht nur der Musik) befördert wurden. Es ging um die schlichte Tatsache, dass ihre Stimmbänder in ihrer vollen Länge und Breite in Funktion waren, und dass ihre Schwingungen die vollständige Schleimhaut des conus elasticus mit einbezogen. Mit Unterstützung des nennenswerten Luftdruckes, der durch eine ungewöhnlich große Lungenkapazität aufrecht erhalten wurde, deren Ausmaß durch intensives Training der Stimmmuskeln bestimmt war, aber vor allem – aus genau diesem Grunde – befeuert durch beträchtliche Elastizität des Zwerchfells: die Stimme, die daraus ertönte, muss voll, lang, durchdringend, faszinierend und beunruhigend gewesen sein.[37]
Wenn wir uns nun dem Lesen der alten Lehrbücher zu dem Thema zuwenden, so werden wir bald erschöpft von dem häufigen Vorkommen des Verbes beleidigen in Bezug auf die Wahrnehmung (das Gehör beleidigen; den Hörer beleidigen). Wir wollen der allzu naheliegenden Versuchung widerstehen, dies als einen schlicht veralteten Ausdruck abzutun und versuchen, uns zu fragen, ob die gnadenlose Wiederholung dieses Verbs, so stark und so präzise, vielleicht nicht gerechtfertigt werden kann, indem wir es als rein wahrnehmend betrachten. Wir wollen an unsere eigenen Ohren denken und in sie hineinschauen, das Trommelfell beobachten, die drei winzigen Knochen – Steigbügel, Amboss und Hammer, die kleinsten und zartesten Knochen in unserem Körper – welche die Schwingungen zum ovalen Fenster übertragen. Dann sehen wir die kostbare Schnecke und andere Organe [noch einmal: die genauen medizinischen Ausdrücke sind der englischen Fassung zu entnehmen – Übersetzerin] … und wir denken über eine sehr wesentliche Tatsache nach: unser Hörorgan, so wichtig, dass es das erste ist, dass sich während der Schwangerschaft entwickelt, ist das einzige aller unserer Sinnesorgane, das sich nicht schließen kann, um sich von der Außenwelt zu schützen.[38] Die Schlussfolgerung: im Unterschied zum Auge hat das Ohr keine Lider, und wenn es lauten Geräuschen begegnet, kann es sich nicht verteidigen. Nun wollen wir einen weiteren Schritt vorwärts machen und zugeben, dass die Welt, in der wir leben, außerordentlich laut ist, oder zumindest viel lauter, als sie vor fünf hundert Jahren war.[39] Wir können uns also vorstellen, wie unser sehr empfindliches Trommelfell ständig versucht, sich gesund zu erhalten und sich vor so vielen Geräuschen von außen zu schützen. Es kann dies nur erreichen, indem es seine Fasern verhärtet und seine Muskelspanner versteift, um die Bandbreite der Schwingungen zu reduzieren. Ergebnis: wir sind mit einer viel weniger differenzierten Hörfähigkeit ausgestattet als unsere Vorfahren sie besaßen. Und das erklärt die übergroße Anzahl der Tonleitern und Stimmsysteme, die im Altertum existierten, wogegen wir nur zwei würdigen und erkennen können: Dur- und Molltonleitern.[40] Und wenn wir so an sie gewöhnt sind und uns abgefunden haben mit dieser Sammlung misstöniger Laute, aus der die temperierten Tonleitern zusammengesetzt sind, dann ist unsere Sensibilität des Hörens arg geschwächt. Wie sollen wir dann die Finessen, die uns die alte Musik bietet, würdigen, selbst nur aus der Perspektive der Intonation?[41] Und wie sollen wir die ausdrucksstarke Überredungskraft eines deuterus[42] voll erkennen, ohne uns auf den Satz ‘er dient dazu, melancholische Texte zu vertonen’ zu beschränken?
Dies ist in der Tat eine sehr bedenkliche Entwicklung, wenn wir die musikalische Lage mit der der Malerei vergleichen, wie zu Anfang dieses Artikels[43]. Die Beschränkung, die uns dadurch auferlegt ist, dass wir nur die sieben Töne der Tonleiter benutzen, ohne fähig zu sein, jegliche Nuance der Intonation einzusetzen, ist etwas, an das wir uns mittlerweile vollkommen gewöhnt haben, durch den Gebrauch eben dieser temperierten Tonleiter; das Gegenteil würde uns direkt merkwürdig vorkommen. Aber die Dramatik dieser Beschränkung würde uns sofort klar werden, wenn wir uns vorstellten, dass ein Maler seine Bilder nur mit den sieben Farben des Regenbogens malen dürfte, ohne sie mischen zu können, wodurch all diese wundersamen Schattierungen unmöglich gemacht würden, die den Meisterwerken der Malerei das Leben verleihen.[44] Kein Maler, ganz gleich aus welchem historischem Zeitabschnitt, wäre bereit, sich solch einer Strafe zu unterziehen. Und so, während wir auf der einen Seite Rossini haben, der es schaffte, alle seine Meisterwerke mit nur diesen sieben Tonfarben zu schreiben (wir sind nunmehr mitten in der temperierten Periode), so haben wir auf der anderen Seite die Komponisten der Renaissance, die, im Unterschied zu ihm, beim Schreiben aller ihrer Werke eine Palette vor ihren Augen und Ohren hatten, die reicheste Vielfalt der Tonfarben bot; eine Palette, die wir leider verloren haben[45].
Zusammenfassend möchte ich vorschlagen, dass die Frage sich nicht auf isolierte Themen beschränken sollte, wie beispielsweise die Debatte über die Anwesenheit von Frauen im Unterschied zu Falsettisten, oder die Suche nach alter Intonation im Unterschied zu modernen Stimmsystemen. In der Debatte um alte und moderne Chöre, um verlorengegangene Stimmen und Klänge, die wieder entdeckt werden könnten, wollen wir mit einer letzten, provozierenden Überlegung schließen. Stellen wir uns vor, dass irgendeine kosmische Strahlung oder ein extremes Hitzephänomen oder vielleicht eine Veränderung in der Atmosphäre es fertig brächte, die Zellen des Holzes zu verändern, seine Fasern zu verhärten und sie unbrauchbar für den Bau von Musikinstrumenten zu machen. Was würden wir dann mit all unserer Instrumentalmusik anfangen? Würden wir alle unsere Orchester auflösen, denen nun die ganzen Familien der Streicher, Holzbläser und Harfen fehlen würden? Würden wir all die Trios und Quartette vernachlässigen, alle Klaviere der Welt zum Schweigen bringen? Wären wir wirklich willens, solch einen großen Kulturschatz auf ewig zu zerstören? Oder würden wir beschließen, die Instrumente aus einem ausgezeichneten synthetischen Holz zu rekonstruieren, das möglicherweise leicht aus einem Kunststoff zu gewinnen ist, und versuchen, uns an den neuen Klang zu gewöhnen, den diese machen würden?
Genau das haben wir getan, als wir die Sänger der Renaissance unwiederbringlich verloren. Und das müssen wir auch weiterhin tun.
Mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift Polifonie, Arezzo, Italien
[1] Sandro Cappelletto, La voce perduta. Vita di Farinelli, evirato cantore, Torino, EDT 1995.
[2] Hier müssen wir innehalten, bevor wir einen Klang als verlorengegangen bezeichnen, und aus diesem Grund erscheint das Wort im Schrägdruck. Es scheint jedoch angemessener zu sein, wenn wir davon sprechen, “zu versuchen, ihm so nahe wie möglich zu kommen”, statt von einer wirklichen Rekonstruktion.
[3] Die beiden Techniken können nicht voneinander getrennt werden. Orchester wurden größer, und die Streichinstrumente änderten sich auf Dauer, vom leisen, samtigen Klang der Darmsaiten zu dem der kraftvollen metallenen. Der Steg wurde dazu gezwungen, viel größeren Druck auszuhalten, und das zwang die Instrumentenbauer, die Gesamtstruktur des Instrumentes zu verstärken, auf Kosten der Leichtigkeit des Tones und der Klangfarbe. Gleichzeitig unterzog sich auch der Klang der Blechbläser wesentlichen Veränderungen, aber das Wichtigste ist ihr häufigerer Einsatz in Partituren, wegen der Verbesserungen, die durch den Einbau von Zylindern und insbesondere Ventilen erreicht wurden. Dasselbe trifft für die Holzbläser zu, wegen der Einführung einer größeren Anzahl Klappen. All dies veränderte nicht nur den Klang der Instrumente, wie man sich leicht vorstellen kann; die Notwendigkeit, das ausschlaggebend wichtige Gleichgewicht zwischen Stimmen und Instrumenten beizubehalten, lieferte den Rest.
[4] Gioseffo Zarlino, Le Istitutioni harmoniche, Venedig, 1558, Teil III, Kap. 45, S. 204 (Faksimile New York, Broude Brothers, 1965 (Monuments of Music and Music Literature in Facsimile. Second Series: Music Literature, 1).
[5] Die Anfänge der Techniken für passaggio (oder Registerwechsel) und copertura dei suoni (Abdecken des Klanges) können ins 18. Jahrhundert zurück verfolgt werden, aber das einschneidendste Beispiel finden wir im sogenannten “Brust C”, das der Tenor Gilbert Duprez in seiner Rolle als Arnold in Rossinis Oper Wilhelm Tell ausführte. Es ist nicht so sehr die Tatsache selbst, sondern viel mehr die Sensation, von der wir wissen, dass sie durch diesen Klang ausgelöst wurde, als er explodierte und sein Licht über eine Welt scheinen ließ, die noch an die großen Höhen gewöhnt war, die von Kastraten erzielt wurden, und an die Klänge von falsettierenden Männern. Das berühmt-berüchtigte C5 ist ein Ton, der mit Sicherheit von jeglichem falsettierenden Mann jeglichen Laienchores geliefert werden kann. Dann erregt es aber nicht dieselbe Bewunderung der Menschen wie wenn es mit voller Bruststimme gesungen wird und die Umrisse eines fröhlich ausufernden, mächtigen Brust C annimmt.
[6] Biagio Rossetti, Libellus de rudimentis musices, Verona, Gebrüder Stephen Sabio und Nicolini, 1529, [4]: “Die perfekte Stimme ist hoch, süß, laut und klar; hoch, damit sie hinreichende Durchschlagskraft hat, klar, damit sie das Ohr füllt, stark, damit sie weder zittert noch Schwäche zeigt, süß, damit sie niemanden ängstigt, wenn sie erklingt, sondern viel mehr, dass sie den Ohren schmeichelt, und dass sie, indem sie die Seelen der Hörer ermutigt, sie anziehen und beruhigen kann. Wenn eins dieser vier Elemente fehlt, dann kann die Stimme in keiner Weise als tadellos bezeichnet werden, was Isidoro bestätigt.”
Wir dürfen auch nicht vergessen, dass sich bei Pietro Aaron, Toscanello in Musica […] nuovamente stampato con l’aggiunta da lui fatto et con diligentia corretto, erschienen bei Venizia, Bernardino und Matteo de Vitali, 1529, Band I, Kapitel V, S. Bii, ein fast gleichlautender Absatz findet: “Die perfekte Stimme, hoch, süß und klar: hoch, damit sie hinreichend erhebend klingt; süß, damit sie den Seelen der Hörer schmeichelt, klar, damit sie die Ohren füllt. Wenn eine dieser [Eigenschaften] fehlt, dann ist es keine perfekte Stimme.” Die wahre Urheberschaft dieses Absatzes muss, wie Rossetti erwähnt, Isidoro von Sevilla zugeschrieben werden (560-636): “Perfecta autem vox est alta, suavis et clara: alta, ut in sublime sufficiat; clara, ut aures adimpleat; suavis, ut animos audientium blandiat. Si ex his aliquid defuerit, vox perfecta non est.” (Siehe Isidoro, Etymologiarum sive originum libri, Band III, Kapitel 20). Dort können wir sehen, wie Aarons Fassung Isidoros Original perfekt wiederspiegelt, während Rossettis mehr ausgeweitet erscheint, einschließlich des Zusatzes des Adjektivs forte.
[7] Ich hoffe, dass meine Leser verstehen werden, warum ich diese begrenzte und ziemlich ungenaue, vereinfachende Einordnung der alten Stimmgruppen benutze. In Anbetracht ihrer Bedeutung wäre es wünschenswert, hier eine eingehendere Diskussion einzufügen, aber sie würde in diesem Aufsatz beträchtlichen Raum einnehmen, wodurch eine angemessene Behandlung des Themas in diesem Rahmen nicht möglich wäre.
[8] Giovanni Camillo Maffei, Delle lettere del Signor Gio. Camillo Maffei da Solofra, libri due […], Neapel, Raymundo Amato, 1562, S. 34. Maffeis Empfehlung an Sänger, dass sie ihre Münder nur halb offen halten – etwas, das er kategorisch als Regel definiert – mag ungewöhnlich erscheinen, aber fast alle Lehrbuch-Autoren sind verdächtig einmütig in ihrer Verurteilung des Singens mit weit geöffnetem Mund. Wir können darum feststellen, dass sie sich alle einig sind, Maffei direkt und die anderen indirekt: es ist angemessen, den Mund beim Singen nicht zu weit zu öffnen.
[9] Ein deutscher Physiologe und Physiker, 1821-1894, der ein interessantes Lehrbuch über die Physiologie der Musik schrieb: Hermann von Helmholtz, Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik, Braunschweig, Vieweg, 1863.
[10] Um der Vollständigkeit willen wird hier das Gesetz voll wiedergegeben: : fHz = v × s / 2 π √U×√u, wobei v = Schallgeschwindigkeit, s = den Querschnitt durch den Resonanzkörper; 2π = 6,28, U = das Volumen des Resonanzkörpers und u = das Volumen der Öffnung des Resonanzkörpers darstellt. Es soll erwähnt werden, dass die Konstanten v und 2π und die Quadratwurzeln ausgelassen worden sind (und dass sie natürlich in einer genaueren Kalkulation mit benutzt würden), und dass die Faktoren ‘U’ und ‘u’ in dem einen Wert v zusammengefasst worden sind.
[11] Es gibt acht luftgefüllte Hohlräume im Kopf [Leser, die deren genauen medizinischen Bezeichnungen benötigen, konsultieren, bitte, die englische Fassung dieses Artikels – Übersetzerin]. Sie haben zwei klanggebende Funktionen: die Erwärmung und Durchfeuchtung der Luft und die Ermöglichung der Produktion von hohen Tönen. Die anderen Funktionen, für die sie manchmal verantwortlich gemacht werden, nämlich die Isolierung des Schädels und das Abpolstern des Gehirns, scheinen nicht hinreichend belegt zu sein.
[12] Diese zweite Bedingung wird durch das Absenken des weichen Gaumens gewährleistet, dem Ergebnis des Vorwärtsschiebens/Anhebens der Zunge, seinerseits verursacht durch die Tatsache, dass die Sänger der Zeit ihre Zunge in Kontakt mit dem tieferen Zahnwurzeln hielten (siehe Absatz, der in Fußnote 23 zitiert wird).
[13] Zarlino, Le Istitutioni harmoniche, wie oben, Teil Drei, Kapitel 45, S. 204.
[14] Hermann Finck, Practica musica, Wittenberg, G. Rhau Erben 1556, Faksimile, Bologna, Forni, 1969.
[15] Daselbst.
[16] Daselbst.
[17] Daselbst.
[18] Zarlino, Le Istitutioni harmoniche, wie oben, Teil 3, Kapitel 45, S. 204.
[19] Zarlino, Le Istitutioni harmoniche, wie oben, Teil 3, Kapitel 45, S. 204.
[20] Wolfgang Witzenmann, Otto tesi per la policoralità, in La policoralità in Italia nei secoli XVI e XVII. Testi della giornata internazionale di studi, Messina 27 dicembre 1980, herausgegeben von Giuseppe Donato, Roma, Torre d’Orfeo, 1987 (Miscellanea musicologica; 3), S. 8; siehe auch Arnaldo Morelli, “La vista dell’apparato superbo, l’udito della musica eccellente a più cori”. Spazio chiesastico e dimensione sonora, in Roma barocca. Bernini, Borromini, Pietro da Cortona, herausgegeben von Marcello Fagiolo und Paolo Portoghesi, Milano, Electa, 2006, S. 294-301.
[21] Giovanni Camillo Maffei, Delle lettere del Signor Gio. Camillo Maffei da Solofra, S. 34.
[22] In gewissen Vorgängen der Sprachheilkunde, die darauf hinzielen, den Ausstoß aus dem Rachen zu verbessern und zurückreflektierte Resonanzen nach vorne zu verlagern, werden besondere Übungen verlangt, bei denen die Patienten den Bewegungen eines Bleistiftes folgen, den der Therapeut mit der Zungenspitze bewegt. Die senkrechten Bewegungen außerhalb der Lippen der Patienten helfen ihnen, die Zunge nach außen zu biegen, was sofort Resonanzen der retropharyngealen Höhle auslöst (die sonst der Grund für gutturale Laute sind und ebenfalls derer, die nicht hinreichend nach außen projiziert werden).
[23] Giovanni Camillo Maffei, Delle lettere del Signor Gio. Camillo Maffei da Solofra, S. 34. Nachdruck dem Original entsprechend, wobei Zeichensetzung und Schrägdruck vom Bearbeiter hinzugesetzt worden sind.
[24] Wir sollten nicht vergessen, dass – wenn er über Madrigale spricht, die von Komponisten benutzt worden sind, um eine gewisse Härte zu betonen, die im Text zum Ausdruck kommt – Vinzenzo Galilei, genau wie Zarlino, sich auf denselben Madrigaltitel beruft: “[…] i nostri prattici Contrapuntisti […] Aspro core e selvaggio, e cruda voglia […] haveranno fatto tra le parti nel cantarlo di molte settime, quarte, seconde e seste maggiori; e cagionato con questi mezzi negli orecchi degli ascoltatori un suono rozzo, aspro e poco grato”. Siehe Vincenzo Galilei, Dialogo […] della musica antica e della moderna, Florenz, Giorgio Marescotti, 1581, S. 88. In Zarlinos Fall scheint es jedoch unwahrscheinlich, dass die Sänger die Vokale nur deshalb mit As ersetzten, weil sie die ausdrückliche Bedeutung des Textes betonen wollten. Obwohl das in diesem besonderen Fall durchaus überzeugend ist, wurde diese Praxis, wie wir weiter unten sehen werden, auch oft bei geistlichen Texten angewandt, ohne jegliche Absicht, die Worte zu schattieren, sondern nur um der klanglichen und farblichen Bedürfnisse willen.
[25] Eine etwas provozierende Frage: ist es nicht möglich, dass die Vokalpraxis der Renaissance klare Klänge aus dem einfachen Grunde bevorzugte, dass die Traditionalisten an diese Farbe gewöhnt waren, weil sie zum Gebrauch des librone gezwungen und durch dieses eingeschränkt waren? Könnte diese Gewohnheit dermaßen gefördert worden sein, dass man eine ästhetische Klarheit so intensiv anstrebte, dass man der Stil der Kastraten kopieren wollte, die als das absolute Extrem dieser Tendenz in Richtung hoher Töne angesehen werden können?
[26] Conrad von Zabern, De modo bene cantandi choralem cantum in multitudine personarum, Mainz, Peter Schöffer, 1474, S. 61.
[27] Daselbst “[…] ita ut audiverim aliquos cantantes: Daminus vabiscum, aremus …, ut ego dicerem ad mihi proximos: absit a nobis arare. Et revera a Francofortia usque ad Confluentiam, et ab inde usque ad Treverim cognovi hoc praecipue in scolaribus saepissime”. Die ironische Bemerkung über ‘Felderpflügen’ bezieht sich auf das Einfügen von ‘aremus’, von dem Verb mit der Bedeutung ‘pflügen’ für die korrekte form des Verbs ‘orare’ mit der Bedeutung ‘beten’.
[28] Dies wurde im Zuge der Klangzunahme, die mit der Ankunft des Orchesters der Romantik einherging, zu einer unumgänglichen Notwendigkeit – wie oben erwähnt.
[29] In alten Zeiten war der gregorianische Choral als cantus firmus dem Tenor zugeteilt; darauf beruht die Tatsache, dass es erstrebenswert ist, diesen einer Stimme im mittleren Bereich anzuvertrauen, auf solche Weise, dass es keine Abweichungen von den ästhetischen und vokal-klangfarbenen Geboten geben würde, die für den gregorianischen Choral charakteristisch sind.
[30] Die sprachliche Ableitung dieses Wortes ist eindeutig. Es handelte sich um eine hohe Stimme, die von der uralten Sitte abgeleitet worden war, der Melodie des cantus firmus, dem Tenor anvertraut, kontrapunktisch eine zweite, unabhängige Melodie hinzuzusetzen: dem contratenor altus (wenn er über dem Tenor lag) oder dem contratenor bassus (wenn er unterhalb des Tenors lag). Die Namen, die wir heutzutage benutzen, stammen höchstwahrscheinlich aus dieser Praxis.
[31] Wir wollen eine theoretische Dissonanz herstellen, die sich zwischen Tenören und Altistinnen abspielt: erstere liefern in hoher Lage ein g’ (tatsächlicher Klang), und letztere hängen gemütlich auf dem f’, bevor sie die Kollision durch Abstieg zum e’ auflösen. In diesem Fall vermindert die Unterschiedlichkeit der Klangfarben den Eindruck der Dissonanz. Dieselbe Dissonanz, wenn sie der tenor/altus Kombination des frühen Chores anvertraut gewesen wäre, hätte eine viel stärkere Durchschlagskraft besessen.
[32] Auf der anderen Seite können wir restlos sicher sein, dass solche Kompositionsgenies in der Lage gewesen wären, genau so viele Meisterwerke für unseren modernen Chor zu schaffen, wenn der ihnen zur Verfügung gestanden hätte.
[33] Zu den Beweisen zählen die Längen von Grabstätten, die Höhen der Türen in den Palästen des 16. Jahrhunderts, die Größen von Rüstungen und die Beschreibungen und Zeugnisse der Zeitgenossen.
[34] Man könnte auch die These verteidigen, dass der Zuwachs an Körperlänge auch Rückwirkungen auf den Blutdruck und damit auf das Tempo des Herzschlages gehabt haben kann. In der Tat scheinen die 60 Schläge pro Minute des menschlichen Pulses, die in den Lehrbüchern als typisches Tempo des tactus ausgewiesen werden, inzwischen mehr als 70 zu sein. Es wäre interessant zu überlegen, ob diese Tatsache auch die stimmliche Klangfarbe beeinflusst haben mag: zum Beispiel dadurch, dass sie mit dem vermutlich stärkeren Blutzufluss in die Stimmbänder in Verbindung gebracht wird, was sehr wohl zu größerer Dehnbarkeit und größerer Dicke geführt haben kann.
[35] Die Testosteron-Produktion der Hoden ist behindert, aber ein kleiner Teil der hormonalen Substanz wurde von den Adrenalindrüsen ausgeschieden, die natürlich nicht entfernt wurden.
[36] Manche der Legenden, die sich um die Kastraten ranken, können in neuem Licht betrachtet werden. Die buchstäblich atemberaubenden Atemlängen, von denen wir oft hören, wurden nur zum Teil verursacht durch das Missverhältnis zwischen den kleinen Stimmbändern von der Größe eines Kindes und dem großen Brustkorb eines Mannes (der aber elastischer war, wegen des Mangels an Verkalkung der Knorpelmasse, die das Rückgrat mit dem Brustbein verbindet). Der Rest geht auf das Konto des enormen körperlichen und stimmlichen Trainings, dem sich die Kastraten unterzogen, um den höchsten künstlerischen Ansprüchen zu genügen, die an sie gestellt wurden. Auch das Geschick für stimmliche Akrobatik kann mit dieser Tatsache in Verbindung gebracht werden. Schließlich kann ihr intensives und ungezügeltes Liebesleben in Frage gestellt werden, zusammen mit dem Charme, der ihnen zugeschrieben wird: das mangelnde Gleichgewicht der Hormone, das Fehlen von Testosteron (einem Hormon, das für die allgemeine Entwicklung des Körpers und den Eiweißhaushalt sorgt) und der daraus resultierende fast totale Fortfall von Inhibin in ihren Körpern (einem anderen Hormon, das das Wachstum durch seine Opposition zur Hirnanhangdrüse reguliert), verlieh den Kastraten Körper, die etwas unproportioniert waren, birnenförmig (Fehlfunktion der Hirnanhangdrüse), praktisch haarlos und mit zahlreichen Problemen des lymph-hormonalen Systems belastet.
[37] Aus diesem Grund müssen ihre asexuellen Stimmen unverkennbar gewesen sein. Wenn man sich die berühmte Aufnahme der Stimme von Alessandro Moreschi anhört, einem Kastraten aus der Sixtinischen Kapelle, die zwischen 1902 und 1904 angefertigt wurde, und die nicht akzeptablen ästhetischen Verirrungen ignoriert, dann findet man in einigen kurzen, hohen Passagen (und nur in dieser Lage) Qualitäten und Klangfarben, die besonders faszinierend sind und nicht nach irgendwelchen unserer heute bestehenden ästhetischen Richtlinien beurteilt werden können.
[38] Im Falle der Gefahr von außen können sich die Augen durch Schließen der Lider verteidigen, die Zunge kann sich schützen, indem die Lippen fest geschlossen werden, die Hände können sich zur Faust ballen und die Nase kann das Atmen einstellen, zumindest auf kurze Zeit. Das Ohr kann nichts dergleichen: es ist dazu verdammt, unentwegt zu hören. Ist das der Grund, dass unser Gehör im Vergleich zu dem der meisten Tiere außerordentlich beschränkt ist? Wir brauchen uns nicht vor Raubtieren zu verteidigen, wir …
[39] Es ist nur recht und billig, einen amüsanten Abschnitt aus Grazioso Ubertis Contrasto musico zu zitieren, der die Geräusche der Großstadt beschreibt und der dem, das oben geschrieben wurde, zu widersprechen scheint. ‘Die Glocken machen einen Höllenlärm, der das Trommelfell der Ladenbesitzer beleidigt, und die Eingeweide fürchten das Quietschen der Säge; das Getriebe auf Straßen und Plätzen ist laut; wenn Kutschen und Wagen vorbeifahren, betäubt es richtig die Köpfe.’ Aber wenn er dann vom Leben auf dem Lande spricht, beklagt er gleichermaßen den Mangel an Geräuschen, so dass wir seine Worte nicht ernst nehmen sollten: ‘[…] dort hört man die Hunde bellen; andere Tierlaute; Arbeiter rufen; Bauern singen; die Zikaden sind ohrenbetäubend; die Eulen beunruhigen; die Heuschrecken irritieren, die Frösche sind ein Ärgernis.’ Aber zusätzlich zu der lächerlichen Anwesenheit von Eulen, Fröschen und Heuschrecken wird die Tatsache, dass all dies nur ein Witz ist, enthüllt, wenn er bestätigt, dass ‘sogar die Freunde der Einsamkeit in den Klausnerzellen und Höhlen sich mit der Unverschämtheit des Echos abärgern müssen.’ Abgesehen vom Erzähler gibt es zwei Protagonisten, von denen einer Giocondo (der Frohe) heißt. Der andere ist Severo (der Ernste). Siehe Grazioso Uberti, Contrasto musico, opera dilettevole, Rom, Lodouico Grignani, 1630, erster Teil, S. 5-6, (Faksimile herausgegeben von Giancarlo Rostirolla, Lucca, Libreria Musicale Italiana Editrice, 1991 (Musurgiana; 5)).
[40] Unsere Vorfahren benutzen eine erstaunliche Vielfalt an Stimmsystemen. Ein Beispiel findet sich bei Patrizio Barbieri, Acustica accordatura e temperament nell’Illuminismo Veneto. Con scritti inediti di Alessandro Barca, Giordano Riccati e altri autori, Rom, Torre d’Orfeo, 1987 (Istituto di Paelografia musciale. Serie I: Studi e testi; 5).
[41] Musiker des Ostens sowie auch die des Nahen Ostens, gar nicht so weit von uns entfernt, sind in der Lage, die feinsten Variationen in Harmonien bis zu einer Unterscheidungskraft von einem oder zwei cents aufzuführen oder hörend zu würdigen. Diese zarten Modifizierungen werden auch auf den Grundton angewendet, der aus dem Blickwinkel verschiedener Intonationen erscheint, je nach seiner Stellung innerhalb der Komposition.
[42] Das harmonische System, das wir heute benutzen, erkennt nicht mehr die [Möglichkeit der] Position eines Halbtones an zwischen erster und zweiter Stufe einer Tonleiter (den alten deuterus authentic), der Melodien eine melancholische und tragische Farbe verlieh.
[43] Ich habe diese Beobachtung schon erwähnt, möchte aber die Gelegenheit ergreifen, das Thema kurz anzuschneiden. Siehe Walter Marzilli, “Musica, pittura e cinema: interazioni,” Lo spettacolo, XLVII, Nr.. 3, Juli – September 1997, S. 285-299.
[44] Und der Maler hätte immer noch einen Vorteil verglichen mit dem Musiker, denn von den sieben Farben des Regenbogens sind einige das Ergebnis der Fusion zweier anderer, also schon gut gemischt.
[45] In diesem Zusammenhang möchten wir einen weiteren Gedankengang hinzufügen. Seit die temperierte Stimmung die uralten Tonleitern verdrängt hat, besitzen wir zahlreiche Zeugnisse, in denen Komponisten kritisiert wurden, angeklagt des Vorurteils der Modernität, von kühnem Verhalten in Bezug auf den Gebrauch der Dissonanz, von groben Harmonien … Könnten wir das alles nicht auch dem Konflikt zweier miteinander unvereinbarer Fraktionen anlasten? Auf der einen Hand die Komponisten, die jede neue harmonisch-melodische Lösung, die ihnen durch die Akzeptanz der gleichgeschalteten Tonstufen der temperierten Tonleiter gestattet wurden (Modulationen, Übergänge, dissonante Harmonien, usw.), in ihr Repertoire aufnahmen; auf der anderen Seite die Instrumente und Instrumentalisten, die weiterhin ihre Intervalle im Einvernehmen mit den alten Tonleitern stimmten …
Walter Marzilli schloss sein Studium am Pontificio Istituto di Musica Sacra in Rom mit Diplomen in Gregorianischem Gesang, Musikerziehung, Chormusik und Chorleitung ab. Am gleichen Institut erwarb er auch den Doktortitel der Musikwissenschaften. Bei Studien in Deutschland erwarb er an der Universität zu Köln Spezialkenntnisse in den Bereichen Chormusik und Orchester, während er sich in Düsseldorf in Musikerziehung spezialisierte. Zweimal wurde er in die Commissione Artistica Nazionale della FENIARCO (die italienische Föderation Regionaler Chorverbände) gewählt. Er ist Leiter verschiedener Chorensembles: der Madrigalisti di Magliano in der Toskana; des Ottetto Vocale Romano; des Quartetto Vocale Amaryllis; und des Chores des Pontificio Istituto di Musica Sacra in Rom. Er unterrichtet Gesang am Collegio Internazionale Sedes Sapientiae in Rom, wo er auch die Musikabteilung leitet, und hat am Pontificio Seminario Francese sowie der Accademia Italiana dell’Opera Lirica unterrichtet. Er war Leiter des Centro Ward Italiano di Pedagogia Musicale mit Sitz in Rom, an dem er eine Reihe von Jahren unterrichtet hat. Er gibt Unterricht in Chorgesang am Conservatorio F. Cilea in der Reggio Calabria sowie in Chorleitung in einem Spezialisierungskurs am Konservatorium von Novara. Darüber hinaus unterrichtet er an der Hochschule für Chorleiter der Fondazione Guido d’Arezzo und ist ordentlicher Professor für Chorleitung am Pontificio Istituto di Musica Sacra in Rom. Email: waltermarzilli@alice.it
Übersetzt aus dem Englischen von Irene Auerbach, England
Edited by Gillian Forlivesi Heywood, Italy