Die Dinge, die man (nicht) sagen durfte - Einige Bemerkungen über den Text zum Verständnis der Renaissancemusik

Wenn man sich die Renaissancemusik genauer ansieht, erkennt man eine enge Verbindung zwischen der Musik und dem von ihr interpretierten Text. Die Madrigale zum Beispiel setzen den Text klanglich um; die Worte werden musikalisch  nicht nur durch die unterschiedlichen Melodien der einzelnen Stimmen dargestellt, sondern auch durch die Atmosphäre, die durch deren Zusammenwirken entsteht.

Diese enge Verbindung ist hilfreich, um das Verständnis in beide Richtungen zu erleichtern: der Text lenkt die Bedeutung und Intention der Musik, und die Musik gibt in ähnlicher Weise Hinweise auf das, was der Text ausdrücken will. Man kann aber nicht behaupten, dass die Aussage eines Madrigals vollständig zu erfassen sei, nicht nur wegen des zeitlichen Abstands, der sich mit Sicherheit auch auf die Sprache auswirkt, sondern auch, weil die Komponisten oft genug einen Teil ihrer Ideen, die vielleicht nicht explizit offengelegt werden durften, zu verbergen suchten.

Der vorliegende Text nimmt einige Werke der Renaissance in den Blick mit der Absicht, die Mechanismen zu beleuchten, die von den Komponisten benutzt wurden, um unangebrachte Bedeutungen zu vermeiden. Unser Text befasst sich zunächst kurz mit englischen Liedern, wonach er sich dem französischen und spanischen Repertoire zuwendet. Sicher gibt es auch in anderen Sprachen interessante Beispiele, aber unsere Auswahl beschränkt sich auf das Repertoire, das wir mit dem Vokalensemble El Grilo, das ich leite, bearbeitet haben. Bevor ich fortfahre, möchte ich noch hinzufügen, dass dies kein vollständiger oder abgeschlossener Text, sondern eher ein Zwischenbericht ist, den wir gern mitteilen  möchten und der von der Freude erzählt, die wir am Spiel mit Worten und Musik hatten, deren Entstehung über vierhundert Jahre zurückliegt. Dabei lässt sich diese Reflexion sicherlich auf jede Art von Chormusik anwenden.  

Die der Sprache eigene Ambiguität spielt hierbei eine große Rolle, und es ist  immer wichtig, dies im Auge zu behalten. Häufig hat man es mit Texten zu tun, die nicht leicht zu verstehen sind, und wenn man beim Erschließen der Bedeutung eines Wortes immer vom Offensichtlichsten ausgeht, kann das schön in die Irre führen. Das Interpretieren kann eine echte Herausforderung darstellen, wenn die Sprache, in der das Madrigal geschrieben wurde, nicht die eigene ist, aber selbst, wenn es um die eigene Muttersprache geht, können Ausdrücke schwer zu entschlüsseln sein.  Ein gutes Beispiel für das Gesagte ist das berühmte Ballett “Now is the month of maying” von Thomas Morley, dessen Anfang erzählt, wie glücklich die jungen Männer mit ihren jungen Frauen sind, wenn sie auf der grünen Wiese spielen. Der Text fährt mit einer Anspielung auf Nymphen fort – ein Bild, das häufig benutzt wird, um schöne junge Frauen zu beschreiben -, und am Schluss kommt der Vorschlag, der klarmacht, um was es bei dieser Angelegenheit geht: „Sagt an, ihr schönen Nymphen, wollen wir ‘barley-break’ spielen?”, ein Spiel, das in der zeitgenössischen Literatur mit sexuellen Konnotationen verknüpft ist. Egal, wie ahnungslos man an  dieses Werk herangeht, es gibt genügend Anzeichen um zu erkennen, dass hier etwas unterschwellig verborgen liegt.

Ein anderes gutes Beispiel für die in der englischen Musik so häufig anzutreffende Ambiguität ist in “Of all the birds” von John Bartlet zu finden. In diesem Lied wird ein Spatz mit menschlichen Eigenschaften beschrieben, ohne dass man wissen könnte, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt. Phillip, im Grunde ein männlicher Name, scheint dem häufigen Gebrauch weiblicher Vornamen zu widersprechen. Ähnlich unklar ist der Text bei der Beschreibung der Tugenden dieser Kreatur, denn die zahlreichen Anspielungen auf singende, zwitschernde und aufgeregt tuende Lippen und Zungen lassen einen kaum annehmen, dass es bei diesem Lied wirklich nur um die Beschreibung eines besonders talentierten Vogels geht.

Bevor wir England verlassen, ist noch ein Werk zu erwähnen, das unsere Aufmerksamkeit verdient, da es eine so andere Gemütsbewegung hervorruft. Unter allen Anspielungen auf den Tod, die man in der Renaissancemusik über die Liebe finden kann, ist die vom Ende von “Weep oh mine eyes” von John Bennet besonders bemerkenswert. Es geht hier vor allem um die picardische Terz, die am ansonsten stets schmerzhaften Schluss einer Liebesgeschichte wirklich sonderbar wirkt. Ich muss hier immer an die Professoren meiner Studentenzeit denken, die des öfteren auf die beiden Bedeutungen hinwiesen, die der Tod in der Renaissance hatte: er war nicht nur das Ende des Lebens, sondern auch Höhepunkt des Liebesaktes. Die kleine Überraschung, die sich Bennet für den Schluss aufhebt, scheint in der Tat ein Beleg für die Relevanz der zuletzt genannten Bedeutung zu sein.

Und über die Picardie führt uns diese Revue der Doppeldeutigkeiten nach Frankreich, wo das, was man eigentlich nicht sagen durfte, oft doch gesagt wurde. Denn obwohl sich die Franzosen in dem, was sie sagen wollten, weniger Beschränkungen auferlegten als die Engländer, die das Unsagbare so gern unter dem Deckmantel von „Vögelchen und Bienchen“ vorbrachten, konnten sie nicht umhin, sich gewisser Strategien zu bedienen, um die Aussage zu übermitteln, um die es dem Komponisten ging.

Gerüchte erzeugen Neugier, und die Franzosen waren sich dessen sehr bewusst. Allein die Aussage, dass es etwas Interessantes zu berichten gibt – selbst wenn man im Grunde nicht bereit war, es zu tun -, rief unmittelbares Interesse hervor. Das ist der Fall beim Chanson “Je ne l’ose dire” von Piérre Certon. Der Text geht in etwa so: „In unserer Stadt gibt es einen Mann, der auf seine Frau eifersüchtig ist, er ist nicht ohne Grund eifersüchtig, denn er ist ein Gehörnter.“ Was hier so fasziniert ist das Beharren des Chores darauf, dass er sich etwas nicht zu sagen traut, wobei es nicht um das Geheimnis der Untreue gehen kann, die schon so klar formuliert wurde. Also bleiben nur Fragen in Bezug auf den Verfasser des Textes, auf den Komponisten, die Choristen oder gar den Chorleiter, die möglicherweise etwas getan haben, was geheim zu halten ist. In diesem Fall besteht der Reiz nicht nur im Zusammenspiel der Stimmen, sondern auch in der Idee eines nicht preisgegebenen Geheimnisses, was dieses Lied für Chöre so interessant und amüsant macht. Ist noch etwas unklar? Nun ja, vielleicht ist dies ja eines der  Geheimnisse, die nie gelüftet werden.

Es gibt eine kleine sprachliche Besonderheit, die schon immer meine Aufmerksamkeit erregt hat:  die identische Etymologie des spanischen besar, des portugiesischen beijar, des italienischen baciare und des französischen baiser. Nur dass sich diese Etymologie im Französischen etwas weiter entwickelt hat und mehr bedeutet als einen bloßen Kuss. Dies führt zu der Frage, wann, wenn von einem einfachen Kuss die Rede ist,  deutlich mehr gemeint ist. Ein schönes Beispiel dafür ist “Petite nymphe folastre” von Clément Janequin. Das Chanson wendet sich zärtlich an eine Nymphe, die einen Mann befriedigen soll, indem sie ihn tausend Mal am Tage küsst. Hier ist die Frage, ob es sich nicht eher um einen Kuss im französischen Sinne handelt.

“Le chant de l’alouette”, vom gleichen Komponisten, war eine interessante Herausforderung, bei der uns die Musik half, den Inhalt des Textes zu entschlüsseln. Das Werk beginnt mit einer Frau, die sich offensichtlich verschlafen hat: „Es ist schon Tag, steh auf und horch auf die Lerche“. Gleich darauf schafft Janequin eine Atmosphäre auf der Grundlage von drei Textteilen, die im besten Stile einer vielstimmigen Motette gleichzeitig vorgetragen werden: 1) „Es ist Tag“; 2) „Kleine“, was sich sowohl auf die Lerche wie auf die Frau beziehen kann; 3) „Was sagt dir Gott?“ Nach einem Übergang mit Lautmalereien scheint sich eine Antwort auf die letzte Frage abzuzeichnen: „Lasst uns diesen heuchlerischen und eifersüchtigen Gehörnten töten!“  Man muss dazusagen, dass von allen Schmähungen die gerade genannten die harmlosesten sind, mit denen ein Mann charakterisiert wird, der bis dahin nicht erwähnt wurde. Allerdings werden alle diese Beleidigungen und Ausdrücke gleichzeitig vorgebracht und nicht nur durch die Polyphonie, sondern auch durch die Vielfalt der Textteile nuanciert: Die Sopranistinnen geben eine emphatische Antwort: Der Mann soll nicht weiter leben, damit die Frau sich vergnügen kann; die Altistinnen denken über den Kuckuck als Vogel nach, aber auch in der französischen Doppelbedeutung eines „gehörnten Mannes“; Tenöre und Bässe stellen gemeinsam ein paar Ideen vor, um das Ganze abzurunden. Am Schluss, den ich den Sängern nahebringe wie eine therapeutische Katharsis aller möglicher Empfindungen, die sie vielleicht noch nicht ausgedrückt haben, lassen nicht nur der Text, sondern auch die Notenwiederholungen den Schluss zu, dass sich hier etwas sehr Emotionales abspielt: Bei all dieser wunderbaren Aufregung, deren Textteile für eine unvorbereitete Hörerschaft schwer auseinanderzuhalten sind, haben wir es mit einer Ode an das Vergnügen und die Lustbarkeit zu tun. Sie weist darauf hin, dass es unerlässlich ist, sinnliche Vergnügungen zu suchen, da man andernfalls stirbt; vermutlich eine der beiden Todesarten der Renaissancezeit, die wir schon erwähnt haben.

Schließlich finden sich im spanischen Repertoire weitere Strategien, die sowohl von Komponisten wie von Poeten benutzt wurden.  Ein besonders interessantes Beispiel ist “Dale si le das”, ein Lied, das zum Cancionero de Palacio gehört. Bei diesem Lied wird der Reim unterbrochen, und anstelle des Wortes, das man aufgrund des vorangehenden Verses erwarten könnte, wird ein neues Element eingefügt, das das, was nicht gesagt werden durfte, vermeidet:

Otra mozuela de buen rejo

Mostrado me habia su pende…. [pendejo]

Con qu’ella se pendaba.

 

Eine andere forsche Dirne

Hatte mir ihren Kamm…[Schamhaar] gezeigt

Mit dem sie sich kämmte.  

  

Wäre der Reim regelgerecht gebildet worden, wäre der Inhalt dessen, was gesungen wurde, sehr anders gewesen. Da aber ein aufmerksamer Zuhörer ein Wort erwartete, das sich auf rejo reimt, konnte er den anstößigen Inhalt perfekt verstehen: pendejo, also Schamhaare. Für sich genommen waren pende und pendaba Wörter, die es im zeitgenössischen Spanisch nicht gab. Vielleicht ging man bei dem Wortspiel davon aus, dass diejenigen, die den Reim nicht kapierten, den Wörtern etwas ihnen Vertrautes unterlegten wie peine (Kamm) und peinaba (kämmte). Auch die anderen Strophen dieses Liedes enthalten derartige Wortspiele und eine ähnliche Lösung, wobei ich aber zugeben muss, dass sich der Sinn dieser Wortspiele in ihrer Gesamtheit heute nicht schlüssig deuten lässt.

 „Stutzt die scharfen Schwerter, die bösen Zungen“ (Corten espadas afiladas, lenguas malas). Dieses dramatische spanische Lied zeigt sehr gut, wie stark in der Renaissancezeit die Reaktion auf all das war, was sich nicht zu sagen gehörte. In diesem Lied sagt jemand, dass er beschuldigt wurde, mit dem „jungfräulichen Mädchen“ (niña virgo) geschlafen zu haben, woraufhin er Gott in seinem frommsten Latein darum bittet, ihn von diesen bösen Zungen zu befreien. Es handelt sich hier wohl um ein weiteres Geheimnis, das nie gelüftet werden wird, denn man kann nicht wissen, ob die Bosheit dieser Zungen darin besteht, etwas erfunden zu haben, das nicht stimmte, oder etwas gesagt zu haben, das sich nicht gehörte.  

Ich bin fest davon überzeugt, dass sich das Vermögen der Chormusik, uns zu bewegen, erhöht, wenn sowohl Chorleiter wie Sänger wissen, wovon der Text eines Werkes handelt. Hierbei ist jedes Wort wichtig und kann der Schlüssel zum Verständnis des Ganzen sein. Auch der Klang eines Wortes ist oft genug bewusst gewählt, wie bei Janequins Lerche, denn in dem Moment, als die Aufforderung „Horch auf die Lerche“ ertönt, wird der Gesang des Vogels offenbar nachgeahmt. Allerdings ist die Bedeutung eines Musikwerks immer vielfältig: die Metaphern, die vom Textdichter geschaffen wurden; die Bedeutung, wie sie vom Komponisten aufgefasst und ausgewählt wurde; die Ideen, die in der Renaissancezeit geläufig waren und uns wegen fehlender Dokumentation oder Illustration heute fremd erscheinen; die Deutung, die sich der Chorleiter zu eigen gemacht hat und dem Chor und schließlich dem Publikum vermittelt, ohne dass es möglich wäre, eine Übereinstimmung mit allen früheren Deutungen zu erreichen. Gleichwohl ist zu sagen, dass der ursprüngliche Sinn, wenn man ihn denn erschließen kann, nicht so wichtig ist wie das Interpretieren der Musik auf der Grundlage einer Bedeutung. Andernfalls wirkt die Musik leer und absichtslos. Sogar das Bewusstsein um die Schwierigkeit des Verständnisses und das mögliche Vorhandensein versteckter Aussageabsichten bereichert die Musik, so dass sie die Zuhörer bewegen und der Chor das Singen genießen kann.

 

Manuel Oviedo-Vélez begann sein Jurastudium im Jahre 2000. Zwei Jahre später nahm er als Schüler der Professorin Cecilia Espinosa Arango auch ein Musikstudium mit dem Schwerpunkt Chorleitung auf. 2006 gründete er das Vokalensemble „El Grilo“, mit dem er vor allem Renaissance- und Barockmusik aufführt. 2012 promovierte er in Rechtstheorie und ist seitdem Professor an der Juristischen Fakultät der Universität EAFIT. Gleichzeitig leitet er weiterhin „El Grilo“ und singt im Chor des Musikwissenschaftlichen Instituts der gleichen Universität. moviedo@eafit.edu.co

Der vorliegende Artikel ist meiner verehrten Lehrerin Cecilia Espinosa A. gewidmet, die es auf sich genommen hatte, mich durch diese Wegstrecke zu führen, wobei sie stets die Neugier und Gefühle eines  Kindes bewahrte.

 

Übersetzt aus dem Spanischen von Reinhard Kißler, Deutschland