Weltjugendchor Arbeitsphase Sommer 2010
von Betzabé Juárez Vargas (Mexiko)
Vor vielen Jahren hatten einige Leute einen Traum: einen Ort zu schaffen, an dem Nationalitäten, Hautfarbe, politische und religiöse Überzeugungen keine Rolle spielen – einen Ort, an dem alle dieselbe Sprache sprechen und in Einigkeit zusammenleben. Vor 21 Jahren wurde dieser Traum Wirklichkeit: Der Ort ist der Weltjugendchor und die Sprache ist die Musik.
Der Weltjugendchor ist wirklich in jeder Hinsicht ein lehrreiches Experiment. Junge Sänger/innen aus aller Welt vereinen sich in diesem äußerst wichtigen, in seiner Art weltweit einzigartigen Chor, nur um einen Monat lang auf höchstem Niveau zu musizieren. Nichts könnte mich mit mehr Stolz erfüllen, als an diesem fantastischen Projekt teilzunehmen.
Zu Beginn weiß man nur, dass man die Chance bekommen wird, ein neues Repertoire zu singen, mit wichtigen Chorleiter/innen zu arbeiten, sich als Musiker/in zu verbessern und das eigene Können zu testen. Doch dieser Chor vermittelt so viel mehr.
Beim diesjährigen Sommertreffen waren wir an einem der weltweit schönsten Orte untergebracht: in Puerto de la Cruz auf der Kanarischen Insel Teneriffa. Das verdanken wir dem Kulturverband Reyes Bartlet (CARB) und dem Movimento Coral Català, die unterstützt werden von den Chorvereinigungen International Federation for Choral Music, Europa Cantat und Jeunesses Musicales, den Schirmherren des Weltjugendchores. Sie alle glauben an das Projekt und wollen den Traum lebendig erhalten.
Und so begann die Arbeitsphase dieses Sommers. Es ist sehr spannend zu beobachten, wie sich Sänger/innen aus aller Herren Länder zusammenfinden zu dem einzigen Zweck, Musik zu gestalten. Der erste Tag ist der allgemeinen Begrüßung gewidmet. Man sieht junge Sänger/innen, die nicht genau wissen, was sie erwartet, die ganz gespannt und nervös diesem erstaunlichen Experiment entgegensehen, und alte Mitglieder, die sich umarmen, und sich dann mit all den neuen fremden Menschen bekannt machen, mit denen sie so viel Zeit verbringen werden.
Unter der Leitung von Ragnar Rasmussen (Norwegen) und Josep Vila I Casanas (Katalonien, Spanien), unterstützt von unseren ausgezeichneten Sektionsleiter/innen, Maria Valmaa, Lhente-Mari Pitout und Kristopher Snarby verbrachten wir arbeitsreiche Tage mit Singen, Studieren, Proben. Alle waren darum bemüht, diesen „gemischten Chor“ nicht unter das bekannte hohe Niveau ausgezeichneter musikalischer Qualität sinken zu lassen.
Aber harte Arbeit war nicht alles. Wir bekamen auch die Gelegenheit, Teneriffa im V.I.P.-Stil kennen zu lernen: Die Organisatoren führten uns auf den großartigen Teide, wo wir viel Spaß hatten. Auch während des Proben-Camps konnten einige zum Strand, Lago Martiánez, Loro Parque gehen, andere Stadtbummel machen oder den Abend mit Salsa tanzen verbringen.
Während unserer Zeit in Puerto de la Cruz betreute uns jeden Tag eine Gruppe von Ehrenamtlichen: Oti Bazo, Susi Pérez, Marianne Fernández, Sergio Rodriguez, Lisa und Nieves Su Ming, Leire Acosta, Aitor Mora und Cristo Velásquez (Präsident des CARB). Sie waren stets guter Laune und äußerst hilfsbereit. Wir fühlten uns in ihrer Gesellschaft sehr wohl und werden ihnen immer dankbar sein.
Während der Arbeitsphase dieses Sommers schloss sich Marina Velásquez von CARB dem Chor an: Wie unser Schutzengel kümmerte sie sich um jedes Detail. Wir schätzen ihr großes liebevolles Engagement für das Projekt sehr.
Zu bald kam der Tag unseres ersten Konzerts. Die Mitglieder sprachen untereinander: “Sind wir genügend vorbereitet? Wird es ein gutes Konzert werden? Können wir diese schwierige Musik wirklich aufführen?“ Wir fühlten, dass wir noch mehr Proben brauchten. Aber dann standen wir in dieser schönen Kirche auf der Bühne und die Show begann. Das Ergebnis war wunderbar: Wir klangen wie eine Seele, eine große Stimme, die durch die Musik spricht.
Ich kann nur versuchsweise dieses außergewöhnliche Gefühl beschreiben: In nur wenigen Tagen waren wir zu einer Einheit verschmolzen, als hätten wir schon viel länger zusammen gearbeitet. Und als größtes Wunder erschien uns das Erlebnis der ständigen Steigerung und Verbesserung. Als wir mit der Musik vertrauter waren, konnten wir intensiver auf die Dirigent/innen achten und so vor jedem neuen Publikum unser Bestes geben.
Der erste Teil des diesjährigen Repertoires bestand aus Chormusik von skandinavischen Komponist/innen des 20. Jahrhunderts. Unter der Leitung des stilistisch einmaligen Herrn Rasmussen gelang es uns, das Publikum in jedem Konzert mit einer anderen Aufführungsweise zu überraschen. Die Herausforderung dieses Repertoires bestand darin, die gegensätzlichen Stimmungen der Musikstücke wirklich zum Ausdruck zu bringen: „Varen“ von Edvard Grieg beschwört mit seiner schönen Melodie den Frühling herauf; bei der Aufführung von „Warning to the Rich“ von Thomas Jennefelt mussten wir nicht nur guten Gesang sondern auch Schauspielkunst zeigen; Außerdem standen auf dem Programm „Luceat“ von Mikko Heiniö, „Laudes Debitas Deo Nostro“ von Wolfgang Plagge, „Peace I leave with you“ von Knut Nystedt, „Credo“ von Egil Hovland, „And death shall have no dominion“ von Sverre Bergh. Zuletzt sangen wir mit Jan Sanströms „Biegga Luothe“ unter dem Klang einer Solostimme – yoiking, mit feierlicher Trommelbegleitung den Bergwind an.
Ich werde immer aufs Neue von der Vielseitigkeit dieses Chores überrascht.
Die nachfolgende Reise war ein wenig anders, aber auch sehr anregend. Vila I Casanas machte mit uns eine höchst interessante Tour durch die Chormusik der Mittelmeerwelt. Wir sangen: „Esbozos sobre un tema cántabro“ von Jesús Eguiguren, „Campanes sobre el mar“ von Joan Maria Thomas, „Chácaras Blancas“ von Juan José Falcón Sanabria, „Ohihu hau“ von David Azurza, „Dos canciones de anochecer“ von Alejandro Yagüe nach Gedichten von Frederico Garcia Lorca, „Les neus que es fonen“ von Enric Morera, „Lela“ von Rosendo Mato, „Nawa Isbahan“ von Juan Pablo de Juan, „Canto negro“ von Xavier Monsalvage und „Després“, eines der anspruchsvollsten Stücke des ganzen Repertoires , das Feliu Gasull als Auftragsstück des Katalanischen Chorverbandes für den Weltjugendchor 2010 komponiert hatte. Dies zu singen war eine besondere Erfahrung: Herr Vila hat die große Leistung vollbracht, unvereinbar Scheinendes zusammenzufügen. Als wir das Stück endlich „geschafft“ hatten, stellte sich ein überwältigendes Gefühl ein. Es machte uns viel Spaß – besonders durch die fantastische Zusammenarbeit mit Josep.
In Las Palmas fand die erste farbenfrohe Länder- Präsentation statt, als alle 80 Sänger/innen aus 38 verschiedenen Ländern sich in ihren Nationaltrachten auf einer Bühne vorstellen konnten. Zusammen standen wir dort trotz möglicher Konflikte und ideologischer Unterschiede, weil die Musik wie kaum eine andere Kraft die Welt wirklich vereint. Wenn du Zeuge eines solchen Prozesses bist, zweifelst du nicht daran, dass der Weltjugendchor die Auszeichnung UNESCO Artist for Peace verdient hat; die Mitwirkung an diesem bedeutungsvollen Geschehen könnte ich mit keinem anderen Erlebnis vergleichen.
Während unserer Konzertreise besuchten wir bezaubernde Orte wie Teneriffa, Las Palmas, Donostia-San Sebastián, Burgos, Menorca und Barcelona. Ohne die Zusammenarbeit der Regierung der Kanarischen Inseln mit Cabildo de Tenerife, Puerto de la Cruz, Las Palmas, der Stadtverwaltung von Burgos, dem Chorverband von Pais Vasco, Joventuts Musicals of Ciutadella und Linguamon wäre dieses umfangreiche Programm nicht durchzuführen gewesen.
Es gibt eine Person, die vor, während und nach jeder Arbeitsphase arbeitet; der das Fortbestehen und die richtige Entwicklung des Projekts zum Lebenswerk geworden ist: Das ist der Projektmanager, Herr Vladimir Opacic, durch dessen umfassende Organisation wir uns leicht in diesem wunderbaren Erlebnis zurechtfinden können. Aber er ist viel mehr als nur ein Manager: Er ist es, der jedes Mitglied in dieser besonderen Familie willkommen heißt; er fördert Respekt, Freundschaft, Toleranz, und, was am wichtigsten ist, er feuert den Chor an, in jeder Probe und in jedem Konzert sein Bestes zu geben. Er ist ein echter Förderer der Botschaft des Weltjugendchores; ihn in unserer Führung zu haben ist ein wahrer Glücksfall.
Das letzte Konzert war gefühlsgeladen, weil uns bewusst wurde, dass der Zeitpunkt der Rückreise gekommen war: Für einige von uns würde dies das letzte Konzert mit diesem wunderbaren Chor sein, was bedeutete, dass wir uns wahrscheinlich für lange Zeit weder sehen noch zusammen singen würden. Wir sangen für das Publikum, aber in erster Linie sangen wir für uns selbst, für unsere Freunde, für unsere Lieben nah und fern. Plötzlich schienen die zurückliegenden Wochen zu schnell vergangen zu sein, und das ganze Geschehen fühlte sich wie das Erlebnis eines Augenblicks an. An jenem Abend sangen, lachten, weinten wir: Für mich war es das beste Konzert, weil all unsere Gefühle in der Musik ausgedrückt wurden und deshalb niemand irgendwo etwas Ähnliches hören kann.
Heutzutage brauchen wir einen Ort, an dem wir uns daran erinnern, dass wir in Frieden zusammenleben und mit vereinter Kraft etwas Reines schaffen können; einen Ort, an dem wir auf dem schweren Weg zu wahrer Professionalität gestärkt werden. Und deshalb muss der Chor lange leben.
Dieser Chor hat mich gelehrt mich anders zu sehen; das änderte meine Einschätzung meiner Talente und Grenzen. In der Gemeinschaft von solch großartigen Menschen wurden viele berufliche und persönliche Anliegen in die richtige Perspektive gerückt, so dass ich mit dieser neuen Ausrichtung leben, die Welt erforschen, meinen Alltag gestalten werde mein Leben lang. Dies kann man nur zu Hause lernen: Der Chor ist zu meinem zweiten Zuhause geworden.
Zum Schluss möchte ich sagen: der Weltjugendchor ist ein großes Netzwerk nicht nur hochqualifizierter Musiker, sondern auch faszinierender Menschen mit einem außerordentlichen Seelenleben. Hier kannst du deine/n beste/n Freund/in, Seelenverwandte oder sogar deine/n Partner/in fürs Leben finden.
Der Weltjugendchor verändert dein Leben für immer!
Betzabé Juàrez Vargas (Mexiko) Weltjugendchor 2009 und 2010.Weltkammerchor 2009 Jubiläumstreffen. Mitglied der La Capella Virreinal de la Nueva Espana unter der Leitung von Aurelio Tello, der Capella Cervantina geleitet von Horacio Franco und des Kammerchores der National School of Music (ENM) der UNAM, geleitet von Dr. Samuel Pascoe. Gesangsstudium an der ENM. E-Mail: betzasinger@gmail.com
Übersetzt aus dem Englischen von Christa Sondermann, Deutschland