Beim Komponieren an die Ausführenden denken: Ein Gespräch mit dem russischen Chorkomponisten Sergey Yekimov

Kevin L. Coker, Chordirigent und Lehrer

Kevin L. Coker: Was sind Ihre musikalischen Einflüsse, und wie haben sie Ihre Entwicklung zum Chorkomponisten begleitet?

Sergey Yekimov: Wahrscheinlich sind wir Komponisten alle irgendwie Schüler des großen Johann Sebastian Bach …Und selbst diejenigen, die seinen Einfluss auf sich leugnen, heucheln entweder oder wurden missverstanden. … Bachs Talent und Format waren so groß, dass wir alle indirekt seine Nachfolger sind. Auf der anderen Seite spielten Komponisten der polnischen Schule wie Witold Lutosławski und Krzysztof Penderecki, dann auch Komponisten der früheren Sowjetunion wie Alfred Schnittke, Rodion Schtschedrin, Arvo Pärt und Giya Kancheli eine große Rolle in meiner Entwicklung zum Komponisten. Ich war auch beeinflusst von György Ligeti, Olivier Messiaen, und natürlich von den Komponisten unserer St. Petersburger Schule, die auf dem außergewöhnlichen Dmitri Schostakowitsch fußen.

Wie bekannt gibt es nur sieben Tonschritte. Im Prinzip ist alle Musik schon seit langer Zeit komponiert worden, und die einmal geschriebene Erfindung eines Komponisten wird ständig wiederholt. An diesem Punkt muss das wirkliche Talent des Komponisten übernehmen. Er muss das Interesse anderer an sich ziehen, indem er eigene Wege findet, sich auszudrücken, damit seine Musik aufgeführt und gehört wird. Dann wird es sein EIGENES, einzigartiges und wieder erkennbares Konzept sein, sein Stil und seine Handschrift.

 

Gibt es wiedererkennbare Eigenheiten Ihrer Chorwerke? Wie haben sich diese Eigenheiten verändert oder über die Jahre entwickelt?

Zunächst einmal sind alle meine Kompositionen Polyphonie. Unglücklicherweise können nicht alle Chöre (wenn wir jetzt über Chormusik reden) meine Stücke singen. Ich verwende oft Pointillismus und Aleatorik; Reihentechnik allerdings nicht so häufig. Ich lege Wert darauf, dass die Melodie (ganz gleich, wie kompliziert sie ist) nicht hinter den modernen Chorschreibweisen verloren geht, der Text (also die Worte) auch nicht, obwohl mein Stil jetzt vielleicht transparenter und einfacher im Vergleich zu den Werken meiner Jugend geworden ist. Ich wurde wählerischer, wenn es um das Aufbrechen der Struktur oder um die Vermehrung von Stimmaufspaltungen geht, auch aufmerksamer bei rhythmischer und melodischer Kompliziertheit. Vielleicht habe ich mich mehr um die Aufführenden zu kümmern begonnen – sie müssen es ja alle singen! Schon vor langem kam ich zum Schluss, dass nichts wirkungsvoller ist als der Instrumentalklang des Chores. Wenn der Chor wie ein Orchester klingt – das ist cool! (Umgekehrt übrigens auch!)

Können Sie uns etwas über Ihre Einsichten erzählen, die das Verwenden der Stimme und das Schreiben für die Stimme betreffen?

Nach der Art meiner musikalischen Erziehung ist der größte Anteil meiner Musik entweder für Chor oder vokale Kammermusik. Ich schloss das College und das Konservatorium, dann die Graduiertenschule als Chordirigent ab und erst in zweiter Linie als Komponist. Mehr als 20 Jahre lang sang ich in verschiedenen Chören und Ensembles. Daher kenne ich die menschliche Stimme als ein Instrument sehr genau. Vokal- und Chormusik ist mir am liebsten und nächsten.

 

Was sind die anspruchsvollsten und erfreulichsten Aspekte in Ihrem schöpferischen Prozess?

Beim Schreiben meiner Partituren bin ich konservativ. Wie große Menschen vor mir liebe ich es, meine Noten selbst mit der Hand zu schreiben und sie nicht etwa am Computer zu drucken oder dort zu komponieren. Das heißt nicht, dass ich Computertechnologie missachte, aber meinen Sie nicht, dass Mozart, Brahms und Tschaikowsky dennoch irgendwie ohne Computer auskamen? Nicht wahr? Für mich ist daher das Neuschreiben zur endlichen Schlussvorlage die schwierigste und zeitraubendste Aufgabe. Obwohl das Zeit kostet, betrachte ich das Neuausschreiben als einen wesentlichen Teil beim Schöpfen jedweder Komposition. Schließlich singt man beim Abschreiben alle vertikalen und horizontalen Linien mit, guckt sich noch einmal alle Stimmführungen an, und manchmal nimmt man noch wesentliche Änderungen vor. Das Erfreulichste ist, wenn man gerade die Partitur von Hand abgeschrieben hat, sie jemand zum ersten Mal zeigt und die erste Reaktion hört! Es ist aufregend, wichtig, aber auch sehr erhellend.

 

Wie fühlt es sich an, wenn Sie Ihre Musik zum ersten Mal aufgeführt hören?

Es ist jedes Mal eine große Unruhe – eine Beunruhigung wegen der Ausführenden und wie sie wohl damit klarkommen. Es ist auch sehr wichtig, dass die gewaltigen Vorbereitungen für die erste Aufführung nicht umsonst waren. Aber werden die Zuhörer das auch gut finden?  Es ist immer so schwierig, es vorherzusagen. Manchmal sind Kompositionen offensichtlich auf Erfolg getrimmt, aber gewöhnlich ist es unmöglich, die Reaktion des Publikums vorherzusagen. Und wie schön, wenn deine Komposition von den Hörern enthusiastisch aufgenommen wird, während du dachtest, du hättest nichts Großes geschrieben. Das ist so schön, man sollte es nicht verbergen.

 

Welche ist Ihre eigene Lieblingskomposition, und warum?

Ich liebe den Kompositionsprozess an sich, und offen gestanden ist jedes Werk wie ein Kind. Erst trägt man sich mit der Idee, dann fängt man an mit dem Schaffen. Dieser Vorgang kann schnell und leicht sein oder kompliziert und zeitraubend. Gleichzeitig ist der Vorgang wahnsinnig aufregend und benötigt viel Anstrengung, Energie, Aufmerksamkeit und Zeit. Und wie zufrieden und glücklich man ist, wenn man am Ende alles richtig gemacht hat! Manchmal stimmt der Geschmack der Zuhörer, manchmal auch derjenige der Ausführenden nicht mit der Meinung des Autors überein. Manchmal wird ein Werk, auf das man selbst kein besonderes Gewicht gelegt hat, das populärste von allen und deine Visitenkarte fürs ganze Leben. Und umgekehrt kommt es vor, dass ein Werk, auf das du viel Zeit beim Schreiben, beim Hin- und Herwenden in Gedanken, beim Polieren jeder Note verwendet hast, keine besondere Beachtung findet und nicht so häufig aufgeführt wird, wie du es gerne hättest.

Das geschah mir auch 1993, als ich im ersten Jahr in der Chorleiterklasse am Konservatorium in St Petersburg studierte. Ich komponierte einen Choral, der ungefähr eine Minute und vierzig Sekunden lang war und den lustigen Titel “Kangaroo“ trug. Der Text, ohne Bezug zum australischen Tier, stammt aus einem Gedicht des russischen Dichters Nikolai Gumiljov, vom Anfang des 20. Jahrhunderts. Fast ein Vierteljahrhundert lang war dies mein beliebtestes und am häufigsten aufgeführtes Werk.

Sergey Yekimov at the piano

Woran arbeiten Sie gerade? Gibt es bestimmte Werkgattungen, an denen Sie in Zukunft arbeiten möchten?

Im Augenblick arbeite ich viel in der Gattung orthodoxer geistlicher Musik. Nicht nur, weil in Russland das langjährige Verbot des Schreibens geistlicher Musik aufgehoben wurde, sondern weil ich ein ehrliches Bedürfnis fühlte, mit dem Herzen zu komponieren. Ende 2016 ereignete sich in meinem Leben etwas Besonderes: ich wechselte zum orthodoxen Glauben, obwohl ich seit meinem 19. Lebensjahr katholisch gewesen war. Vielleicht deswegen habe ich viel Musik auf Lateinisch geschrieben.

Während meiner ganzen Entwicklung bin ich dennoch gelegentlich von orthodoxen Texten angezogen worden, von Psalmen und Gebeten. Eines meiner frühesten Werke war „Lobe den Herren, meine Seele“ (1992).

2014 gab die St. Petersburger Auferstehungskirche eine wunderbare Erstaufführung meiner bis dahin größten Komposition „Die Rede des Herrn“. Dies Werk für Chor und Glocken ist nahezu anderthalb Stunden lang, die Kirche der Auferstehung bot zur Premiere eine wundervolle Akustik. Gerade habe ich ein großes Werk abgeschlossen: „Vom Akatisthos zum Heiligen gläubigen Prinzen Alexander Nevsky“. Für Werke und Projekte in Zukunft habe ich die Idee, geistliche Konzerte zur Ehre des Heiligen Sergius von Radonezh und die Heilige gesegnete Xenia von St. Petersburg zu schreiben. Außerdem würde ich gern als Tribut an meine katholische Vergangenheit ein Te Deum und ein Requiem schreiben, des weiteren als großes Oratorium eine Johannespassion für Solisten, mehrere Chöre und Orchester komponieren – und selbst das Erschaffen einer Oper kann ich mir vorstellen.

 

Wenn überhaupt, welche Rolle spielen Auftragskompositionen in Ihrer Karriere?

Der Auftragsprozess spielt für einen Komponisten eine wichtige Rolle. Erstens stellt er das handwerkliche Können auf die Probe, schnell genug auf die Bedürfnisse der Ausführenden antworten zu können, die das Werk in Auftrag gegeben haben. Und es sind nicht immer die Ausführenden, an die man gewöhnt ist oder die man passend findet! Ich versuche jedoch so kreativ wie möglich an beauftragten Werken zu arbeiten, und das Arbeiten an ihnen ist nicht weniger spannend oder professionell. In der Folge vergesse ich manchmal sogar, dass dieses oder jenes Stück ursprünglich von jemandem bestellt wurde.

Sie sind gleichzeitig ein vollendeter Dirigent. Wie hat die Entwicklung als Komponist Sie auf das Dirigieren vorbereitet?

Eigentlich geht das in beide Richtungen. Meine Dirigententätigkeit und das Chorsingen weckten den Wunsch, selbst zu komponieren. Immer wieder habe ich meine frühen Werke im St. Petersburger Jugendkammerchor aufgeführt, geleitet von der talentierten Chordirigentin Yulia Hutoretskaya. So konnte ich qualitätvolle Aufführungen meiner neuen Kompositionen praktisch sofort hören. Noch immer bin ich ihr dafür aufrichtig dankbar. Übrigens bin ich überhaupt nicht darauf aus, eigene Werke selbst zu dirigieren – man hat nie genug Zeit, die eigenen inneren Klänge perfekt auszuführen.

 

Gibt es Einsichten, wie man Ihre Werke dirigieren und interpretieren sollte?

Vermutlich dasselbe wie für die Aufführung jeder Musik! Ich will einmal als Dirigent antworten, nicht als Komponist. Für mich sind die Kriterien dieselben, selbst wenn ich ein eigenes Werk aufführe. Ich sehe es einfach als die Interpretation der Erfindung eines Komponisten. Es ist beispielsweise notwendig, alle Wünsche eines Komponisten in Betracht zu ziehen, indem man das Stück mit genauem Rhythmus, genauer Intonation, genauen Tempi und mit dem notwendigen, vom Komponisten vorgegebenen Charakter aufführt. Dies sind die Schlüssel zum Erfolg einer korrekten und kompetenten Interpretation.

 

Ihre Chöre haben in internationalen Wettbewerben gewonnen, Ihre Kompositionen werden von Chören in ganz Russland und im Ausland aufgeführt. Was inspiriert und motiviert Sie nach all diesen Erfolgen?

Liebe.

 

Ich möchte mich bei Sergei Yekimov sehr bedanken, dass er so viel Zeit geopfert hat. Darüber hinaus auch Dank an Julia Blinova für ihre Dolmetscherarbeit, die dies Interview zwischen Sergei und mir ermöglichte.

 

Pater Noster von Sergey Yekimov

 

Kevin L.. Coker

Kevin L. Coker ist Dirigent des Cincinnati Men’s Chorus und vollendet den Doctor of Musical Arts (DMA) für das Fach Dirigieren am University of Cincinnati College-Conservatory of Music. Kevin hat 10 Jahre Erfahrung im Unterricht an öffentlichen Schulen, wobei er an der Grundschule, in der mittleren und höheren Stufe unterrichtete. Von ihm geleitete Ensembles wurden zu staatlichen Konferenzen der Nationalen Musikerziehung und der Amerikanischen Chordirigenten-Vereinigung eingeladen. Neuerdings wurde der UC Men’s Chorus unter seiner Leitung zur Aufführung im Intercollegiate Men’s Choruses National Seminar in Washington D.C. eingeladen. Er erwarb einen Bachelor für Musikerziehung von der Belmont University und einen Master of Music in Chordirigieren von der Florida State University. Kevin lebt in Cincinnati OH mit seiner wunderschönen Frau Becky und ihren beiden Golden Retrievers, Codie und Abby. E-Mail: cokerkl@mail.ac.edu

 

Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Klaus L Neumann, Deutschland