Fünf Êbêrâ-Chamí-Gesänge und drei Gedichte. Analytische Annäherung an zwei Werke aus dem Repertoire der zeitgenössischen Chormusik in Kolumbien

Von Jhonnier Ochoa, Komponist und Professor der Musiktheorie

 

Fünf Êbêrâ-Chamí-Gesänge (2013)

Dies ist ein Zyklus von Liedern für einen gemischten Chor, der aus der Verwendung von einheimischen Gesängen der Gemeinschaft Ebera-Chamí (Cristianía – Antioquia, Kolumbien) hervorgeht, die fünf Musikstücken die Grundlage liefern, die von dem Komponisten Felipe Tovar geschaffen wurden. Die Thematik der ausgewählten Gesänge für diesen Zyklus beziehen sich auf verschiedene familiäre musikalische Manifestationen der indigenen Gemeinschaft, wie unter anderem ihre spirituellen, festlichen und Liebesgesänge.

  1. Êbêrâ Ûêrâ Dau Pâîma (Êbêrâ-Frau mit schwarzen Augen). Das Lied spielt auf den weiblichen Brauch an, einen Partner bei anderen Gemeinschaften zu suchen, und es entfaltet sich zwischen der Bewunderung für die ankommende Frau und dem Misstrauen, das jemand Unbekanntes erzeugt.
  2. Chi saupa pono? (Welche ist die Blume?), Jai-Gesang. Dieses Stück gründet auf einem mythischen Gesang, der sich auf die Dojurá, Flussgeister, bezieht. Darin fragt eine Mutter permanent ihre “kleine Tochter” (´káucheke´) nach einer mystischen Blume, die in Flussnähe wächst.
  3. Tila, Tila (Name einer Êbêrâ-Frau), Liebesgesang. Ein Mann lädt eine Frau dazu ein, unten zum Fluss zu ziehen, da sie schon ein Paar sind. Der Gesang reflektiert die übliche Weise der Êbêrâ, ihre Behausungen entlang der Flüsse zu verteilen, um so neue familiäre Kerne zu bilden.
  4. Ituade Choroma (Großes Maisbier-Fest), Gesang von Bebezón. Der Gesang bezieht sich auf die Jahreszeit der Maisernte.
  5. Copâre Balbinito, Gesang von Bebezón. Festgesang, mit dem die Êbêrâ-Frau andeutungsweise und eindringlich ihren Mann bittet, ihr das Maisbier anzubieten.

Anayltische Annäherung

ORGANOLOGIE: Gemischter Chor (Sopran, Alt, Tenor, Bass).

UNGEFÄHRE DAUER: 22′

FORM: In dem gesamten Werk kann man wahrnehmen, dass die formale Struktur vollständig in Beziehung zu den Texten steht. Auf diese Weise schafft es der Komponist, die wichtigsten musikalischen Materialien oder die Melodielinien aus den Originalgesängen neu herauszustellen.

  • Erster Satz: Er ist in einer ternären Struktur (ABA) konstruiert.
  • Zweiter Satz: Er ist in sechs Teile aufgeteilt, deren Zeitdauer ähnlich ist, und sie sind verwandt mit der Struktur und der poetischen Intention des Textes.
  • Dritter Satz: Genau wie der erste Satz hat er eine ternäre Struktur, bei der die Teile ähnliche Proportionen haben, und beim Finale erscheint eine Coda.
  • Vierter Satz: Die formale Struktur nimmt man als zwei große Teile wahr: der erste ist in Unterteile geteilt. Der zweite präsentiert kontrastierende Wechsel in Tempo und Textur. Fünfter Satz: Er erhält seine Einheitlichkeit durch die andauernde Wiederholung des gleichen Melodiematerials.

TEMPO UND METRUM: Allgemein sind die Tempowechsel und die Unterteilung des Metrums eng verwandt mit der formalen Struktur. Auf diese Weise stimmen die metrischen Wechsel und die Verwendung von künstlichen Akzenten mit der Aussage des Textes überein.

MELODIE: Die traditionellen Gesänge erscheinen wiederholt und klar und sind die wichtigsten Keimmaterialien. Was die Originalsprache dieser Melodien angeht, kann man sie einfassen in der Tonart der Gesänge, die für den Satz I und IV genommen wurden, und in der Modalität der Gesänge, die für die Sätze II, III und V genommen wurden. Dennoch generieren die harmonischen Verflechtungen zwischen den Haupt- und Untermelodien oder auch die Erzeugung von Klangblöcken Klänge, die man mit anderen Sprachen verbindet, sowie Polytonalismus, Pandiatonismus, Modalismus und ausgedehnten Tonalismus.

HARMONISCHE PROZESSE:

  • Erster Satz: Der erste Teil basiert auf Blöcken von triadischen, diatonischen und nicht funktionalen Akkorden der D-Dur-Tonleiter. Diese Akkorde werden durch den Gebrauch von chromatischen oder diatonischen Stütztönen verziert, die im Allgemeinen nicht die Klangkraft zerstören, die auf konventionellen triadischen Akkorden basiert. Es zeigen sich auch Akkorde, die aus dem Austausch mit dem phrygischen Modus abgeleitet sind.
  • Zweiter Satz: Er wird durch zwei tonale Zentren konstruiert: Das eine in C-Moll, das andere in G-Dur. Der harmonische Gesichtspunkt dieses Satzes wird als tonal-funktional wahrgenommen, mit nicht-modulierenden Chromatismen, die durch Tonmischungen erzeugt werden, in denen der Akkord des Grundtons ohne Vorbereitung von Dur zu Moll und umgekehrt wechselt.
  • Dritter Satz: Die Akkorde sind triadisch und von den dorischen und mixolydischen Modi abgeleitet. Der Zentralteil (cc. 17-31) hat kein definiertes harmonisches Zentrum, da das harmonische und melodische Material auf einer symmetrischen Skala oder auf einer begrenzten Transpositionsart konstruiert wird. Es ist wichtig zu erwähnen, dass dieser Teil eine in dem Stück unterschiedliche harmonische Färbung erzeugt, da die Akkorde von Sekunden und Quarten, selten aber von Terzen gebildet werden.
  • Vierter Satz: G-Dur ist das tonale Zentrum. Der Gebrauch von triadischen Akkorden mit Tonalfunktion ist rückläufig, und es erscheinen chromatisch alterierte Dominantakkorde. Außerdem zeigen sich Auflösungen, die die Dominanten ersetzen. Auch herrscht hier die den erhöhten Akkorden eigene Klangkraft als Ergebnis der alterierten Dominanten vor.
  • Fünfter Satz: Der Komponist kehrt zu D als axialem Zentrum zurück, so dass er dem Werk eine gewisse makroformale Einheit verleiht. Die Einleitung basiert auf erhöhten Akkorden, und der Teil, der in c.8 beginnt und in c.22 endet, wird ausgearbeitet auf der Basis von einigen Prinzipien des Kontrapunktes des 16. Jahrhunderts. Bis zum Ende des Satzes übernimmt er das harmonische Material des ersten.

TEXTUREN:

  • Erster Satz: Die formale Struktur zeigt einen Wechsel der Texturen. Zum Beispiel ist der erste Teil choral, während der zweite kontrapunktisch ist.
  • Zweiter Satz: Die Akkorde im Block und die Homorhythmie dominieren diese homophone Textur.
  • Dritter Satz: Er ist Choral. Die melodische Gestaltung wird durch Durchgangsnoten, Stütznoten und Sprünge zwischen Akkordnoten gegeben.
  • Vierter Satz: Die Blockakkorde und die Homorhythmie dominieren hier.
  • Fünfter Satz: Im Unterschied zu den anderen Sätzen zeigt dieser eine kontrapunktische Textur im Verlauf, und am Ende nimmt man Akkordblöcke wahr, die die Homorhythmie unterstützen.

NOTATION: Sie ist konventionell, einschließlich einiger Passagen, in denen Klangeffekte gelingen, die Kontraste in dem Werk erzeugen. Zum Beispiel die Glissandi, die sich im ganzen Werk wiederholen. Die Ausnahme zum oben genannten ist die Passage c.12, zweiter Satz; dort singen die männlichen Stimmen in zufälligen Rhythmen, die eine sonore klangliche Atmosphäre erzeugen, die die anderen Stimmen unterstützt.

KLANGFARBE Der fünfte Satz bietet eine Passage, in dem ein wichtiger Wechsel der Klangfarbe stattfindet. Der Komponist bittet die Solo-Sopransängerin, dass sie ihre technische Anordnung verändert, um die Passage mit offener Stimme zu singen, um sich so dem Stil des traditionellen Originals anzunähern. Indessen singen die weiteren Stimmen im polyphonischen Renaissance-Stil, um so eine dualistische Klangfülle zu schaffen.

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Three Poems (2012), Komponist Freddy Ochoa

Jeder Satz ahmt unterschiedliche Atmosphären nach, die Ereignisse der Natur hervorrufen. Das Werk greift auf den Gebrauch von onomatopoetischen Lauten und Körpergeräuschen zurück, um Geräusche der natürlichen Umgebung zu imitieren, wie z. B. den Gesang von Vögeln, die Geräusche von Fröschen und Insekten, und es werden unter anderem der Wind, der Regen und der Donner nachgeahmt.

  1. Night in the forest. Es erinnert an eine ruhige Landschaft in einem nächtlichen feuchten Wald. Die von den Stimmen erzeugten Effekte ahmen die fallenden Regentropfen nach, das Geräusch des Windes in den Bäumen, den Gesang der Nachtvögel, die Geräusche der Frösche und Insekten.
  2. Storm. Es beginnt mit einigen Klagegesängen, die eine Situation der Unruhe andeuten. Unruhige Vögel und andere Geräusche fließen durch die Nacht. Plötzlich erschüttert ein mächtiger Donner den nächtlichen Frieden, und ein Sturm wird entfacht. Nach dem Chaos endet der Satz, als der Regen zu verschwinden beginnt.
  3. Rising sun. Ein hinzugefügter Akkord (cluster) aus acht Klängen drückt das Verschwinden der Sonne am Horizont aus; ein neuer Tag beginnt. Ein Bienenschwarm, der von weiblichen Stimmen imitiert wird, zieht ruhig nach dem Unwetter vorüber.

Analytische Annäherung

ORGANOLOGIE: Gemischter Chor (SATB)

UNGEFÄHRE LÄNGE: 15′

FORM:

  • Erster Satz: konstruiert in sechs durch Farb- und strukturelle Wechsel fragmentierten Teilen gemäß der Poetik.
  • Zweiter Satz: Er ist in fünf Teile durch abrupte Wechsel in Textur, Dynamik und rhythmische Maße aufgeteilt.
  • Dritter Satz: Er besteht aus fünf Teilen, die klar durch Wechsel in Textur und harmonischer Dichte aufgeteilt sind.

TEMPUS UND METRIK: Im ersten wie im dritten Satz ist eine Starke Beziehung der Taktart zu den Betonungen des Textes ersichtlich. Im zweiten Satz unterstreichen die Tempiwechsel und ihre rhythmischen Artikulationen den starken Charakter des Gedichts.

MELODIE: Die melodische Bewegung wird vom Beginn der Akkorde oder der Klangblöcke her gedacht, und nicht von der individuellen Bewegung der Stimmen. Auf diese Weise werden die Linien statisch gehalten und in geraden Rängen, was am Interesse des Komponisten an diatonischen Zusatztönen liegt.

HARMONISCHE PROZESSE: Der Modalismus, die Pentatonik und die Pandiatonik sind die vorherrschenden harmonischen Mittel in dem Werk. Die vertikalen Strukturren gehorchen diatonischen, gelegentlich chromatischen Zusätzen, die aber den Modalismus als vorherrschende Sprache erhalten. Die vertikalen Strukturen werden auch anhand von Dur- und Mollakkorden mit hinzugefügten Septimen und/oder Nonen geschaffen. Das Werk zeigt in seiner Form Wechsel in Textur, Dynamik oder Rhythmus.

  • Erster Satz: Die harmonische Ergänzung ist ein Mittel, das in dem Satz permanent erscheint, indem sie Quintakkorde erzeugt, die eine modal-lydische diatonische Färbung auf D-Moll erzeugen. Die Modalität ist vorherrschend, obwohl einige nicht-diatonische Noten erscheinen.
  • Zweiter Satz: Der Ton C fungiert als axiales Zentrum. Über diesem werden Harmonien mit Tendenz zu einem mollartigen Klang konstruiert.
  • Dritter Satz: Das axiale Zentrum ist F-Dur, und wie in den anderen Sätzen werden modale Substitutionen über dem besagten Grundton oder über nahe gelegenen Tönen präsentiert. 

TEXTUREN: Die homophone Textur herrscht in dem Werk vor. Man kann von zwei Formen sprechen, die Homophonie zu behandeln: Die erste resultiert aus der Summe der Klänge, die große diatonische Zusatztöne bilden und so ätherische, flüchtige und minimalistische Klangfarben erreichen. Die zweite resultiert aus der Bewegung der Blöcke von diatonischen Akkordblöcken, die sich homorhythmisch bewegen.

MITTEL DER KLANGFARBEN: Die in dem Werk erreichte harmonische Dichte verdankt sich dem Notieren in acht Stimmen für den ersten Satz, und dem konstanten Gebrauch des divisi in den anderen beiden. Das Ergebnis dieser harmonischen Dichten erzeugt diatonische Aggregate oder triadische Strukturen, die Spannbreiten von mehr als zwei Oktaven umfassen. In dem Werk erscheinen Effekte, die unter anderem durch die Stimme, ein Pfeifen und die Handflächen erzeugt werden. Auch wenn das keine Techniken sind, die von der Stimme erzeugt werden, da die Form, in der Klang erzeugt wird (das Singen) konventionell ist, erschaffen sie Klangatmosphären, die dem Werk exotische Nuancen einhauchen. Vor allem aber dienen sie dazu, die durch die Titel der Sätze hervorgerufenen Bilder buchstäblich darzustellen. Durch die Form, in der die musikalischen Texturen und die Klangeffekte in dem Werk erschaffen werden, bemerkt man einen starken stilistischen Einfluss von nordamerikanischen Komponisten wie Eric Whitacre, Paul Helley und Morten Lauridsen.

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Die Musik des in Kolumbien geborenen Komponisten Felipe Tovar-Henao ist stark geprägt durch ein tiefes Interesse an einer weiten Vielfalt an Poetiken und Ästhetiken und dadurch, die Zuhörer auf multiple Ebenen der Wahrnehmung zu erheben, und er erhielt durch seine ganze berufliche Laufbahn eine große Anerkennung. Er hat gemeinsam studiert mit den Komponisten Andrés Posada-Saldarriaga (Kolumbien) und Marco Alunno (Italien-Kolumbien) und erwarb 2015 einen Abschluss in Musikkomposition an der Universität EAFIT (Medellín, Kolumbien), wo er auch hohe Auszeichnungen für seine Abschlusskomposition erhielt, und er erhielt ein Ehren-Lehrstipendium, um seine Graduiertenstudien an derselben Universität verfolgen zu können. Er hat auch aktiv an Master Classes und privaten Unterrichtsstunden bei renommierten Komponisten wie unter anderem Kamran Ince (Türkei-USA), Javier Álvarez (Mexiko), Alberto Villalpando (Bolivien), Víctor Agudelo (Kolumbien) und Mark Olivieri (USA), teilgenommen. 2014 wurde er durch den kolumbianischen Dirigenten Andrés Orozco-Estrada in Zusammenarbeit mit dem Symphonieorchester EAFIT und dem Orchester des Schulnetzes von Medellín mit dem Stück Tubiphona exequialis: Images for brass ensemble, percussion and celesta beauftragt. 2013 wurde er auch mit einem Kreativzuschuss durch die Verwaltung von Medellín ausgestattet, um den Gesangszyklus Fünf Embera-Chamí-Gesänge für gemischten Chor zu schreiben. Gesponsert durch die Stiftung Fraternidad-Medellín, das philharmonische Orchester von Medellín, COLFUTURO, den Kulturminister von Kolumbien sowie die Universität von Indiana arbeitet er momentan auf einen Masterabschluss in Komposition an der IU-Jacobs School of Music in Bloomington/IN hin, wo er bei dem amerikanischen Komponisten Don Freud studiert. Auch arbeitet er am JSoM / Lateinamerikanischen Musikzentrum als Musikarrangeur für das Lateinamerikanische Musikensemble.

 

Übersetzt aus dem Spanischen von Albrecht Barth, Deutschland