Robert Wīremu, Chorleiter & Pädagoge, Auckland, Neuseeland
2020 hatte ich gehofft, Sie beim World Choral Symposium in Auckland, Neuseeland, willkommen zu heißen, bei dem ich Ihnen einige Ideen vorstellen wollte, die ich entwickelt hatte – über Klang, über Raum. Das Symposium war eine sehnsüchtig erwartete Veranstaltung, die vorher noch nie im Südpazifikraum stattgefunden hatte, und – ehrlich gesagt – wurden viele TeilnehmerInnen durch den – bei uns so bezeichneten – “Lord of the Rings” Faktor angezogen. Leider geschah “etwas”, das die Absage erzwang … Covid! Die Welt versank in einer langen Siesta, SängerInnen waren ratlos und das Singen wurde plötzlich als gefährlich betrachtet. Die Absage des Symposiums war eine herzzerreißende Entscheidung, und meine Ideen wurden auf Eis gelegt … bis jetzt.
Mein Vortrag hätte den Titel “From the waha to the waharoa” – “Vom Mund zum Tor” gehabt. Das ist ein Hinweis auf das Phänomen der Kaikāranga, der außergewöhnlichen Rufer, deren Stimmen die Trennung zwischen unserer Welt und die unserer Ahnen “durchstechen”, so dass sie bezeugen können, dass die Regeln des Willkommens-Rituals korrekt durchgeführt werden. Sie wären bei Ihrer Ankunft beim Symposium Zeuge/Zeugin dieser außergewöhnlichen Klänge geworden. Meine Wahl des Wortes “durchstechen” ist nicht zufällig. Ich hoffe, dass “durchstechen” einen Eindruck hervorruft von erstaunlichen Klängen, zu denen diese Menschen fähig sind – wie sonst lädt man die Toten ein, dieser Zeremonie beizuwohnen? Stellen Sie sich nun vor, was ein solcher Klang in einer Umgebung wie St. Paul’s, London, oder San Marco, Venedig, oder der Sagrada Familia, Barcelona, anrichten würde?
So viel zum kulturellen Aspekt.
Der musikalische Aspekt von “From the waha to the waharoa” ist weniger romantisch und beruht auf einer Reihe von Provokationen und einigen umfangreichen und himmelschreienden Verallgemeinerungen, für die ich keine Notwendigkeit sehe mich zu entschuldigen. In einem Artikel dieser Länge sind Einzelheiten und Rationalisierungen Luxus, also nehmen Verallgemeinerungen überhand.
Nun geht es los…
Wenn wir uns einig sind, dass die Grundlage der westlichen (europäischen) Chormusik, der Kanon im Kern eines Großteils unserer musikalischen Aktivitäten, für Kathedralen, Kirchen and teilweise für Herrenhäuser geschaffen wurde, können wir vielleicht auch darin übereinstimmen, dass – wie die Gebäude – die Klangästhetik hoch und versammelt ist, sich auf harte, reflektierende Oberflächen verlässt, häufig in kaltem Klima. (Ich warnte Sie vor breiten Verallgemeinerungen). Harte Mauern, hohe Räume, kaltes Klima ermöglichen offenbar einen bestimmten Klang. Wir kennen diesen Klang. Wir erstreben oft diesen Klang, unabhängig davon, ob wir die dafür erforderlichen Räume haben oder nicht.
Wenn wir außerdem annehmen, dass in der Ästhetik der Chormusik anderer Kulturen, die für die Präsentation in fürstlichen Außenhöfen, Vorplätzen und Gärten geschaffen wurde, denen oft reflektierende Wände fehlen und die in wärmerem Klima liegen, der Klang dann weiter, weniger hoch, wärmer ist, und dass das harmonische Profil mehr die Verstärkung des Fundamentalen bevorzugt, dann können wir uns das leicht vorstellen. Wir kennen diesen Klang in der Pazifikregion und in Asien und in Afrika und in in den amerikanischen Ländern, sogar in Europa
Was meine ich, wenn ich einen Klang als weit bezeichne? Ich meine, dass das Klangprofil Näseln gegenüber der Kopfstimmebevorzugt. Ich meine das nicht volkstümlich, denn das schickt uns auf eine völlig falsche Fährte. Ich spreche von klassischer Musik.
In Neuseeland hat sich während der letzten beiden Dekaden ein interessantes Phänomen entwickelt, das in anderen Teilen der Welt Parallelen hat: diese beiden Dinge treffen aufeinander – Freiluftklang und Innenraum-Chor! Unter der kühnen und radikalen Leitung zweier unsere führenden ChorleiterInnen, Dr. Karen Grylls and Elise Bradley, wird traditionelle Musik der Māori zum alltäglichen Aspekt unserer Chorsprache. Angeführt zumeist von Grylls‘ Arbeit mit dem NZ Youth Choir hat die Einbeziehung authentischer Māorimusik die Perspektive unserer Chöre international völlig verändert. Von reisenden neuseeländischen Chören wird es fast erwartet – verlangt –, in ihre Programme die Musik der Māori (und der Pazifikregion) aufzunehmen. Das Publikum ist recht enttäuscht, wenn dies nicht geschieht.
Frühere Generationen von Komponisten “verchorten” Lieder der Māori – benutzten das Quellenmaterial der einen Kultur und betteten es in die Klangästhetik der anderen – die Musik ‚wanderte dem Chor entgegen‘. Durch Grylls und Bradley (in Zusammenarbeit mit Wehi[1], Cassidy-Nanai, Munro, Kaa, Cooper, Hoffmann und Tata) ‘wanderte der Chor der Musik entgegen’. Umkehr des Paradigmas!
Was meine ich damit? Die Musik wurde authentisch gelernt und präsentiert. Cassidy-Nanai[2] unterrichtete die SängerInnen in haka[3] und pukana[4], in poi[5] und parry[6], und darin, mit einer Klangästhetik zu singen, die auf ihrer Modellierung und ihrenVorlieben beruhte: weiter, und mehr Einsatz der Bruststimme, weniger der Kopfstimme, so, wie sie es gelehrt worden war.
Ich erkläre das Problem aus der Gegensicht: wenn Chöre die Möglichkeit haben, auf der ātea zu singen (der Vorplatz des marae ist ein Ort für a Rhetorik, das Reich des Kriegsgottes), wird der Klang oft beschrieben als hübsch, aber sehr leise, und geisterhaft – ganz körperlos. Die Farbe der Kopfstimme geht draußen verloren, ohne die Unterstützung hoher, schmaler Räume und harter, reflektierender Oberflächen. Das Problem für den NZ Youth Choir (die Kehrseite dieses Paradigmas) bestand darin, dass der weite, großräumige, fundamental-orientierte Māori-Klang oft kollidierte mit der Eingrenzung durch die hohen, schmalen Orte, in denen er oft auftrat (auf Tourneen in der nördlichen Hemisphäre: Kathedralen, Kirchen, herrschaftliche Häuser). Haka, kāranga usw., beim ‘den Chor den ganzen Weg zur Musik wandern lassen’ gingen wir vielleicht ‘einige Schritte zur Seite’, mit dem Ergebnis einer neuen Ästhetik, hybrid – mit der genetischen Prägung beider Eltern-Kunstformen, jedoch noch ein Heranwachsender, der seine Eigenständigkeit sucht in einem sicheren, neuen Raum, in dem er seine eigene Identität behaupten kann: etwas Aufrichtung, etwas Einsatz der Kopfstimme, ein Kompromiss.
Beschäftigen Ihre Chöre sich mit indigener Musik?
Wenn sich Ihre Chöre mit indigener Musik beschäftigen, was tun Sie, um die kulturelle Integrität, Authentizität zu bewahren? ‘Wandern Sie dorthin, wo die Musik ist’, oder sind Sie in Ihrem Engagement passiv? Nahmen Sie auch ‘Schritte zur Seite’?
Ist es möglich, so weit auf die Musik zu zu gehen, dass wir unsere eigene chorische Identität verlieren? Wahrscheinlich. Aber wie finden wir den Mittelweg, wenn wir nicht herausgehen und Grenzen abtasten? Riskieren wir es, der Musik zuliebe bewusst entgegen der Raumakustik zu arbeiten? Gewiss, lassen Sie den Raum für Sie arbeiten, bis er gegen Sie arbeitet. Welchen Preis zahlen wir für das Eine oder das Andere?
In Bezug auf den Klang, wie handhaben Sie den Raum, wenn das Repertoire so unterschiedliche Ansprüche stellt? Ein Bachchoral hat andere Ansprüche als ein Wehi haka. Offensichtlich?
Sind vielseitige Aufführungsorte die Antwort? Nein, das glaube ich nicht. Vielseitige Aufführungsorte sind gut für alles, indem sie für nichts hervorragend sind. Wir wollen Exzellenz, nicht wahr? (ich bitte um Entschuldigung, dass ich Akustik-Ingenieure überall beleidige!)
Ebenfalls, sind Halbheiten für Chöre gut genug, oder riskiert man damit auch die Authentizität?
Ich hatte mich so darauf gefreut, diese Ideen mit Ihnen in Auckland zu teilen, und auf die folgenden Unterhaltungen. Ich freute mich besonders auf die anschließenden Unterhaltungen, weil ich weiß, dass viele diese Fragen schon weltweit von meinen KollegInnen diskutiert wurden. Ihre Lösungen hätten mich fasziniert. Wir jedenfalls haben nicht alle Antworten gefunden.
Bisher!
Robert Wīremu (Ngāti Kahungunu, Ngāti Porou, Ngāti Tūwharetoa) ist ein anerkannter Befürworter klassischen Singens in Aotearoa – er lehrt, coacht, arrangiert, leitet Chöre, netzwerkt und komponiert. Er dient in Aufsichtspositionen (einschließlich der Kiri Te Kanawa Foundation, dem Auckland Chamber Choir Trust und dem SOUNZ Music Centre), als Berater (New Zealand Opera, Choirs Aotearoa New Zealand und der neuen NZ Children’s Choral Academy) und als hauptberuflicher Dozent an der School of Music, The University of Auckland. Er ist ehemaliger Leiter des NZ Secondary Students Choir und der Opera in the Pā, stellvertretender Leiter der NZ National Singing School und des NZ Youth Choir und Stimmbildner des nationalen Kammerchors Voices NZ. Seine Musik wurde kürzliche aufgeführt vom Voices New Zealand Chamber Choir, dem New Zealand Youth Choir, dem Auckland Opera Studio, dem Auckland Chamber Choir and dem Indian Ink Theatre. Roberts Arrangements von waiata erklangen beim Leeds Lieder Festival, der Opera in the Pā, dem Auckland Arts Festival, der Neubenennung des Kiri Te Kanawa Theatre, dem Whānau Konzert in der Royal Albert Hall und in der St Paul’s Cathedral, Wellington, beim Staatsgedenken an Queen Elizabeth II.
Übersetzt aus dem Englischen von Lore Auerbach, Deutschland
[1] Ngāpō (Bub) und Pīmia (Nen) Wehi waren die GründerInnen und LeiterInnen von Te Waka Huia, eines der ersten Ensembles dieser Art.
[2] Aroha Cassidy-Nanai war lange Zeit Mitglied einer Elitegruppe der kapa haka, Te Waka Huia. Sie trat in der ersten Reihe auf und war dadurch oft für Anhänger dieser Kunstform erkennbar. Sie war Lehrerin in der Sekundarstufe und traf in dieser Funktion an der Westlake Girls’ High School mit Elise Bradley und arbeitete mit ihr zusammen. Durch diese Verbindung wurde sie kulturelle Beraterin für Choirs Aotearoa NZ, bei denen der NZ Youth Choir organisiert ist. Jene von uns, die mit Aroha gearbeitet und gelernt haben, betrauerten Ihren Tod 2022.
[3] Haka ist ein Genre choreographierter Tänze, die aus verschiedenen Gründen eingesetzt werden. Die bekanntesten Haka sind Kriegshaka, dargestellt durch energische Bewegungen, im Gegensatz zu Haka zum Flirten oder zur Unterhaltung.
[4] Pūkana ist Mimik, verwendet, um die Texte von Liedern in verschiedenen Arten zu illustrieren und zu betonen. Sie nimmt meistens recht verzerrte Formen an.
[5] Poi sind leichte Bälle, die an gewebte Schnüre geknüpft sind und als Element bestimmter Liedarten geschwungen werden.
[6] Zu parieren bedeutet für Māori, eine taiaha zu schwingen – eine Art geschnitzter Speer.