Philip L. Copeland, Dirigent und Hochschullehrer
Unbestritten ist der Reichtum in der lettischen Chormusik. Ein geheimnisvolles Gefühl durchzieht die vertikalen Harmonien und die lyrischen Melodien. Zuhörer fühlen sich hineingezogen in die Klänge und Stimmungen der Komponisten, die aus diesem Teil der Welt hervortreten.
In vielen Ländern wird beim Musikunterricht versäumt, die reichen Musiktraditionen Lettlands und der anderen baltischen Staaten zu erwähnen, geschweige denn sie zu studieren. Nur wenige der heute wichtigen Dirigenten haben in ihren Entwicklungsjahren etwas über lettische Chormusik gehört. All das änderte sich in den frühen 1990er Jahren, als sich 1991 das beginnende Informationszeitalter und die Unabhängigkeit Lettlands annäherten. Die einzigartige lettische Kultur fing an, sich mit dem weltweiten Musikbewusstsein zu vereinigen.
Die lettischen Musiker haben erfolgreich ihre Ressourcen gebündelt und sie dem Rest der Welt zugänglich gemacht. Der Verlag Musica Baltica bemüht sich mit Erfolg, Partituren und Tonaufnahmen herauszubringen. Ein anderes erfolgreiches Unternehmen entstand, als sich die bisherige Editionslinie mit dem professionellen lettischen Chor Ave Sol zusammenfand, um die ausgezeichnete Anthologie lettischer Chormusik zu edieren, eine Reihe, die auf das Bücherregal jedes Dirigenten gehört. Lettische Berufschöre singen vieles dieser einzigartigen Musik, die ebenso in hervorragenden Interpretationen auf Tonträgern erschienen ist.
Das Lettische Gesangs- und Tanzfestival ist eins der herausragenden kulturellen Ereignisse in Lettland. 40.000 Sänger nehmen an diesem berühmten Treffen teil und singen Volkslieder und klassische Kompositionen. Alle fünf Jahre findet dieses große Treffen in der Hauptstadt Riga statt, der Stadt, die 2014 zur Kulturhauptstadt Europas werden und auch die Chor-Olympiade (8. World Choir Games) beherbergen wird.
Dieser Artikel ist ein Vorbote auf das im Jahr 2014 erwartete internationale Interesse an Lettland. In ihm werden drei herausragende Komponisten vorgestellt: Pēteris Vasks, Uģis Prauliņš und Ēriks Ešenvalds. Jeder dieser Komponisten kann mit einem vollen Fächer von Chormusik unterschiedlicher Schwierigkeit dienen. Dieser Artikel legt das Schwergewicht auf einige ihrer am leichtesten zugänglichen a-cappella-Kompositionen.
Pēteris Vasks (16. April 1946)
Die meisten Leute besitzen heutzutage keine Überzeugung, Liebe oder Ideale mehr. Die geistige Dimension ging verloren. Mein Bestreben ist es, Nahrung für die Seele zu bieten, und davon predige ich in meinen Werken.
– Pēteris Vasks
Pēteris Vasks, Sohn eines Baptistenpfarrers, ist einer der wichtigsten lebenden lettischen Komponisten; sein anhaltender Werdegang hatte einen großen Einfluss auf andere baltische Komponisten. Sein Werk umfasst fast jedes Genre: Orchester-, Klavier- und Kammermusik. Seine Musik wird weltweit sehr häufig in Auftritten von Spitzenchören gesungen, auch werden seine Werke regelmäßig wissenschaftlichen Analysen unterzogen.
Māte Saule (Mutter Sonne, 1975) war ein frühes Werk von Vasks und ist eins, das der Komponist als „seinem Herzen nahe“ beschreibt. In ihm sind einige seiner sehr frühen Musikstrategien enthalten, die er während seiner Komponistenkarriere entwickelt.
In Māte Saule erscheinen vier musikalische Ideen, die man als ein überzeugendes Beispiel vorzeigen kann:
- Der Gebrauch von wogenden aleatorischen Motiven als Begleitung und Steigerung/Zerstreuung der dramatischen Spannung.
- Wiederholung kleiner Motive zur Steigerung der Intensität.
- Hervorrufen des lettischen Borduns mithilfe eines durchlaufenden Tons.
- Hymnenartige Haltung, um ein Werk zu beschließen.
Māte Saule ist die Vertonung eines Texts von Jānis Peters (*1939), der Gedanken an das Mysterium des Morgens und die Pracht des Sonnenaufgangs hervorruft. Als misteriosamente bezeichnet, beginnt die Komposition mit einer Zweitonfigur, die in aleatorischer Art aufgeführt wird. Der von mehreren Sängern produzierte Klang hat eine geheimnisvolle Aura. Er ist voller überbordender Kraft.
In Bsp. 1 erzeugt das plätschernde Motiv ein Gefühl von Unruhe und bereitet den ersten Texteinsatz vor.
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Vasks’ wogende Motive erscheinen das ganze Stück hindurch. Manchmal dient das Motiv als Begleitung für andere musikalische Ideen, wie in den Einleitungstakten. Ein andermal werden die aleatorischen Elemente mit präzisen rhythmischen Einsätzen gepaart, eine Technik, die den Kompositionen von Vasks eine besondere Tönung verleiht. Die Motive wirken manchmal wie ein Punkt dramatischer Bestimmung, s. Bsp. 2.
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Diese beiden Musikbeispiele (Bsp. 1 und 2) zeigen auch den Gebrauch motivischer Wiederholung durch Vasks, ein Mittel, um dem Werk Zusammenhalt zu geben und der Musik Interesse zu verleihen. Das Übereinanderstapeln musikalischer Motive in stretto-Art ist eine verbreitete Kompositionstechnik – diesen Motiven wie bei Vasks ein aleatorisches Ziel zu geben dagegen ungewöhnlich. Das Ergebnis ist ein bemerkenswerter klanglicher Höhepunkt für das Stück, der im Takt 36 in einen Pedalbordun mündet (Bsp. 3).
Der lettische Bordun ist ein wichtiger und kennzeichnender Bestandteil der lettischen Chormusik. Vasks verwendet ihn immer im dramatischen Sinn. In dieser Komposition folgt er auf einen Augenblick des vokalen Chaos, danach beginnt ein ätherisches Duett und ein wirkungsvoller Gegensatz zum Eröffnungsteil. (Bsp. 3)
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Das Werk fängt dann an, mit einigen wenigen Takten homophoner, choralartiger, unaufgelöster Dissonanzen und einzigartig ausdrucksvoll in den Stimmen zu Ende zu kommen. (Bsp. 4) Am Ende des Werks malt Vasks ein prachtvolles Bild eines musikalischen Sonnenaufgangs in fünfzehn aufeinanderfolgenden Tönen, der im lautesten möglichen Klang endet (ffff).
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Auch in anderen Werken von Pēteris Vasks kann man gleiche musikalische Techniken entdecken, so in seinem Madrigal auf ein Gedicht von Claude de Pontoux (1976), Zemgale (1989) und Three Poems by Dzesław Milosz (1995).
Vasks MATE SAULE
© 2006 Schott Music GmbH & Co. HG – All rights reserved
Used by permission of European American Music Distributors Company, sole U.S. and Canadian agent for Universal Edition A.G., Wien
Uģis Prauliņš (17. Juni 1957)
Musik und Liebe erklären alles. Man muss sie suchen und jederzeit fleckenlos halten, denn keine Wahrheit besteht für und für. Alles ist erlaubt und nichts kann zum Absolutum gemacht werden – da nichts sicher ist außer der Liebe..
Das, was erregt, bleibt auch. Ich strebe unmittelbar nach dieser Art von Musik.
– Uģis Prauliņš
Uģis Prauliņš trägt einen vielfältigen Hintergrund von Fertigkeiten und früheren Positionen zu seiner Eigenschaft als Komponist bei. Seine Ausbildung enthält formale Studien an der Emīls Dārziņš Musikschule (Emīla Dārziņa mūzikas vidusskola) in Riga sowie Kompositionsstudien bei Jānis Ivanovs in den frühen 1980er Jahren, aber er bringt ebenso seine Fähigkeiten als professioneller Toningenieur beim Lettischen Rundfunk sowie als Berufsmusiker in den 1970er und 80er Jahren als Keyboard-Spieler bei progressiven Rock- und Folk-Bands ein.
Das Chormusikschaffen von Prauliņš machte großes Aufsehen in der Welt klassischer Musik, als “The Nightingale“ in der Ausführung durch Stephen Layton und das Danish National Vocal Ensemble für den Grammy Award 2013 als „Beste Choraufnahme“ nominiert wurde. Layton hatte schon früher mit Musik von Prauliņš in der Hyperion-CD Missa Rigensis gearbeitet, ein überzeugendes Werk, das ursprünglich für den Rigenser Domknabenchor komponiert worden war. Dies war zu Ostern 2002 im mittelalterlichen Dom zu Riga uraufgeführt worden.
In der Missa Rigensis suchte Prauliņš ein Werk zu komponieren, das an Messen aus der Renaissance im Stil von Komponisten erinnerte, die ihn während seiner Schulzeit begleitet hatten wie Luca Marenzio, Michael Praetorius und Orlando di Lasso, um nur einige zu nennen. Die Komposition soll auch ein “rocky choral monument“ an seine Heimatstadt Riga sein.
Was bei Prauliņš zunächst nach einem traditionellen Beginn aussieht, mündet später in Innovation. Seine Verbindung von Alt und Neu macht die Missa Rigensis zu einem faszinierenden Werk, das die Hörer von der ersten Wendung an ergreift, siehe Bsp. 5. Zunächst mutet die Musik wie eine herkömmliche Kyrie-Vertonung an. Bei näherer Betrachtung entdeckt man interessante Aufführungsanweisungen (T. 3), unerwartete Dissonanzen (T. 4) und eine Phrase. die auf einer reinen Quarte endet (T. 60) und ein mystisches Gefühl erzeugt – gestaffelte Endungen der oberen und unteren Stimmen in den beiden letzten Takten helfen diesem Gefühl nach.
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Prauliņš ist in der Lage, den traditionellen Kyrie-Text mit dem Geist sehnsuchtsvollen Verlangens zu füllen, indem er moderne Harmonien und alte Auflösungen borgt. Das dritte Kyrie (siehe Bsp. 6) zeigt dies mit engen dissonanten Akkorden in jedem Takt, denen wieder die gestaffelten Endungen und die reine Quarte folgen.
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Die ganze Missa Rigensis ist eine faszinierende Komposition. Auch die anderen Sätze bringen eine entsprechende Menge an Mystik, Schönheit und Kreativität. Viele der Sätze kann man herausziehen und einzeln aufführen, aber die Komposition ist meisterhaft erschaffen und als Ganzes überzeugend. Die Missa Rigensis ist bei Novello verlegt; es gibt eine hervorragende Aufnahme von Stephen Layton mit dem Choir of Trinity College Cambridge (2008) unter dem Titel “Baltic Exchange“. Diese von Hyperion produzierte CD enthält außerdem u.a. noch das Laudibus in Sanctis von Prauliņš, ein anderes überragendes Chorwerk.
MISSA RIGENSIS (m. 1-6 & m. 13-18) – Music by Uģis Prauliņš
© Copyright 2002 Novello & Company Limited.
G Schirmes Inc. – All Rights Reserved. International Copyright Secured
Ēriks Ešenvalds (26. Januar 1977)
Für mich ist Harmonie das Wichtigste … die melodische Linie ist nebensächlich. Dennoch will ich nicht anspruchslose Musik schreiben … Für mich ist es wichtig, Klänge zu erzeugen, die ich wahrhaftig fühle. Zum Schluss sage ich, dass ich mich ständig verändere, nach neuen Pfaden suche – sie aber überhaupt nicht, einmal gefunden, ständig wiederhole.
– Ēriks Ešenvalds
Ēriks Ešenvalds ist heute einer der bestbekannten lettischen Komponisten, besonders für Chormusik. Der Vater von drei Kindern hat in letzter Zeit (2011-13) als Fellow Commoner in Creative Arts am Trinity College der Universität von Cambridge (UK) gearbeitet. Seine Erfahrung als Sänger im professionellen Lettischen Staatschor LATVIJA gibt ihm einen intimen Einblick in die inneren Zusammenhänge großer Chormusik und eine Leidenschaft, sie nachzuempfinden.
Als Chorkomponist teilt Ēriks Ešenvalds seine Chorkompositionen in verschiedene unterschiedliche Kategorien ein:
- Werke vorwiegend für professionelle Chöre wie Sun Dogs; Legend of the Walled-in Woman (2005); Seneca’s Zodiac (2011).
- Werke für die besten Universitätschöre, darunter Long Road; A Drop in the Ocean; Northern Lights.
- Bearbeitungen wie Amazing Grace; My Picture Frame; This is my Father’s World
- Lieder für Kinderchöre, z.B. The Beginning Emptiness; Spring, the Sweet Spring (2012).
O Salutaris Hostia (2009) von Ēriks Ešenvalds gehört zur Kategorie 2. Es ist relativ kurz und eingängig, ein Stück von einfacher Schönheit, ähnlich dem kleinen Stück „Esti dal“ von Kodály.
O Salutaris Hostia gewinnt seine Einfachheit vorwiegend durch die abwechselnden Einsätze der Sopransolisten auf abwechselnden Systemen, gelegentlich mit Duetten in Terzen. Der übrige Chor begleitet die Solisten, eine homophone Begleitung mit nur Frauenstimmen im Anfang. (Bsp. 7)
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Der Chorteil steht fast ganz in Halben und bringt üppige Harmonien zur Unterstützung der schwebenden Linien der beiden Soprane. Bei den lautesten Stellen fügt der Komponist den Sololinien zusätzliche Sänger hinzu, als Versuch, die Melodielinien zu stärken. (siehe Bsp. 8)
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Der Verleger von Ēriks Ešenvalds, Musica Baltica, unterstützt die Bekanntheit des Komponisten mit der Ausgabe von zwei Sammlungen seiner Kompositionen, Choral Anthology 1 und 2. Zusammen bieten sie elf beliebte Werke des Komponisten, darunter O Salutaris Hostia, A Drop in the Ocean, Amazing Grace, und Long Road.
O Salutaris (m. 1-4 & m. 21-25) – Music by Ēriks Ešenvalds
© copyright 2009 Musica Baltica Ltd
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Philip Copeland ist Direktor der Choraktivitäten und Associate Professor of Music an der Samford-Universität in Birmingham, Alabama (USA). Häufig und erfolgreich treten seine Chöre in internationalen Wettbewerben an, ebenso bei Konferenzen der American Choral Directors Association (Amerikanischer Chordirigenten-Verband) und der National Collegiate Choral Organization (Nationale Vereinigung der Hochschulchöre). In Samford unterrichtet er Dirigier-, Sprachausbildungs- und Musikpädagogik-Klassen. Dr Copeland erwarb Diplome in Musikerziehung und Dirigieren von der University of Mississippi (B.M.), dem Mississippi College (M.M.) und dem Southern Baptist Seminary in Louisville, KY (doctor of musical arts in conducting). In Birmingham dirigiert er Musik an der South Highland Presbyterian Church und bereitet den Alabama Symphony Chorus für Aufführungen mit dem Alabama Symphony Orchestra vor. Er ist Vater von drei neunjährigen Töchtern: Catherine, Caroline und Claire – Drillingen. Email: philip.copeland@gmail.com
Übersetzt aus dem Englischen von Klaus L Neumann, Deutschland