Einsingen
Von Cristian Grases
Bevor wir beginnen, die Methodologie zum Aufbau einer Einsingphase zu analysieren, sollten wir uns unbedingt zunächst damit beschäftigen, die Wichtigkeit und die Überlegungen zu verstehen, die dazu führen, dass wir überhaupt kostbare Probenzeit mit dem Einsingen verbringen. In dem Buch The Complete Choral Warm-up Book von Russell Robinson and Jay Althouse führen die Autoren 8 Punkte an, um die Notwendigkeit des Einsingens zu begründen:
- Das Einsingen steigert die Konzentration auf das Wesentliche.
- Das Einsingen bereitet die Stimme für das Singen vor.
- Das Einsingen ermöglicht den Sängern, ihre eigene Stimme und die der anderen zu hören.
- Das Einsingen bereitet den Sänger physisch auf das Singen vor.
- Das Einsingen führt zu der richtigen Atemtechnik.
- Das Einsingen dient der Vokalangleichung.
- Das Einsingen führt zu einer melodisch und harmonisch korrekten Intonation..
- Das Einsingen stellt eine Verbindung zu der Musik her, die in der Probe gesungen wird. (Ergänzend würde ich dazu anmerken, dass das Einsingen hilft, die kommenden technischen Herausforderungen im Repertoire vorwegnehmend zu lösen.).
- Ich würde als 9. Punkt hinzufügen: Es hilft, den Geist, die Atmosphäre und die Energie für die Probe herauf zu beschwören.
Es gibt viele Möglichkeiten, das Einsingen zu strukturieren. Meiner Ansicht nach gibt es grundsätzlich zwei strukturelle Ebenen: die erste hat mit der Übung selbst zu tun, seiner melodischen Linie und der Kombination der verwendeten Klänge und Silben. Die zweite Ebene hat mit der Reihenfolge zu tun, in der die Übungen innerhalb der Einsingperiode vorkommen. Kombinationen dieser beiden strukturellen Ebenen sind unendlich, und jeder Chorleiter hat persönliche Vorlieben in Bezug auf die Länge und Gestaltung der Einsingphase. Gestatten Sie mir, Ihnen meine eigenen Überlegungen dazu vorzustellen.
Aktivität Nr. 1, Konzentration auf ein gemeinsames Ziel: Eine der größten Herausforderungen während einer Chorprobeneinheit stellt der Moment des eigentlichen Beginnens dar. Es ist ein Moment des Übergangs, wo der Druck unserer täglichen Aktivitäten (Stress, Verkehr, Geldsorgen, Studienprüfungen, Familie etc. ) nachlassen und der Weg frei werden muss für angemessene Bedingungen des gemeinsamen Musizierens. Es gibt viele Wege für Chorleiter, die Bedingungen herzustellen, damit dieser Übergang gelingen kann. Ich bevorzuge zu Beginn immer eine Art körperlicher Aktivität. Einige sind lebhafter (z.B. ein Frage- und Antwortklatschspiel mit verschiedenen Rhythmen oder eine Koordinationsübung), wodurch der Chor leichter zu seiner Energie finden oder sich besser konzentrieren kann, wenn die Mitglieder zu aufgeregt oder unaufmerksam sind; einige Aktivitäten sind ruhiger (z. B. Aufstellung im Kreis und Schultermassage des vor einem stehenden Mitgliedes, wobei lange Noten in entspannender Tonhöhe dazu gesungen werden, oder eine Übung mit geschlossenen Augen), wodurch Spannungen abgebaut und jedermann so zur Ruhe kommen kann, dass er für das Singen vorbereitet ist. Manchmal, wenn ich mit dem Ensemble ein Stück mit eurhythmischen Teilen erarbeite (Bewegung und body percussion), greife ich die eurhythmischen Schwierigkeiten während der ersten Aufwärmphase auf. Nach meiner Erfahrung hängt die Wirksamkeit der Übung von dem allgemeinen Bewusstseinszustand der Sänger ab. Unabhängig von der eigenen Planung muss der Chorleiter sich bewusst und jederzeit darauf vorbereitet sein, seine Übungen den besonderen Voraussetzungen des Ensembles an dem gegebenen Tag anzupassen.
Aktivität Nr. 2, Atemstütze: Danach pflege ich an Atemtechniken zu arbeiten (Gleichmäßigkeit, Sitz, Länge und Kontrolle des Atems). Ziel der Tätigkeit ist es, die Sänger an die korrekte Bauchatemtechnik zu erinnern. Auch wenn die Atemübungen verschiedenen Artikulationen oder Längen gelten oder verschiedene Konsonanten nutzen (wie [f], [s], [z], [Ʒ] etc), ist doch das Hauptanliegen, das eigene Gefühl für die Atemstütze wiederherzustellen. Denn das ist die eigentliche Plattform für eine freie, gesunde und entspannte Lautgestaltung. Ich neige dazu, diese Art Übungen vor allem mit Anfänger- und Kinderchören zu machen. Mit Chören, die besser vorbereitet sind, stelle ich eine Einsingübung zusammen, bei der sich die Aktivitäten aus Nr. 2 und Nr. 3 überlappen.
Aktivität Nr. 3, Vibration / Lautgestaltung: An diesem Punkt sind die Sänger für gewöhnlich vorbereitet auf das Singen. Diese erste Gesangsübung sollte um die Idee einer gesunden Lautgestaltung zentriert sein, basierend auf einer richtig gestützten Bauchatmung. Normalerweise biete ich melodische Übungen mit drei bestimmten Charakteristika an: a) Sie sind absteigend, um die „Kopf“stimme in die „Brust“stimme übergehen zu lassen und um das Gegenteil zu vermeiden, b) sie gehen nicht über den Quintrahmen hinaus, woraus folgt, dass wir auf der Tonalitätsstufe „sol“ (5. Stufe in der Tonalität) beginnen und uns zum „do“ (tonales Zentrum) hinbewegen, und c) es gibt keine Sprünge, was manchmal zu dem Extrem führt, dass die Intervalle verwischt werden, um im wesentlichen absteigende Glissandi zu singen. Ich fordere die Sänger auf, ihre Konzentration hinzulenken auf die Bauchatmung (indem ich sie bitte, die Hand auf den Bauch zu legen, so dass sie selbst ihre Atmung kontrollieren können) und auf die Vibration der Maske (weshalb ich sie dazu auffordere, einen oder zwei Finger direkt auf die Nasenspitze und zwischen ihre Augen zu legen). Diese Übung bewegt sich auf- und abwärts im Tonbereich, aber innerhalb einer für alle Sänger angenehmen Tessitura. Ich empfehle stimmhafte Frikative und/oder nasale Konsonanten wie [z], [Ʒ], [v], und ein [n] and [ŋ] mit geöffnetem Mund; ich bevorzuge letzteres, weil dabei automatisch eine niedrige und entspannte Position des Kiefers zustande kommt.
Aktivität Nr. 4, Vokale: Das nächste Ziel ist, den vibrierenden Klang zu einem Vokal hin zu öffnen. Nehmen Sie irgendeinen der oben erwähnten frikativen oder nasalen Konsonanten für den Anfang und öffnen Sie diesen zu einem Vokal hin mit bestem Ergebnis. Diese Übung kann man aufsteigend oder absteigend ausführen und, wenn gewünscht, auch Tonsprünge einbauen. Ich bleibe für gewöhnlich in dem Quintrahmen, gehe aber innerhalb der Tessitura sowohl höher und als auch tiefer. Ich erinnere die Sänger daran, wie wichtig es ist, durch alle Stimmgruppen hindurch zu hören, um die Farbe des Vokals richtig zu gestalten. Auf diese Weise bringe ich sie dazu, sich aktiv als ein Ensemble wahrzunehmen.
Aktivität Nr. 5: Lagen: Jetzt kommt der Zeitpunkt, um die Stimmbänder zu dehnen. Die angewandte Übung muss mindestens über den Tonraum einer Oktave gehen (auch wenn sie diesen Rahmen, sofern gewünscht, überschreiten kann), und sollte für alle Sänger sowohl die höheren als auch die tieferen Lagen erforschen. Ich erinnere meine Sänger an Konzepte wie die Vokalmodifikation durch ein passaggio, bei dem die Vokale nur in den Höhen gesungen werden, während in den tieferen Lagen der Klang aufgehellt wird.
Aktivität Nr. 6, Verbindung zum Repertoire: An dieser Stelle biete ich eine Übung an, in die ich eine Schwierigkeit oder Herausforderung eingebaut habe, die in einem der Lieder vorkommen wird, die geprobt werden (z.B. das Singen einer übermäßigen Quarte, einer Skala in einem anderen Modus, einer rhythmische Schwierigkeit, eines Clusters, einer besonderen Artikulation, von Fremdsprachen etc.). Diese Aktivität ist optional, aber zweckmäßig, wenn das Ensemble noch im Anfangsstadium des Einstudierens eines unbekannten Liedes ist.
Aktivität Nr. 7, Ensemble: Abschließend arbeiten wir an dieser Stelle an Problemen, die das Ensemble-Singen betreffen. Eine Übung, die ich meistens anbiete, verlangt von den Sängern, einen Ton zu singen, während sie aufeinander hören. Aber man kann sich auch mit der Vokalangleichung befassen, mit Fragen der Klangbalance, mit bestimmten Akkorden und Akkordfolgen, Intonation oder jedem anderen Aspekt, der das Singen in einer Gruppe betrifft.
Einige abschließende Betrachtungen:
- Immer dieselben Übungen in aufeinander folgenden Probeabschnitten anzubieten kann vorteilhaft sein, da es hilft, eigene Gesangsgewohnheiten auszubilden; wenn sie allerdings bei zu vielen Proben hintereinander angeboten werden, können sie uninteressant werden, und es kann geschehen, dass sie dann in einer „Autopilot“-Weise ausgeführt werden und bei den Sängern auf Widerstand stoßen. Ich schlage daher vor, für dieselben stimmlichen Aspekte doch immer anderes melodische Material zu verwenden.
- Bei effizienter Ausführung können alle sieben Aktivitäten innerhalb von 6-8 Minuten erledigt werden. Meiner Erfahrung nach können Einsingphasen, die länger als 10 Minuten dauern, langweilig und uneffektiv werden.
- Gestalten Sie den Prozess mit einem hohen Grad an Energie, Humor und Dynamik, um eine positive Atmosphäre zu erschaffen. So werden die Sänger die Einsingphase nicht mit einer Art Chorquälerei gleichsetzen.
- So weit möglich sollten die in der Einsingphase präsentierten Ideen mit dem Repertoire in Verbindung stehen, das einstudiert wird; umgekehrt sollte bei der Probe des Repertoires auf die entsprechenden Einsingübungen Bezug genommen werden. Auf diese Weise wird das Einsingen zu einem integralen Bestandteil der Probe.
- Scheuen Sie sich nicht, kreativ zu sein und einen wichtigen Teil ihrer Probe spaßig, energiegeladen und interaktiv zu gestalten. Wenn Sie Spaß haben, dann werden ihre Sänger auch Spaß haben!
Weitere Quellen zum Thema,:
- Robinson R. & Jay Althouse. The Complete Choral Warm-up Book. A Sourcebook for Choral Directors. Van Nuys: Alfred Publishing, 1995.
- Jordan, James. Evoking Sound. The Choral Warm-up. Chicago: GIA Publications, 2005.
- Adams, Charlotte. Daily Workout for a Beautiful Voice. DVD. Santa Barbara: Santa Barbara Music Publishing, 1998.
- Ala-Pöllänen, Kari. The Secrets of the Tapiola Sound. Tapiola: Tapiola Choir, 2006.
- Johnson, Jeff. Ready, Set, Sing! Activating the mind, body and voice. Santa Barbara: Santa Barbara Music Publishing, 2000.
- Frauke Haasemann and James Jordan have a series of publications (books, cards, video material) called Group Vocal Technique, published by Hinshaw Music.
- Sanna Valvanne recently created a DVD entitled Sanna’s Warm Up DVD and is available through her website.
Hinsichtlich des Einsingens hat jedes Ensemble eigene Ansprüche, die seine technischen Fähigkeiten, seine Erfahrung, seine Stimmgewalt und seine genaue Repertoire-Auswahl widerspiegeln. Meine vorgestellten Ideen sind nur ein Weg, sich diesem wichtigen Teil des Probens zu nähern. Diese Ideen kann man anpassen, auf sie aufbauen, sie mit anderen eigenen Ideen oder Ideen von anderen Kollegen kombinieren, oder sie innerhalb neuer Grenzen ausdehnen oder erkunden. Jedenfalls ist es wichtig, daran zu denken, dass die Einsingphase nicht nur ein Probenabschnitt ist, in dem die Stimme für die folgende Aktivität vorbereitet wird, sondern dass mit ihr die allgemeine Atmosphäre geschaffen wird, die in der Probe vorherrschen wird. Somit ist die Einsingphase ein integraler Bestandteil des Prozesses, der dazu führen sollte, dass das Ensemble so erfolgreich wie möglich ist.
Cristian Grases erhielt sein Master-Diplom für Chorleitung unter Alberto Grau und María Guinand in Caracas, Venezuela, und seinen Doktortitel in Chorleitung an der University of Miami. Er hat Preise als Komponist gewonnen, er ist aktiver Gastdirigent, Facharzt, Jurymitglied und Pädagoge in Nord- und Südamerika, Europa und Asien. Er ist Mitglied des Direktoriums des IFCM und Mitglied des International Artistic Committee for Songbridge. Er ist augenblicklich Assistant Professor an der University of Southern California in Los Angeles, USA. Email: cgrases@gmail.com
Übersetzt von Manuela Meyer, Deutschland
Edited by Gillian Forlivesi Heywood, Italy