Ligetis "Lux Aeterna": eine Einführung für Dirigenten

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Grant Gershon, Artistic Director of the Los Angeles Master Chorale, USA

György Ligetis Lux Aeterna ist eines der außergewöhnlichsten Chorwerke des 20. Jahrhunderts und eine Ikone. Geschrieben 1966, ist es gewissermaßen Ligetis reinstes Beispielstück für „Mikrotonalität“, ein Terminus und eine Technik, die er selbst erfunden hat. Das Stück ist geschrieben für 16-stimmigen A Capella Chor (SSSS-AAAA-TTTT-BBBB) mit einer üblichen Aufführungsdauer von 9-10 Minuten. Es wurde auch außerhalb der Neuen Musik-Szene berühmt, als Stanley Kubrik Teile daraus (ohne Genehmigung des Komponisten) für seinen Film Odyssee 2001 benutzte. Mit seiner überirdischen, körperlosen Atmosphäre ist es nicht verwunderlich, dass Lux Aeternafür Stanley Kubrick die schwerelose und geheimnisvolle Qualität des unendlichen Weltraums vorstellte.

Ich hatte das Vergnügen, über Jahre mit vielen Vokalwerken von Ligeti zu arbeiten und ich bin jedes Mal aufs Neue beeindruckt von der Kombination von extremer Strenge und kreativer Fantasie in seinem Kompositionsprozess. Ich bin zu der Erkenntnis gelangt, dass es bei Ligeti, mehr noch als bei den meisten Komponisten, darauf ankommt, seine Kompositionstechnik zu verstehen, um dadurch viel effektiver die Musik proben und aufführen zu können. Das gilt insbesondere für Lux Aeterna.

Sony Classical CD of Le Grand Macabre, from left to right: Willard White, Grant Gershon, György Ligeti © Guy Vivien
Kompositionstechniken und Anleitung zum Proben

Lux Aeterna ist eines der am strengsten konstruierten Werke der Chorliteratur. Es besteht im Wesentlichen aus einer Reihe von strengen Kanons im Unisono. Das Tonhöhenmaterial und die Abfolge der einzelnen Vokalstimmen in den verschiedenen Kanons sind identisch. Ligeti erzeugt die wolkenartigen Klangfarben, die das Stück charakterisieren, indem er die einzelnen Einsätze der Vokalstimmen eng aneinanderreiht und die Unterteilungen (und damit die Geschwindigkeit) jeder einzelnen Linie variiert. Im Eröffnungsabschnitt, der für die vier Sopran- und vier Altstimmen notiert ist, sind beispielsweise S1, S4 und A3 in Permutationen von Septolen, S2 und A3 in Quintolen und S3 und A2 in Sechzehnteln gesetzt. Jede Gesangsstimme ist rhythmisch unabhängig, und das Zeitgefühl ist für den Hörer verwischt, weil die Notenwechsel sehr selten auf dem Taktschlag erfolgen. In einer Fußnote auf der ersten Seite der Partitur fordert Ligeti die Sänger auf, “ganz ohne Akzente zu singen: Taktstriche haben keine rhythmische Bedeutung und sollten nicht betont werden”.

Die groß angelegte Struktur des Stücks besteht im Wesentlichen aus vier sich überschneidenden Abschnitten, die jeweils einen eigenen Unisono-Kanon haben:

Lux Aeterna luceat eis T 1-37 Soprani und Alti
Cum sanctis tuis quia pius es T 39-88 Tenöre und Bässe
Requiem aeterna dona eis T 61-79 Soprani
Et lux perpetua luceat eis T 90-119 Alti

Zusätzlich haben die Bässe zwei kurze homophone Momente, beide auf dem Wort „Domine“. Der erste ist im höchsten Falsett-Bereich (T 37-41), während der zweite (T 87-92) sich in einen dis-Moll Dreiklang „auflöst“ (übrigens der einzige derartige Akkord im ganzen Stück).

Wenn man einmal diese kompositorischen Prinzipien verstanden hat, wird die Proben- Strategie deutlich. Ich habe eine zweiseitige Zusammenfassung des musikalischen Materials erstellt, welches ich „Lux Redux“ nenne. Immer, wenn ich mit einem Ensemble Lux Aeterna probe, bekommen die Sänger von mir diese Zusammenfassung zu Beginn. Ich habe festgestellt, dass diese Tabelle eine enorme Zeitersparnis in der Probenarbeit bewirkt, und es macht den Aufführenden sehr schnell die Struktur des Stückes klar.

Weil es äußerst wichtig ist, dass jeder Sänger sich absolut sicher mit dem Tonmaterial fühlt, bitte ich in der ersten Probe die Sänger und Sängerinnen „Lux Redux“ zur Hand zu nehmen. Wir beginnen damit, dass alle Soprane und Altistinnen den ersten Teil (“Lux aeterna…”) mehrmals unisono nach Diktat singen. Sobald die Intervalle dieser langen Linie sicher sind, ist es sinnvoll, die Einsätze wie einen Reigen zu üben (d.h. S1/A1 beginnt, S2/A2 setzt ein, wenn S1/A1 seinen zweiten Ton singt, usw.). Dadurch spüren die Sängerinnen und Sänger, wie es ist, sich gegen die anderen benachbarten Noten “durchzusetzen”, und einige der impliziten Harmonien beginnen sich abzuzeichnen. Dann können wir den ersten Abschnitt wie gedruckt durcharbeiten. Wir folgen demselben Prinzip mit den Tenören (“cum sanctis…”), denen sich die Bässe anschließen (“…in aeternam”) und so weiter, bis wir das ganze Stück durchgearbeitet haben. Das Ziel dieses Prozesses ist es, das Tonmaterial mit Klarheit und Vertrauen zu sichern. Je makelloser die Intervalle innerhalb der einzelnen Vokallinien sind, desto mehr kommt der übergreifende Zauber der vertikalen Klangfarben zum Vorschein.

Sobald dieser anfängliche Prozess des Aufbaus von absolutem Vertrauen in das Tonhöhenmaterial abgeschlossen ist, ist es einfacher, sich auf die gesamte Stimmfarbe des Stücks zu konzentrieren. Die Dynamik ist sempre pp (mit ein paar Modifikationen des Komponisten, um den unterschiedlichen Stimmlagen Rechnung zu tragen), und Ligeti verlangt, dass der Klang “wie aus der Ferne” sein soll. Für mich ist der Schlüssel zur Schaffung einer möglichst leuchtenden Qualität das einleitende [u] von “lux”. Die Platzierung und Resonanz dieses Vokals bestimmt die Klangfarbe und den Fokus des gesamten Stücks.

Das Wichtigste, was wir als Dirigent für unsere Sänger in diesem Stück tun können, ist, dass wir unser Taktmuster kristallklar halten und vor allem sicherstellen, dass der Abwärtsschlag in jedem Takt erkennbar ist. Ich kann gar nicht genug betonen, wie leicht es für die Sängerinnen und Sänger ist, sich zu verirren; das gesamte Stück steht im 4/4-Takt ohne Tempowechsel und ohne hörbar erkennbaren Puls. Es ist wichtig, dass jeder Notenwechsel sanft und unakzentuiert erfolgt und dass die Sänger innerhalb des Rahmens eines jeden Taktes bleiben. Für den Hörer sollte der Gesamteindruck zeitlos und lichtdurchflutet sein, so wie es der Titel suggeriert!

Es gibt zwei berüchtigte vokale Momente in dem Stück. Der erste ist die hohe Falsett-Passage für die Bässe bei Takt 37. Wie Ligeti in einer Fußnote andeutet, ist es wichtiger, diese den stimmlich am besten geeigneten Bässen und Tenören zuzuweisen, als darauf zu bestehen, dass sie von B1-3 gesungen wird. Die andere besonders schwierige Passage ist der Eintritt des Soprans und des Tenors in das hohe B (p possibile!) in Takt 94. Hier lasse ich die S3 die untere Oktave mit S4 singen und kehre in T. 100 zur geschriebenen S3-Linie zurück.

Eine letzte Anmerkung: Es ist sehr wichtig, dass der Dirigent den Takt in den letzten sieben Takten des Stücks weiterhin leicht anzeigt. Ligeti hätte leicht eine Fermate über diese Stille schreiben können. Seine Entscheidung, diese sieben Takte der Ruhe zu notieren, schafft ein schönes Gefühl des fortgesetzten Flusses, nachdem der eigentliche Klang längst verklungen ist.

Schlussbemerkung

Ligetis Lux Aeterna ist eine außergewöhnliche Studie in Farbe und Atmosphäre. Dieses Werk entführt den Zuhörer in ein anderes Klanguniversum. Eine sorgfältig und souverän vorbereitete Aufführung ist fantastisch lohnend und befriedigend für Sänger und Publikum gleichermaßen. Ich hoffe, dass noch viele Menschen das Wunder dieses bemerkenswerten Werks erleben werden, während wir den hundertsten Jahrestag der Geburt von György Ligeti feiern.

Der mit dem Grammy™ ausgezeichnete Dirigent Grant Gershon ist künstlerischer Leiter des Los Angeles Master Chorale, des “mit Abstand besten großen Chors in Amerika” (Los Angeles Times). Als leidenschaftlicher Verfechter neuer Opern leitete Gershon die Uraufführungen von John Adams’ Girls of the Golden West und Daniel Catáns Il Postino. Außerdem leitete er die Uraufführungen von Werken von Esa-Pekka Salonen, Steve Reich, Tania Léon und Louis Andriessen, neben zahlreichen anderen. Gershon arbeitete eng mit György Ligeti zusammen und bereitete Chöre für Aufführungen von Clocks and Clouds, Le Grand Macabre und dem Requiem vor. Er hat Lux Aeterna mehrfach dirigiert, u. a. bei der Eröffnung der Walt Disney Concert Hall (übertragen auf PBS Great Performances). Gershons Diskographie mit dem LAMC umfasst Aufnahmen von Nico Muhly, Henrik Gorecki, David Lang und Steve Reich. Er hat eng mit vielen legendären Dirigenten zusammengearbeitet, darunter Claudio Abbado, Pierre Boulez, Simon Rattle und sein Mentor Esa-Pekka Salonen.

Übersetzt aus dem Englischen von Heide Bertram, Deutschland

 

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