Jonathan Velasco, Chorleiter und Lehrer
Als Prof. Andrea Veneracion am 9. Juli 2013 im Alter von 85 Jahren starb, war es das Ende einer Ära. So formulierte es Ramon Acoymo, der ehemalige Dekan des Musikkollegs der Universität der Philippinen. Sie war die letzte einer Gruppe von Chorpersönlichkeiten, die in den 1950er und 60er Jahren in den USA studierte. Diese kehrten mit ihrem Wissen und Fähigkeiten in Chorleitung und Gesang auf die Philippinen zurück und ebneten so den Weg für die brillante philippinische Chorbewegung, wie sie die Welt heute kennt.
Veneracion und “The Madz”: Eine lebensverändernde Erfahrung
Emporragend zwischen Giganten erhob Prof. Veneracion den Ruf der philippinischen Chorwelt durch Jahrzehnte exzellenter Arbeit mit dem von ihr im Jahr 1963 gegründeten Madrigalchor der Universität der Philippinen. Der Chor feiert in diesem Jahr sein 50-jähriges Jubiläum. Mit einer perfekten Balance von Technik, Intuition und künstlerischem Verstand führte sie ihren Chor zu Topplatzierungen in den renommiertesten europäischen Wettbewerben. „The Madz“, wie der Madrigalchor auch liebevoll genannt wird, wurde in den großen Konzerthallen in Europa, Nordamerika und Asien willkommen geheißen. Die Welt war neugierig: Wie würde ein Madrigalchor aus Südostasien klingen? Und wie wirkt die Formierung im Halbkreis sitzend? Durch ihre starke musikalische Persönlichkeit gelang es Prof. Veneracion, dass die Madz Herzen (und Ohren) der Chorwelt eroberten – von der ersten Aufführung in den USA im Jahr 1969 bis hin zu den jährlichen Konzerttourneen rund um die Welt während der folgenden 30 Jahrzehnte.
Ich hatte das Glück, in den Achtzigern teil zu haben an diesem zauberhaften Halbkreis von Musikern. Ich wurde im Jahr 1981 Mitglied und schon ein Jahr darauf Assistent der Chorleiterin. Mitglied des Chores war ich bis zur berühmten 6-monatigen Konzertreise durch Europa und die USA im Jahr 1989, während derer der Chor zehn erste Preise in fünf Wettbewerben gewann, mehr Preise als jede andere Madz-Formation je erzielt hat. Ich verließ das Ensemble in der Mitte der Konzerttournee, um mein Studium an der Berliner Kirchenmusikschule unter Martin Behrmann zu beginnen.
Wie war es, in diesen Halbkreis eingeladen zu werden? Es fühlte sich an, als wäre man „angekommen“. Während dieser Zeit kam es niemals vor, dass Sänger für das Ensemble vorsangen, sie wurden immer eingeladen. Man konnte jederzeit als Trainee einsteigen. Um fest in den Halbkreis aufgenommen zu werden, musste zuvor eine Position frei werden, weil ein Sänger aus welchen Gründen auch immer nicht mehr mitsingen konnte. Prof. Veneracion lud dann einen der Trainees ins Ensemble ein. Zunächst saß der Neuling auf dem Stuhl, der Prof. Veneracion am nächsten stand, dem sogenannten „heißen Stuhl“. Somit saß man in Ellbogenentfernung zur Chorleiterin (für den Fall, dass man falsche Noten sang oder zu laut war). Sie selbst saß am Rand des Halbkreises und gab die Einsätze mit leichten Kopf- und Körperbewegungen.
(Am Rande notiert, es ist faszinierend, mit den Madz zu singen. Die Sänger sitzen in der Formation S-T-A-B, wobei sich männliche und weibliche Sänger abwechseln. Als Sopran I beispielsweise sitzt man 4 Positionen vom nächsten Sopran entfernt, und der nächste Sopran I sitzt 8 Stühle weiter in beide Richtungen. Durch diese Aufstellung und eine fast Schulter-an-Schulter-Nähe macht man sich alles, was um einen herum geschieht, wie die Anfänge, das Atmen, harmonische Intonation, etc. sehr bewusst.)
Der Chor wurde allumfassend vom musikalischen Instinkt von Prof. Veneracion geführt. Während der Aufführungen hatte sie mit ihrer Präsenz die Musik voll im Griff – die Stimmen kommunizierten direkt mit dem Publikum und führten dennoch immer erst an ihr vorbei. Mit den Madz als ihrem Instrument gelang Andrea Veneracion der musikalische Austausch mit dem Rest der Welt.
Botschafter des Landes
Andrea Veneracion begann ihre Liebesaffäre mit der internationalen Chorwelt mit der ersten internationalen Konzerttournee des Madrigalchors im Jahr 1969, die in die USA führte. Die Aufführung beim Lincoln Center International Choral Festival erhielt gewaltigen Beifall. Die Chorleiterin Veneracion wurde beim Applaus mehrfach vom Publikum auf die Bühne zurückgerufen.
Darauf folgten internationale Tourneen und Aufführungen über drei Jahrzehnte hinweg. Während dieser Reisen baute sie ihre Kontakte mit der Chorwelt aus, indem sie den Austausch mit Chören weltweit anstieß und schließlich eine der wenigen Asiaten war, die bei der Gründung der International Federation for Choral Music dabei waren. Bis heute setzt die Chorwelt die Philippinen gleich mit dem Namen Andrea Veneracion.
Prof. Veneracion und die Madrigal Singers waren ausgezeichnete Botschafter für die gute Reputation der Philippinen. Sie waren führende Abgesandte des Landes in internationalen diplomatischen Kreisen. Nicht zuletzt nahm Präsident Ferdinand Marcos die Madrigal Singers mit zu diversen Staatsbesuchen, insbesondere während der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Sowjetunion im Jahre 1976, um die Fülle der Gesangstradition im Land herauszustellen. Die Madz sangen auch während des Staatsbesuchs von Präsident Corazon Aquino in Deutschland im Jahr 1989. Wann immer Staatsbesuche anstanden, wurden die Madz als würdige Vertreter der nationalen Musikkultur gefragt, für die Gäste zu singen.
Die philippinische Chorbewegung
Das vielleicht größte Vermächtnis von Prof. Veneracion ist ihr Bestreben zur Verbreitung der philippinischen Chormusik gewesen. Sie bestärkte Komponisten und Arrangeure, Musik für die Madrigal Singers zu schreiben. Das Ergebnis war ein steter Strom von überragenden Kompositionen und Arrangements für a cappella Chor. Die Bearbeitungen stammten aus jeder erdenklichen Art von Material und musikalischen Konzepten – angefangen von philippinischer Volksmusik, Filipino Stammestänzen oder traditioneller Musik, über zeitgenössische Liedhits bis hin zu Kirchenliturgie und vielen anderen Quellen.
Sie gründete auch die “Singing Philippines”durch eine Reihe von Festivals und Workshops, die ihre Schüler und Alumni leiteten. Als Artist in Residence des Cultural Center of the Philippines wurden die Madrigal Singers in ländliche Regionen eingeladen, um Dirigenten und Chöre zu coachen. Andrea gab ihren Sängern mit, ihre Vision mit vielen wissenshungrigen Musikern auf der ganzen Inselgruppe zu teilen.
Aufgrund ihres gewaltigen Beitrags zur Weiterentwicklung der philippinischen Chormusik wurde Andrea Veneracion im Jahr 1999 zum National Artist for Music ernannt, der höchsten kulturellen Auszeichnung für Individuen, verliehen durch die philippinische Regierung.
Der Beweis des überragenden Erfolgs ihrer Arbeit liegt in der beispiellosen Entwicklung der heutigen philippinischen Chorbewegung. Der Philippinische Verband der Chorleiter, dessen Vorstand zum großen Teil aus ehemaligen Madz-Sängern besteht, ist ein Ergebnis ihres dynamischen Weitblicks und ihre Hinterlassenschaft. Eine beträchtliche Zahl ehemaliger Madz-Mitglieder sind heute ausgezeichnete Chorleiter, Komponisten, Arrangeure, Pädagogen und Musiker.
Das Land erkennt ihren selbstlosen Beitrag zur Welt der Chormusik an und widmete ihr eine würdige Gedenkfeier im Main Theater of the Cultural Center of the Philippines. Begleitet von militärischen Ehren wurde sie an ihrem letzten Ruheort, dem Libingan ng mga Bayani (Friedhof der Helden), zu Grabe getragen. Das Theater war bis auf den letzten Platz gefüllt mit Sängern sowohl auf der Bühne als auch im Publikum, auf den Sitzen und in den Gängen. Sie sangen alle ihr zur Ehre und zum Dank, denn sie hat sie geeint und gab ihnen eine Stimme.
Andrea Veneracion war die Stimme einer Ära – und darüber hinaus.
Jonathan Velasco war stellvertretender Chorleiter der U.P. Madrigal Singers von 1982 bis 1989. Er ist Präsident des Philippinischen Chorleiterverbands und Berater des IFCM. Er ist Dozent am Musikkolleg der Universität der Philippinen und Dirigent der Ateneo Chamber Singers. E-Mail: choirmaster@gmail.com
Übersetzt aus dem Englischen von Annette Fritsch, Deutschland
Edited by Holden J. Ferry, USA