Argentinische Chormusik Heute

  • 2
  •  
  •  
  •  
  •  
  •  
  •  
  •  

Innovation und Tradition und ihre Rolle bei der Schaffung eines Repertoires

 

Von Laura Dubinsky, Direktorin, Editiones GCC, argentinischer Verlag für Chormusik

 

Drei Zitate

  1. 1934: New York in einem Apartement in der 48th Street. Der 13jährige Astor Piazzolla spielt Carlos Gardel, den er gerade kennen gelernt hat, einen Tango vor.

“Na, Kumpel, Du spielst das Bandoneon ja ganz toll, aber Du spielst es wie ein Galizier.”

  1. “Man muss den Tango lassen, wie er ist. Er gehört uns; er ist wie eine ungezähmte Wildnis. Er ist in Stein gemeißelt. Es ist unmöglich, von einem neuen Tango zu reden. Wir müssen der Jugend klar machen, dass der Tango keine neuen Kleider braucht. Tango ist das Einfachste auf der Welt, nur ein Pulsschlag – er ist Kraft, er ist ein tiefes Gefühl, das man auf das Keyboard überträgt, um eine Resonanz hervorzulocken. Er ist das Gegenteil von Angeberei.”

(Enrique Cadícamo, großer Tangodichter)

  1. 1946: Astor Piazzolla, damals Chef von Francisco Fiorentinos Tangoorchester:

“Ich habe ein wunderschönes Arrangement von Mariano Mores Tango geschrieben. Die Einleitung spielt ein Cello solo. Es war erstaunlich. Als die Damen, die dort arbeiteten, es hörten, fingen sie an, wie Ballerinas zu tanzen. Es gab Ärger, also habe ich es rausgenommen. Fiore mochte es sowieso nicht. Ich hatte einfach genug davon (…) und bin abgehauen: ich gründete mein eigenes Orchester.”

 

Erläuterungen:

Der Ausdruck “den Tango wie ein Galizier spielen” will sagen, dass die Interpretation nicht dem Stil entspricht, der für das Genre Tango als authentisch angesehen wird, sondern von ausländischen (musikalischen) Kulturen beeinflusst ist.

Carlos Gardel, Sänger und Komponist, genannt “die kreolische Nachtigall”, “der Singvogel von Buenos Aires”, Ikone und Legende des Tango in Argentinien. Er wurde schließlich der größte Tangosänger, für Argentinier ein unantastbarer Mythos: “Er singt besser und besser.”

Astor Piazzolla, Bandoneonspieler, Pianist, Dirigent, Komponist und Arrangeur. Er ist nicht nur der gefeierteste Tangomusiker der Welt, sondern hat auch klassische Musik komponiert. Man könnte sagen, er hat die Grenzen der Ästhetik des Tangos so weit hinausgeschoben, dass viele Tangoliebhaber ihm nicht folgen und ihn nicht verstehen konnten. Seine Anhänger hatten damals und haben heute die schwierige Aufgabe, sich seinem Einfluss zu entziehen und neue Wege zu gehen.

(Julio Nudler, www.todotango.com)

 

Ich bringe diese Zitate zur Geschichte des Tangos hier nicht nur, um über dieses Genre zu sprechen, das der Kultur des Rio de la Plata so nahe steht.  Nicht nur deshalb; vielmehr können wir anhand der Worte (und Leistungen) dieser großen Ikone des Tangos Begriffe untersuchen, mit denen sich die argentinische Chormusik beschreiben lässt: Tradition, Ehrfurchtslosigkeit, Kulturmix, Innovation, Widerstand, Landschaft, Heimatgefühl, Erinnerung, Sehnsucht, Suche nach und Diskussion über Identität …

Als Verlegerin und Herausgeberin von Chormusik hatte ich Gelegenheit, die verschiedensten Chormusikstücke von argentinischen Komponisten und Arrangeuren der letzten Jahrzehnte zu beurteilen.  Tatsächlich handelt es sich um eine interessante Zeit, in der sich neue Ansätze herausschälen und ein neues Denkschema entsteht, im Rahmen dessen Neuschöpfungen eine neue Identität entwickeln – sogar mit tiefgreifenden individuellen Unterschieden und Originalität – nach langen Jahren des Experimentierens mit traditionellen oder auch avantgardistischen musikalischen Tendenzen, von wenigen Ausnahmen abgesehen.

Tatsache ist, dass Chormusik bei uns keine so lange Tradition wie in Europa hat. Ferner ist das regionale Volkslied vom Ursprung her nicht polyphon, und zwar weder die heutige Volksmusik noch die der einheimischen Bevölkerung, die schon vor der spanischen Eroberung hier lebte.  Um nur ein Beispiel zu geben von Menschen, die auf unserem Territorium gelebt haben und eine ganz bestimmte musikalische Identität besaßen:  das Vallisto- oder Mapuchelied oder selbst die weit verbreiteten Lieder aus dem Fußballstadion, sie alle sind monodische Gesänge, höchstens noch antiphonal gesungen. Sie alle sind nach Rhythmus, Prosodie, Text usw. klar definierbar, sind aber nicht polyphon, wie es vielleicht ein Spiritual sein könnte.

Es geht hier also um eine Chormusik, die von Europäern – zusammen mit ihren Sprachen und Traditionen –  nach Argentinien gebracht wurde. Damit begann die Reproduktion, Nachbildung, Aneignung, Fusion und Neuschöpfung von Musik, ein Prozess, der mehrere Jahrzehnte dauerte und von sowohl Jesuiten als auch Einheimischen beeinflusst wurde.  In dieser Musik wurden Worte, Rhythmen und Instrumente von afrikanischen Sklaven verarbeitet, vermischt mit den Lehren der Europäer, ihrer Liturgie und den Bräuchen vieler verschiedener Völker: Deutsche, Basken, Juden, Italiener, Waliser …. pflegten ihre jeweiligen Traditionen, indem sie sich zum gemeinsamen Singen trafen – in Büchereien, bürgerlichen Einrichtungen, Kultstätten usw. Um die Entwicklung der Chormusik in Argentinien verstehen zu können, muss man sich mit der Explosion von Choraktivitäten an den Universitäten in den 1960er Jahren befassen, zweifelsohne ein Meilenstein in Anbetracht der Impulse, die davon unter mehreren Gesichtspunkten auf die Chormusik ausgingen: angefangen von der schieren Zahl der Beteiligten über die Ausbildung von Sängern und Chorleitern bis hin zum Beginn einer Konzerttradition und der Entstehung eines neuen Repertoires. Und genau auf diesen Repertoirebestand wollen wir hier unsere Aufmerksamkeit lenken.

Chormusik wurde nach und nach zu einer neuen, frischen Tradition, eine Mischung von vielschichtigen lokalkulturellen Erfahrungen, die eine neue und spezifische Chorbewegung entstehen ließen.

Dies wird leicht verständlich, wenn man das Repertoire betrachtet, das auf Volks- und Tangomusik beruht (z.B. Chacarera, Tango, Huella, Milonga, Gato, Cueca, Triunfo, Baguala, Chamame usw.), oder sich mit Neukompositionen befasst, in denen diese Genres ihren Niederschlag gefunden haben. Meines Erachtens wird der imaginäre Nährboden dieser neuen Musik in den Begriffen deutlich, die sich aus den Tangozitaten herleiten lassen: Tradition, Ehrfurchtslosigkeit, Kulturmix, Innovation, Widerstand, Landschaft, Heimatgefühl, Erinnerung, Sehnsucht, Suche nach und Diskussion über Identität …

Beispiele von einzelnen Arrangeuren und Komponisten, die deutlich für diesen Trend stehen, wären an dieser Stelle hilfreich. Solche Einzelheiten würden jedoch den Rahmen dieses kurzen Aufsatzes sprengen.  Bei sorgfältiger Prüfung des einschlägigen Repertoires wird der Leser jedoch sicherlich erstaunliche Entdeckungen machen.

Die musikalische Sprache des Tangos stellt den Chorarrangeur vor große Herausforderungen. “Tangos mit einem Chor als Instrument aufzuführen stellt beachtliche ästhetische und stilistische Risiken dar. Seit Beginn der Entwicklung der Chormusik in Argentinien (besonders seit der Mitte des 20. Jahrhunderts) haben sich Chorarrangeure um wirkungsvolle Ausdrucksformen für die Kombination Tango als Genre/Chor als Instrument bemüht, um Formen, die dem Stil gerecht werden, ohne lächerlich zu wirken.” (Javier Zentner)

Wie haben nun bedeutende argentinische Chorarrangeure das Dilemma Tango-Chor (bzw. für irgendeine andere Volksmusik) gelöst? Fragen betreffend Rhythmus und Pulsschlag, Poesie und Gewicht bzw. Leichtigkeit der Worte, Farbe oder Klang des ursprünglichen Instruments, das Tänzerische, das im ursprünglichen Tango nicht fehlen durfte, das fehlende Schlaginstrument, das man auch ohne Schlagfell  und Schlägel noch hört: wie ist es ihnen gelungen, das lyrische Element und das Erzählen einer Geschichte in einer Musikpartitur zusammenzufügen? Ich glaube, dass neue Chorwerke auf der Grundlage dieser Stilelemente die natürliche Antwort auf diese Bemühungen sind. Es ist durchaus vorstellbar, dass die Chorarrangeure diese Genres mit der “Wieder-Erschaffung” für Chor so weit fortentwickelt haben, dass die daraus entstandenen Werke viel mehr sind als einfache Arrangements.

Schließlich frage ich mich, ob dies alles in einem hypothetischen Land geschehen könnte, in dem nicht nach den Ursprüngen gefragt wird, wo alles einheitlich ist, wo es nur die Optionen Tradition oder Innovation gibt, wo niemand einem Cello eine Solopassage gibt, die eigentlich vom Bandoneon gespielt werden „sollte”, und wo niemals Zweifel aufkommen. Wer weiß …

 

laura-dubinskyLaura C. Dubinsky ist Musikverlegerin. Sie ist Absolventin der Universität von Buenos Aires und war auch als Journalistin, Sängerin, Chorleiterin und Dozentin tätig. 1985 hat  sie Ediciones GCC gegründet, einen argentinischen Fachverlag für Chormusik, der zu der GCC-Grupo de Canto Coral (unter der Leitung von Néstor Andrenacci) gehört, die ihrerseits der Fundación Kultrum gehört.

 

 

Aus dem Englischen übersetzt von Hannelore Knapp, Belgien

Edited by Gillian Forlivesi Heywood, Italy

 

PDFPrint

1 Comment

  1. This is beautifully written. I am a chorister in a 24 voice chamber choir, and just returned from a whirlwind trip to Buenos Aires. I can’t wait to follow up with some of your suggestions/leads.
    Cheers,
    Stephen

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *