von Swetlana Gerasimowitsch, Professorin für Chordirigieren
Das Phänomen der weißrussischen Musikkultur nimmt beträchtlichen Raum im intellektuellen Leben der Republik Weißrussland ein. Die Ausbildung der Chordirigenten ist in dieser Hinsicht ein wichtiger Faktor – sie ist in all ihren Entwicklungsstadien eng mit dem Chorsingen verbunden geblieben.
Die Anfänge der Chorerziehung sind im 10. Jahrhundert zu finden, im Mittelalter. Zu dieser Zeit wurden die ersten Singschulen innerhalb der orthodoxen Kirchen und Klöster gegründet, und die berühmtesten unter diesen waren die in Polotosk, Turow und Witebsk. Die Zeit, zu der das Großherzogtum Litauen auf weißrussischem Gebiet erstand, vor der Renaissance und dem Barock (zweite Hälfte des 16. bis zum Anfang des 17. Jahrhunderts), ist als das goldene Zeitalter der Chorerziehung zu betrachten. Als Ergebnis der Vereinigung zwischen dem Großherzogtum Litauen und dem Königreich Polen wurden hier die Traditionen der westeuropäischen Musik und Musikerziehung fest verwurzelt. Der Kirchengesang war eine der “sieben freien Künste”, die im Erziehungswesen der diversen Konfessionen gelehrt wurden, und so spielte die Musikerziehung eine unabdingbare Rolle im Leben eines jeden jungen, gebildeten Menschen. Chorsänger – sowohl Chormitglieder und Vorsänger für den Kirchendienst als auch Berufsmusiker, ebenfalls für die Kirche, aber auch für die Chöre, die an den Höfen von Königen und Adligen entstanden – erhielten ihre Ausbildung in Jesuitenschulen (die Akademie in Wilna, weiterführende Schulen, Musikseminarien) und den Schulen der orthodoxen Brüderschaften in Wilna, Mogilew, Brest, Grodno, Minsk und anderen Städten. Die systematische Ausbildung der Chorsänger erzielte unter Einsatz von Lehrbüchern und methodischen Richtlinien ein hohes Niveau. Jede pädagogische Institution hatte einen Chor mit einem umfassenden Repertoire von Kirchenmusik, das vom einstimmigen Gesang bis zur Polyphonie reichte. Singende Gruppen nahmen an Gottesdiensten und Theateraufführungen in Schulen teil, deren Programm Lobgesänge und Choräle, gesungene Dialoge und Ballettchöre mit einschloss. Die Tätigkeit solch bekannter Musiker wie N. Diletskiy und S. Lauxmin, den Verfassern der Lehrbücher der Musiktheorie “Einführung in die musikalische Grammatik” und “Die Theorie und Praxis der Musik” kann mit nennenswertem Fortschritt im Bereich der Chorerziehung in den weißrussischen Gebieten in Verbindung gebracht werden.
Die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts war ein weiterer interessanter Zeitabschnitt in der Entwicklung der Chorerziehung. In dieser Periode finden wir eine intensive Ausweitung der Musikkultur im Adel, mit Aufführungen von Werken in großer Besetzung und einem ausgesprochen weitgefächerten Repertoire. Allenthalben wurden Bauerntheater gegründet. Reiche Kunstmäzene wie die Familien der Radziwill, Sapieha und Zoricz ordneten die Einrichtung von Opern- und Ballettgruppen sowie diverser Orchester innerhalb ihrer Theater an, und sie gründeten darüber hinaus Theater- und Musikschulen, wo – im Unterschied zu Kirchenschulen – Schauspieler und Musiker für die Aufführung von weltlicher Musik ausgebildet wurden. Solche Schulen etablierten sich in Neswizh, Grodno und Slutsk. Auf dem Lehrplan standen Chorstunden, Instrumentalunterricht und Theorie- und Kompositionsstudien. Die Studenten nahmen als Chorsänger an Theateraufführungen teil.
Die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurde durch eine aktive Weiterentwicklung der Chorerziehung gekennzeichnet. Der Einschluss des weißrussischen Gebiets in das russische Reich sowie die ersten Anfänge einer Demokratisierung des öffentlichen und konzertgebundenen Musiklebens brachten durchgreifende Änderungen in der Chorerziehung mit sich. Das Singen wurde Pflichtfach in sämtlichen allgemeinbildenden sowie in auf Musik spezialisierten Schulen, und in diesem Zusammenhang wurde eine geregelte Berufsausbildung für Chorleiter eingerichtet. Die Lehrer für den Kirchengesang an allgemeinen Schulen, Gymnasien und anderen Erziehungsinstituten wurden an weltlichen Hochschulen ausgebildet (fünf für Lehrer an Sekundarschulen, drei für junge Menschen, die im Tertiärbereich lehren wollten), aber auch in kirchlichen Institutionen (elf Fachschulen, vier Seminarien); ergänzend dazu gab es Ferienkurse für Lehrer und Vorsänger.
Die Ausbildung der Chorsänger und Lehrer für Kirchengesang war stark von der allgemeinen Reform im Erziehungswesen beeinflusst, die darauf hinzielte, die religiöse, moralische und patriotische Erziehung der Jugend zu verstärken. Darüber hinaus war sie auch von den russischen methodischen Techniken und Gesangstraditionen geprägt.
Die Ausbildung der Vorsänger war danach ausgerichtet, die Entwicklung der musikalischen Gaben und Fähigkeiten zu fördern, die die Studenten in ihrem zukünftigen Beruf benötigen würden, sowie in ihnen ein aktive und bewusste Einstellung zu ihren neuen Stellungen aufzubauen: sie befasste sich mit den Grundlagen der Musiktheorie, Harmonielehre und der Methodik der Grundzüge der Stimm- und Chorerziehung; eine Reihe gregorianischer Gesänge musste beherrscht werden; es gab Gehörbildung, die auf das Singen ausgerichtet war, die Grundlagen des Chorsingens und des Dirigierens wurden vermittelt; Instrumentalunterricht wurde erteilt – all diese Fertigkeiten galten als unabdingbarer Teil der Ausbildung zum Chorsänger.
Die Ausbildung der Chorleiter basierte auf dem Grundsatz, dass die Chorleitung aufs engste mit der Chorpraxis verbunden war. Das Chorsingen der Studenten fand in vielerlei Gestalt statt: – es gab homogene Gruppen – weibliche (in kirchlichen Mädchenschulen und Gymnasien), Kindergruppen (in Schulen unter der Obhut der Gemeinden und der “Musterschulen” – Schulen, die an pädagogische Hochschulen angeschlossen und deshalb besonders gut und fortschrittlich waren), männliche (in Priesterseminarien und Schulen mit diversen Schwerpunkten) und gemischte – zu finden in den Studiengängen für das Lehramt und für Vorsänger. Diese Studentenchöre gaben regelmäßige Konzerte. Neben ihrer ständigen Teilnahme an Sonntagsgottesdiensten wirkten sie auch bei vielen anderen musikalischen Aufführungen mit – Konzerte zur Feier von Jahrestagen, Heiligenfesten, Besuchen von hochrangigen Persönlichkeiten und den damit verbundenen Festivitäten innerhalb der Schulen, sowie literarischen und musikalischen Abendveranstaltungen. Das Repertoire dieser Studentenchöre kam als direkte Auswirkung dieser Aufführungspraxis zustande und umschloss Kirchenmusik, Werke von russischen und ausländischen Komponisten sowie Volkslieder. Auf der Grundlage dieser chorischen Aufführungspraxis ist es möglich, allgemeine Prinzipien zu erkennen, nach denen die dramatische Struktur von Choraufführungen ausgerichtet wurde (Programme wurden so zusammengestellt, dass sie aktuelle Anlässe, Epochen der Musikgeschichte, Stile oder besondere Themen berücksichtigten) sowie die allgemeinen Maßstäbe, nach denen der Grad der Kompetenz beurteilt wurde.
Nach dem Triumph der Oktoberrevolution verband sich die Neueinrichtung der Formen und Methoden zur Ausbildung von Chorleitern in Weißrussland aufs Engste mit der Konsolidierung der sowjetischen Kunst im Allgemeinen. Die Kinder von Fabrik- und Landarbeitern bekamen zum ersten Mal Zugang zum Erziehungswesen, und der Staat übernahm die Verantwortung für dessen Verwaltung. In den verschiedenen Provinzen von Weißrussland taten sich Musikschulen, technische Sekundarschulen und Konservatorien auf. Die Ausbildung der Chordirigenten in diesen Institutionen wurde durch die Kombination von Unterrichten, Aufführen und Vermittlung von Allgemeinbildung gekennzeichnet. Diese Institutionen besaßen ihre eigenen Chöre, zu deren Repertoire recht schwierige 4- bis 8-stimmige Kompositionen gehörten.
Eine ganze Reihe der interessanten Aspekte der Musikerziehung in Weißrussland steht in Verbindung mit dem Wirken solch bekannter Dirigenten wie N. Malko und M. Antsew. Deren Vorstellungen davon, was Dirigierunterricht beinhalten sollte und von der Beziehung zwischen Aufführen und der pädagogischen Ausbildung von Chorleitern übten einen positiven Einfluss auf das Musikerziehungswesen in Weißrussland aus.
Eine wesentliche Rolle in der landesweiten Ausbildung von Berufsmusikern fiel dem staatlichen Konservatorium zu (gegründet im Jahre 1932), das eine Sonderabteilung für Chordirigieren besitzt.
Diese Abteilung stand zu diversen Zeiten unter der Leitung von berühmten aktiven Musikern und Dirigenten, unter ihnen I. Bari, I. Gitgartz und V. Rowdo. Alles, was in dieser Abteilung geschah, war eng mit dem weißrussischen Chorleben und der Förderung des Laienchorwesens verbunden. Viele Studenten des Konversatoriums verbanden ihr Studium mit bezahlter Arbeit in Berufschören. Dies wurde nicht nur gestattet, sondern die Studenten wurden dazu ermutigt, weil dadurch die Vertiefung des theoretischen Wissens durch die Praxis gefördert wurde. Aus demselben Grund wurde es auch von den Studenten aller Jahrgänge erwartet, dass sie den Chor des Konservatoriums dirigierten. Eine Besonderheit der Abteilung für Chorleitung am weißrussischen staatlichen Konservatorium war die enge Verbindung zwischen den eigentlichen Chorübungen mit anderen Spezialfächern, darunter Solfeggio, Harmonielehre, chorisches Partiturlesen, Kenntnis der musikalischen und insbesondere der Chorliteratur und Klavier.
Jede neue Epoche im sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben der Gesellschaft brachte neue Herausforderungen mit sich, auch für den Bereich der Musikerziehung. Die modernen Systeme der Ausbildung von Chordirigenten stellten eine Kette von miteinander verbundenen Gliedern dar: Grundschule, Sekundarschule, Tertiärbereich, Aufbaustudium. Die Ausbildung für Dirigenten im Grundschulbereich erfüllt eine Doppelfunktion, indem sie der nächsten Generation eine allgemeine musikalische Ausbildung bietet, aber auch den begabtesten Kindern den Weg zur Berufsfindung weist, indem die Grundlagen des Lebens als BerufsmusikerIn vermittelt werden. Unter den Institutionen im Erziehungswesen, die auf diesem Niveau arbeiten, finden wir Musikschulen für Kinder, Chorschulen und Kunstschulen. In unserem Lande gibt es eine Reihe Spezialschulen für begabte Kinder, die über zwölf Jahre hinweg die Musikerziehung von sowohl der Primar- als auch der Sekundarstufe umfassen. Die Grundschulausbildung ist durch verschiedenartige Lehrpläne und die Erstellung von fortschrittlichen Systemen der Beurteilung gekennzeichnet.
Die gezielte Ausbildung für Chorleiter in Sekundarschulen ist der Zeitpunkt, zu dem ein schöpferisch begabter Mensch Entscheidungen über den Berufsweg treffen muss; darüber hinaus müssen jetzt auch die Kenntnisse und Fähigkeiten für das Berufsleben erworben werden. In Weißrussland werden die Grundlagen für dies Entwicklungsstadium von den Chorabteilungen der auf Musik spezialisierten Schulen und Akademien geliefert, die nach einheitlichen Lehrplänen arbeiten. Deren Zensurensystem auf der Basis von 1-10 ist die genaueste Methode, um das von den Schülern erreichte Niveau zu beurteilen.
Die Tertiärstufe (für Studenten, die ihre Ausbildung über die Pflichtschulzeit hinaus ausdehnen) ist der Zeitabschnitt, während dessen die jungen Menschen sich im Beruf etablieren und beträchtliche Kompetenz im Bereich der Chormusik erzielen. Dies Stadium der Ausbildung wird von der Akademie für Musik (bis 1992 weißrussisches staatliches Konservatorium), der Universität der Kultur und der pädagogischen Universität vertreten; sie alle sind bemerkenswert in den umfassenden und verschiedenartigen Studiengängen, die in ihren Abteilungen für Chordirigieren angeboten werden. Vielseitigkeit, das Aufrechterhalten von Traditionen und die Kontinuität des Lernens zählen zu den wesentlichen Charakteristika der modernen Chorleiterausbildung.
Die Verschmelzung von Theorie und Praxis ist der rote Faden, der sich durch die gesamte Chorleiterausbildung zieht – die Chorproben sind einer der wesentlichen Teile des Studienganges. Die Studentenchöre, die es in allen Hochschulen gibt, beteiligen sich aktiv an einer Vielfalt von Konzerten und anderen Veranstaltungen, was nützliche Erfahrungen einbringt.
Heutzutage muss das Chorleiterausbildungswesen unseres Landes sich der Herausforderung stellen, die nationale Musikkultur zu erhalten und weiter zu entwickeln: die künstlerischen Werke der Folklore und der nationalen Komponistenschule; Aufführungstraditionen, die sich in einer Reihe Methoden äußern: wie die Aufführenden das vermitteln, was sie mitzuteilen haben; und die stimmlichen Chortechniken, die in unserer Republik verbreitet sind.
Die Institutionen im Erziehungswesen lösen diese Aufgabe in unterschiedlicher Art und Weise: Volksmusik und Werke von Weißrussen sind Teil des Repertoires von Studentenchören und der Lehrpläne von Musik- und Singschulen – sie werden im Einvernehmen mit unserer heutigen Singtradition eingesetzt; und Studentengruppen nehmen an künstlerischen Aufführungen der Union der weißrussischen Komponisten teil.
Eine weitere Hürde, die wir in dieser Zeit zu nehmen haben, ist die Integration unseres Schulwesens in die europäische Gemeinschaft. Dies ist bereits in einer Anzahl weitreichender Schritte geschehen:
- Studenten und Chöre nehmen an internationalen Festivals, Wettbewerben und kreativen Projekten teil;
- Institutionen des Erziehungswesens laden bekannte Berufsmusiker aus dem Bereich der Chormusik zu Vorträgen über Themen der westeuropäischen Chormusik ein
- Institutionen unseres Erziehungswesens veranstalten internationale Wettbewerbe, Seminare und Konferenzen, deren Themen Wissenschaft und die Methodologie betreffen, sowie Workshops
Die Verbesserung der Berufsausbildung derer, die im Chorwesen arbeiten, bleibt ein wichtiges Ziel für das Erziehungswesen in all seinen Verästelungen. Der aktive Einsatz von moderner Computertechnologie im Unterricht, wodurch der Monolog von Vorträgen in einen Dialog verwandelt wird, der Einsatz von neuen Formen von Tätigkeiten für die Studenten außerhalb der Hörsäle, die Anwendung im Unterricht von Rollenspiel und Methoden, die sich an Problemen orientieren, das Einbinden von begabten jungen Menschen in die wissenschaftliche Forschung, Praktika bei Laien- wie Berufschören für jene, die ihre Examen schon abgelegt haben – dies sind die erfolgreichsten Methoden, durch die die Wirksamkeit des Studiums vertieft wird.
Das Niveau unserer Examensabsolventen ist auf allen Stufen der Ausbildung recht hoch. Studentenchöre sind regelmäßige Teilnehmer und Sieger in landesweiten und internationalen Chorfestivals und –wettbewerben. Sängergruppen spielen eine führende Rolle in der Organisation von Chorfestivals, sowohl auf lokaler als auch auf landesweiter Ebene.
Swetlana Gerasimowitsch ist Professorin für Chordirigieren an der weißrussischen staatlichen Akademie für Musik, künstlerische Leiterin und Dirigentin des “Modell” Kinderchores “Ranitsa” der Sekundarschule Nr. 145 in Minsk, mit dem sie zahlreiche Preise bei landesweiten und internationalen Wettbewerben gewonnen hat; sie wurde für ihre Erfolge in der Entwicklung der kreativen Fähigkeiten von Kindern mit dem Titel “Lehrkraft des Jahres” (Weißrussland, 2003) ausgezeichnet. E-Mail: egormakcim@mail.ru