“Zwischen Ost und West”, Chorsynkretismus auf beiden Seiten der Ägäis

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Antonis Ververis, Musikwissenschaftler, Dozent und Chorleiter, Ioannina, Griechenland

Dieser Artikel untersucht die Parallelen von zwei historisch signifikanten Vokaltraditionen, die sich in Istanbul entwickelten: Der griechisch-orthodoxe Gesang und die ottomanische höfische Musik. Wie wir sehen werden, teilen diese zwei Kunstmusik-Gattungen, außer dass sie am gleichen Ort entstanden, “ein ähnliches Schicksal”, das größtenteils durch die vorherrschenden politischen Strömungen des 19. Und 20. Jahrhunderts beeinflusst wurde. Darüber hinaus sind beide Genres eine Inspirationsquelle für zeitgenössische Chormusik-Komponisten sowohl in der Türkei als auch in Griechenland. Diese Komponisten haben dazu beigetragen, eine “synkretische” Chorgattung zu etablieren, die Merkmale der lokalen Musiktraditionen und westliche Kunstmusik miteinander vermischen.
Der griechisch-orthodoxe Gesang

Die Bezeichnung “Byzantinische Musik” bezieht sich auf die sakrale Musik der griechisch-orthodoxen Kirche. Man sollte dabei beachten, dass diese Bezeichnung problematisch ist, weil sie besagt, dass dieses Genre sich ausschließlich in der Byzantinischen Zeit entwickelte ohne die Jahrhunderte danach miteinzubeziehen. Darüberhinaus ist der Ausdruck “byzantinisch” selbst ein Neologismus, der von dem deutschen Historiker und Humanisten Hieronymus Wolf, der im 16. Jahrhundert lebte, eingeführt wurde, also nach dem Fall von Byzanz 1453. Aus diesem Grund wurden im akademischen Zusammenhang andere Bezeichnungen dafür vorgeschlagen, wie z.B. “griechisch-orthodoxer Gesang”. In seinem Grove Lexikonartikel erwähnte Kenneth Levy, dass 12.000 bis 15.000 Manuskripte von vor 1453 überlebten, wobei die ältesten – in ekphonetischen Neumen notiert – aus dem 9. Jahrhundert stammen. Er betonte auch, dass dieses Genre sich nach dem Fall des byzantinischen Reichs weiterentwickelte, aber hauptsächlich in Klöstern und am Sitz des Patriarchen von Konstantinopel (Istanbul) weiterhin florierte.

Griechisch-orthodoxer Gesang ist grundsätzlich monophon und wird a capella gesungen, begleitet von einem Summton (eine Art Bordun), genannt Isokratima. Dieser folgt einem musiktheoretischen System bestehend aus 8 Modi, die auch kleinere und größere Intervalle als den Halbton einschließen und nicht verwechselt werden dürfen mit den Modi, die man in westlicher Kirchenmusik der Renaissance vorfindet. Die Notation, die heute verwendet wird, ist das Ergebnis einer Reform zu Beginn des 19. Jahrhunderts, durchgeführt von den sogenannten “drei Lehrern” Chrysanthos, Chourmouzios dem Archivar und Gregorios Byzantios Protopsaltis. Aber wie der Musikwissenschaftler Nikos Andrikos hervorhebt, benutzt der griechisch-orthodoxe Gesang trotz seines “gelehrten” Charakters sowohl literarisch gebildete als auch mündlich überlieferte Elemente. Das bedeutet, er kann nicht mit absoluter Genauigkeit in eine Partitur transkribiert werden, weil es spezielle Charakteristika gibt, die mündlich von älteren Kantoren an jüngere weitergegeben werden.

Was die Kantoren betrifft, die in den griechisch-orthodoxen Kirchen in Istanbul sangen, so schienen diese auch Kenner der höfischen Musik gewesen zu sein. Dies wird offensichtlich an der großen Anzahl von Kantoren, die zugleich als Hofmusiker arbeiteten, von denen einige Ausgaben von ottomanischer Musik veröffentlichten oder sogar selbst theoretische Abhandlungen über dieses Genre schrieben. Zu erwähnen ist auch, dass die griechisch-orthodoxe Gemeinde nicht die einzige nicht-muslimische Religionsgemeinschaft war, die zum

Musikleben in Istanbul beitrug. Genauso wichtig war der Beitrag der jüdischen und armenischen Musiker, wie z.B. der Komponist Hampartsoum Limondjian (1768-1839), bekannt am ottomanischen Hof als ‘Baba Hamparsum’ (Vater Hampartsoum). Limondjian entwarf eine Notation, genannt Hamparsum Notation, mit der er Hunderte von Werken der ottomanischen höfischen Musik sowie geistliche und weltliche armenische Lieder transkribierte.

 

Concert in Lesvos, a Greek Island in the Northeastern Aegean Sea
Vokalmusik am ottomanischen Hof

Ottomanische höfische Musik war im Wesentlichen monophon und wurde traditionell in heterophoner Art aufgeführt. Sie bestand aus einem System von Modi und Rhythmen, bekannt als makoums und usuls. Am ottomanischen Hof schien Vokalmusik eine wichtige Rolle gespielt zu haben, wie man an einer beträchtlichen Anzahl von musikalischen Gattungen sieht wie kâr, beste, agir semai, yuruk semai, die Teile einer längeren fasil-Form waren, außerdem der şarkı, die Improvisationsform gazel etc. Trotzdem muss klargestellt werden, dass diese Vokalgenres hauptsächlich solistisch von Sängern aufgeführt wurden und nicht von Chören.

Bis zum frühen 20. Jahrhundert, als der Gebrauch von westlicher Notation allgemein üblich wurde, wurde die ottomanische Kunstmusik durch ein System von mündlicher Weitergabe, meşk genannt, gelernt. Im Zusammenhang mit visueller ottomanischer Kunst, wie Kalligraphie, bezog sich der Begriff meşk auf Abschreibübungen, die Lehrer ihren Lehrlingen aufgaben. In der Musik bedeutete der Begriff meşk eine Art des Unterrichtens, bei dem der Student sich das zu lernende Repertoire mündlich einprägen musste, indem er die grundlegenden Komponenten, z.B. den poetischen Text, den rhythmischen Zyklus (usul) und die melodischen Strukturen basierend auf das modale System der makams wiederholte.

 

“Zwischen Ost und West”

Der “Ost-West”-Gegensatz geht zurück auf die ottomanische Gesellschaft des 19. Jahr-hunderts. Was die Musik betrifft, wurde diese Dichotomie durch zwei entgegengesetzte Konzeptstile ausgedrückt: durch den alla turca und den alla franga Stil, wobei ersterer mit Moderne und Innovation in Zusammenhang gebracht wurde und letzterer mit der konservativen Verpflichtung zur Tradition. Bezeichnend in Bezug auf diese Ära ist die Entscheidung Sultan Mahmuds II (der 1808–1839 regierte), europäische Lehrer nach Istanbul einzuladen, um Musiker auszubilden, die in der ottomanischen Armee spielten und das Janissaren-Corps ersetzten, das bereits 1826 abgeschafft worden war. Zusätzlich wurde 1828 die westliche Notation als “offizielles System” des ottomanischen Reichs übernommen. Ähnlich war das Schicksal der ottomanischen höfischen Musik während der Jahre der türkischen Republik hauptsächlich aufgrund des multikulturellen Charakters der ottomanischen Kunst im Allgemeinen, was nicht zur Entwicklung einer nationalen türkischen Identität beitragen konnte. Da die ottomanische höfische Musik außerdem grundsätzlich monophon war, konnte sie nicht für die Musik einer Nation stehen, die ihren Platz unter den “entwickelten” Staaten der Welt beanspruchte. Aus diesen Gründen war das Interesse an dieser Musik zuerst nur begrenzt vorhanden, wohingegen seit den 1970er Jahren der große Einfluss des Staatsradios und -fernsehens eine neue Aufführungspraxis dieser Musik zum Standard machte und diese nun von großen instrumentalen und vokalen Ensembles aufgeführt wurden. Aufgrund ihrer Größe und trotz des monophonen Charakters der Musik erinnerten diese Ensembles an die westlichen Orchester und Chöre. Jedoch trotz des relativ begrenzten Interesses wurde die ottomanische höfische Musik – genauso wie die Volksmusik

aus den ländlichen Gebieten der Türkei – zur Inspirationsquelle für moderne türkische Komponisten. In seinem Artikel “Singen mit Stil: die türkische Chorlandschaft” [ICB 2021-4] machte der Dirigent Burak Onur Erdem zwei Schlüsselelemente in der Chormusik türkischer Komponisten aus, die den Einfluss dieser früheren Musikgattungen zeigen: ihre unregelmäßige rhythmische Struktur in Verbindung mit der modalen Entwicklung von Melodie und Harmonie unter dem Einfluss der Makams.

Interessanterweise unterlag der griechisch-orthodoxe Gesang auf der “gegenüberliegenden Seite der Ägäis” einem ähnlichem Wandel während der Jahrzehnte, die der Etablierung des griechischen Staates 1830 folgten. Bezeichnend war es, dass in der Kathedrale des Metropoliten von Athen beim Ostergottesdienst 1869 der Chor einige polyphon harmonisierte Hymnen aufführte. Obwohl diese Praxis Kontroversen in kirchlichen Kreisen verursachte, wurde sie während der Regentschaft der russisch-stämmigen Königin Olga (1863-1913) weiter entwickelt. Auch hier wurde die Vokalmusik als Mittel gesehen, um ein wichtiges Ziel zu erreichen: die Entwicklung einer neuen nationalen Identität eines Staates, der zu den anderen “entwickelten” Staaten des Westens zählte. Deshalb kombinierten Komponisten des frühen 20. Jahrhunderts Merkmale der europäischen Kunstmusik mit Elementen des griechisch-orthodoxen Gesangs und der Volksmusik in ihren Chorwerken. 1908 präsentierte der einflussreiche Komponist Manolis Kalomiris (1883-1962) sein Manifest für die sogenannte “nationale griechische Schule”, die den Zweck haben sollte “einen Palast zu bauen, in dem die nationale Seele auf den Thron gesetzt wurde” und deren Musik Volkslieder und Volksrhythmen mit den Techniken kombinierte, die von “musikalisch fortschrittlichen Völkern” erfunden wurden.

 

Antonis Ververis, 1982 in Athen geboren, wuchs auf der griechischen Insel Lesbos auf. Er studierte Musikwissenschaft und Musikerziehung an der Aristoteles Universität in Thessaloniki und Soziologie an der Universität der Ägäis. Außerdem erhielt er Studienabschlüsse in Chorerziehung und Chordirigieren an der Roehampton University, UK, und dem Lynchburg College, USA. Er promovierte an der Aristoteles Universität, wo er Studien über Geschlechterstereotypen in der Musikerziehung betrieb. Seine Forschungsinteressen erstrecken sich auch auf die stimmliche Entwicklung bei Kindern und Lehrmethoden in traditioneller griechischer Musik. Seit 2018 lehrt er Musikerziehung, Chordirigieren und Santouri (ein griechisches Volksmusikinstrument) am Musiklehrstuhl der Universität Ioannina, Griechenland. E-Mail ververis@uoi.gr

 

Übersetzt aus dem Englischen von Barbara Schreyer, Deutschland

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