Beispiel: “Die Nachtigall” des lettischen Komponisten Uģis Prauliņš (*1957)
Herr Prauliņš, Sie komponieren sowohl für Instrumentalgruppen als auch für Chöre, und Sie haben immer die Natur im Hinterkopf. Wieweit inspiriert die Natur Ihr Werk?
Immer, und dauerhaft. Seit vielen Jahren habe ich immer Eindrücke und Visionen aus der Natur im Sinn, während ich schaffe. Es gibt sogar Partien in meinem Werk, die in meinem Sinn bestimmte Orte heraufbeschwören – einen Baum, eine bestimmte Umgebung: dies Bild ist ständig in meinem Kopf. Die Natur wurde mir schon früh in meiner Kindheit auf dem Land sehr wichtig: das Sonnenlicht durch das Laub der Bäume, der Weg unter den Bäumen, Regentage und der Tau auf dem üppigen Gras, und die abgefallenen Blätter, golden oder in verschiedenen Farben. Später in meiner Kindheit lernte ich das Meer kennen, die Winde, den Sand, die ungewöhnliche Vegetation, spitzige Tannennadeln, Hitze … singende Vögel und die frische Luft, die morgens durch das Haus zog, wenn die Türen geöffnet wurden.
Diese Kindheitserinnerungen sind wirklich von grundlegender Bedeutung für mich, sie sind die Basis meines Lebens. Später sah ich die Parks in Riga, die Friedhöfe, besonders den alten verlassenen Kirchhof: die klangen für mich wie Black Sabbath I (das allererste Album dieser recht lauten Gruppe), die Wälder klangen wie Jethro Tull und auch ein bisschen wie Gentle Giant (beides britische Rock Gruppen). Bei Pink Floyd denke ich immer an den Sonnenaufgang auf dem taufrischen Land. Arvo Pärt, in seinen späteren Jahren, ist für mich verbunden mit den grauen (nebeligen) und (ruhigen) Sandstränden der Ostsee.
Im Jahre 2012 komponierten Sie “Die Nachtigall” für Blockflöte, gemischten Chor und Sprechstimme. Die Aufnahme mit Stephen Layton und dem Dänischen Nationalen Vokalensemble kam in die engste Wahl für gleich zwei Grammy-Auszeichnungen (“beste Choraufnahme” und “beste zeitgenössische Komposition”). Was ist die Vorgeschichte dieses Stückes?
Schon in den frühen 1990er Jahren, als ich in Dänemark herumtingelte, hörte ich eine Aufnahme der jungen Blockflötenvirtuosin Michala Petri – und die war atemberaubend … Ich träumte davon, etwas für sie zu schreiben (aber das ist natürlich einer der Träume, die man nie erreichen und in die Tat umsetzen wird). Zur gleichen Zeit begegneten mir auch die Klänge, die Tonsinfonie und die gedankenverlorenen (und windigen!) Stimmungen Dänemarks.
Fünfzehn Jahre später, als ich bei der MIDEM Konferenz in Cannes die Union der lettischen Komponisten vertrat, traf ich den Lautenisten, Gitarristen und Musikproduzenten Lars Hannibal (OUR Recordings), und nachdem wir uns immer wieder Jahr für Jahr bei MIDEM trafen, schlug der schließlich vor, dass ich ein großes Werk für das wunderbare Genie Michala Petri schaffen sollte. Zuerst dachte ich an Blockflöte mit Kammerorchester, aber dann fiel die Wahl – und es war eine weise Wahl – auf den Chor als Begleiter. Es wurde eine einmalige Kombination. Zu der Zeit war Meister Stephen Layton, der mich in Riga besuchte, auch Dirigent des Dänischen Rundfunkchores/Dänischen Nationalen Vokalensembles. Das Konzept gefiel uns allen. Zu dem Zeitpunkt wussten wir schon, was das Thema sein würde. Lars Hannibal hatte schon Hans Christian Andersen vorgeschlagen, dessen 200. Geburtstag gerade gefeiert wurde, und das Märchen von der Nachtigall – und Michala Petri ist fraglos für die weite Welt die Nachtigall aus Dänemark! Nach Verhandlungen mit dem dänischen Rundfunk gab die Rundfunkgesellschaft das Stück in Auftrag und setzte die Daten fest für die Premieren in Arhus und im Saal des dänischen Rundfunks in Kopenhagen.
Die Aufnahme fand vom 8. bis 12. August 2011 in der berühmten Christianskirche in Kopenhagen statt.
Wie ist die Sprache der Vögel mit der unsrigen verbunden? Worin bestehen ihre besonderen Eigenschaften?
Vögel besitzen ihre Sätze, Wiederholungen, Intervalle, emotionalen Rufe, auch Warnungen vor Gefahr und Geräusche, die eingesetzt werden, wenn sie im Wettbewerb stehen. Diese Lieder sind oft sehr laut, es gibt Menschen, die morgens nicht schlafen können! Aufs Ganze gesehen ist der Vogelgesang lebhaft, frisch, energisch, anschaulich, aber er kann auch der Trance ähneln, oder alltäglich oder nur so nebenbei erscheinen. Manche zwitschern nur leise vor sich hin. Und die Klangfarbe kann von einem kurzen “Tuieht” bis zum lang ausgedehnten Klang der heulenden Eulen reichen. Jedes Jahr sehe und höre ich im nahen Feld hunderte von Kranichen mit ihren unverkennbaren Rufen; es beginnt mit einem (solo), der dann die Initiative an andere Stimmen weiterreicht, was sich langsam zu einem massiven und lauten Chor voller Erregung, Trauer und düsterer Vorahnung ob der Reise in den Süden aufbaut (tutti). Wenn sie im Frühling zurückkehren, ist es anders – sie halten sich auf demselben Hang auf, einer kleinen Erhebung im Hügelchen, aber sie sind erschöpft und gar nicht laut.
Vor langer Zeit, im 16. Jahrhundert, benutzte Clément Janequin in seinem “Chant des Oyseaux” Lautmalerei, um es Menschenstimmen zu ermöglichen, die Sprache der Vögel wiederzugeben. Was haben Sie eingesetzt, um diese Sprache in “Die Nachtigall” mit einzuschließen?
Michalas Blockflötenstimmen und auch einige der Chorstimmen enthalten eine ganze Menge recht genauer Transkriptionen des Gesanges einer echten Nachtigall (ich nahm sie in meinem Garten auf); darüber hinaus entstand das Stück (unvermeidbar) sowohl in meinem Ferienhaus im Grenzgebiet von Lettland und in der grünen Oase unseres Hauses in Riga (ja, wir haben manchmal die Fenster schließen müssen, damit wir noch eine weitere Stunde schlafen konnten!).
Es sind vor allem die Triller und glissandi, die in der Blockflötenstimme benutzt wurden. Der Chor stellt manchmal den Wind in den Wipfeln der Bäume des Waldes dar, manchmal durch Summen, und mit gepfiffenen glissandi. Der Chor “erledigt” meist die Menschen und deren Gefühle – die Höflinge, den Kaiser usw. Es gibt auch gelegentlich Antworten und Nachahmungen des Gesangs der Nachtigall, also zahlreiche Melismen (die frei ad libitum behandelt werden dürfen). Im vierten Satz – “Während der Suche” – hat der Chor Spaß mit Tiergeräuschen, wobei der erste Sopran uns “nach Art der Vögel” zur Melodie der Nachtigall führt. Im sechsten Satz – “Im Palast” folgt der gesamte Chor den Sechzehnteln der Triller der Blockflöte. Die Sänger gurgeln auch: sie singen die Akkorde mit Wasser im Mund. Im siebten Satz – “Der künstliche Vogel” – versucht der Chor, zusammen mit der Blockflöte, genau das zu sein: ein künstlicher Vogel (was mich an einen Musiksequenzer oder eine Trommelmaschine erinnert). Es finden sich auch sehr hohe Töne (D6) für die Soprane, natürlich ein Bezug auf Vögel. Wie wir Vogelgesang sehen und hören hängt ausschließlich von unserer Vorstellungskraft ab (es gibt aber Leute, die ihren Gesang nachahmen können, und dann antworten sie!).
Wie haben Sie die Sprache der Vögel in den Dialog mit den Stimmen gesetzt? Haben Sie eine besondere Notierung für die Sänger benutzt, oder singen die vom üblichen Notensystem?
Ich habe einfache Nachahmungen benutzt; meist ist es die Blockflöte, die ins Gespräch mit den oberen Stimmen tritt. Die Stimmen sind meist im üblichen 5-Linien-System notiert; glissandi und Melismen sind ad libitum.
Auf welchen Aspekt der Sprache der Vögel sollten wir besonders achten, wenn wir das nächste Mal im Wald spazierengehen?
… eine Stille, eine Ehrfurcht vor dem, was geschieht. Einfach stillstehen und lauschen. Und versuchen Sie, das leiseste Geräusch zu aufzuspüren, und, nur mit den Ohren, den Ort, von dem es ausgeht zu finden.
Herzlichen Dank, Herr Prauliņš
Weitere Kompositionen von Uģis Prauliņš, die von der Natur inspiriert sind
- „Līvu sasaukšanās“ (Der Ruf der Menschen aus Liwonien [entlegene Gegend von Lettland mit einer inzwischen fast ausgestorbenen Sprache – Anm. d. Übers.]) [2018]
- Chorminiaturen „Japan Impressions (Eindrücke aus Japan)“ (Liederzyklus) [2017], besonders: ‘Asakaze ya’ (aufsteigende Lerche), ‘Yuku mizu ni’ (Libelle)], ‘Hototogisu’ (Nachtigall).
Übersetzt aus dem Englischen von Irene Auerbach, Vereinigtes Königreich