von der Ausbreitung des Christentums im alten russischen Staat am Ende des 10. Jahrhunderts bis zum Zusammenbruch des russischen Reichs am Anfang des 20. Jahrhunderts
Claudia Nikol’skaya-Beregovskaya
Die Chorkultur des alten Russlands
Die Geschichte in Bezug auf das russische Chorsingen hat uns keine Quellen hinterlassen, die die Musik-Kultur der Slawen bis zu dem Zeitpunkt beschreibt, als das Christentum in Russland angenommen wurde. Ein volkläufiges Lied, das mündlich von einer Generation zur anderen weiter gegeben worden ist, zeugt jedoch von der Tatsache, dass der uralte russische Gesang als Kunstform schon ein hinreichendes Niveau erreicht hatte.
Die Slawen sangen gewöhnlich ohne Instrumente, aber manchmal wurden Blasinstrumente als Begleitung eingesetzt, beispielsweise die slawische Flöte, Zhaleyka (ein Rohrkapselinstrument), Dudelsack oder Tut (eine Art Horn); Schlagzeug wie Schellenkranz oder Trommel; oder Saiteninstrumente wie Gusli (eine Art Zither).
Selbst in dem langen Zeitabschnitt nach der Einführung des Christentums, das – vom Adelspalast bis zur Bauernkate – eine sehr wichtige Rolle spielte, waren die Wurzeln der Kunst der Musik in der dunkelsten heidnischen Vergangenheit und in heidnischen Zeremonien zu finden.
Im Jahre 988, nach der Christianisierung des “Kiew Rus”, eines Gebietes, das heute etwa Weißrussland, die Ukraine und Russland selbst umfasst, nahm die russische Kirche das byzantinische griechische Glaubensbekenntnis in der Form an, wie es die Griechen selbst überliefert hatten. Was gewann das frisch bekehrte Russland dadurch im Bereich des Kirchengesangs?
Der erste Gewinn bestand aus einem Korpus mühelos zugänglicher, tadellos festgelegter Textmaterialien, in slawische Sprachen übersetzt, für das gesamte Kirchenjahr – eine Aufgabe, die die Slawen des Balkans bei Ende des 10. Jahrhunderts bewältigt hatten. Zweitens gab es mühelos zugängliche Gesänge in den acht Kirchentonarten (Strukturen, die als hlasy bezeichnet wurden) aus dem orthodoxen Osten, niedergeschrieben in der Stolp-Notation der liturgischen Musikbücher, sowie Formen und Stilrichtungen für solistischen und chorischen Kirchengesang, wie er im Osten üblich war. Hier müssen wir nun westliche musikalische und stimmliche Vorstellungen beiseitelassen und stattdessen die strikt vokale, melodische Natur des Singens betrachten, zusammen mit dem von den Kirchenvätern übernommenen Standpunkt in Bezug auf die Aufgaben des Singens in der Kirche.
Darüber hinaus gelangten Lieder in Stolp-Notation (nämlich znamena, was Zeichen bedeutet, oder kryuki, “Haken”) aus der griechischen Kirche nach Russland und wurden im Lauf der Zeit in russische Lieder umgearbeitet. Zeichen – kryuki oder znamena – gaben keine Anhaltspunkte in Bezug auf Tonhöhe oder –länge, sondern zeigten lediglich das Ansteigen oder Absinken der Stimme, den Nachdruck auf wesentlichen Wörtern oder Wortgruppen, und die Unterlegung der liturgischen Texte an.
Im Zuge der Entwicklung der Gesangskunst bildete das russische Volk einen unverkennbaren Gesangsstil aus, der zur Grundlage der landesweiten Sing- und Chorschulen wurde. Das Singen war vor allen Dingen durch eine respektvolle Haltung zum Text gekennzeichnet. Es ist eine bekannte Tatsache, dass im russischen Volkslied das Sprechen und das Musikalische zusammenfließen. Lieder ohne Text werden nicht erkannt, und Melodien können so oft wiederholt werden, wie das Lied es benötigt.
Die Melodien des Kirchengesangs wie die des Volkslieds dienten zur musikalischen Auslegung des Textes. Von Sängern wurde erwartet, dass sie hunderte spezifischer musikalischer Floskeln – genannt popevky – kannten, die symbolisch bestimmte Bilder des liturgischen Textes zum Ausdruck brachten. Die Konvention der Haken-Notierung gestattete aber auch gewisse Ausnahmen in Bezug auf die Melodien und ermöglichte kreative Umgestaltungen. Die griechische Überlieferung diente als ein Art Tuch, auf das die russischen Sänger ein melodisches Muster “stickten”, so wie es ihrem künstlerischen Geschmack entsprach, und wenn wir byzantinische Gesänge mit russischen vergleichen, so kann in letzteren eine gewisse Unabhängigkeit festgestellt werden.
Die Entwicklung eines feudalen Regierungssystems führte dazu, dass die lose Vereinigung des Kiew Rus zerfiel; stattdessen bildeten sich große und kleine Fürstentümer auf diesem Gebiet. In den Hauptstädten dieser Fürstentümer besaß jede Kathedrale ihren eigenen Chor und eine dazugehörige Singschule. Laut Nikolai Uspensky, einem der besten Kenner der russischen Kirchenmusik: “Da immer mehr Chormusik in den Zentren der Chorkultur entstand … war es möglich, die Elemente der byzantinische Kultur, die das Kiew Rus geerbt hatte, beiseite zu räumen und unverkennbar russische Charakterzüge zu entwickeln. Die Schaffung der unverkennbar russischen acht Kirchentöne war einer der wichtigen Aspekte dieses Vorgangs” [N. Uspensky, “Ancient Russian singing art”, M., 1971, p. 69].
Die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts brachte die Vereinigung Russlands und die Schaffung eines monarchistischen, zentral regierten Staates mit sich, mit Moskau als Hauptstadt. Das Zusammenlegen von Fürstentümern führte zur Entstehung einer gemeinsamen russischen nationalen Kultur im Bereich von Literatur, Architektur und Gesang; letzterer war das Ergebnis der Bereicherung für alle Beteiligten durch die Zusammenarbeit der Singschulen in Nowgorod, Wladimir und anderen russischen Städten.
Im Jahre 1551 verfügten die Behörden der Moskauer Kathedrale, dass das Priestertum vor Ort öffentliche Schulen einzurichten hatte, die Lesen, Schreiben, Buchschreiben und Kirchengesang zu unterrichten hatten. Darüber hinaus gründete König Iwan IV. (der Schreckliche) die Alexander-Siedlung, eine Art Hochschule, die sich der Kunst des Singens widmete. Er begann, die besten Sänger dorthin einzuladen, und sie gründeten die Moskauer Singschule. Unter diesen Sängern finden wir berühmte Namen wie die Brüder Rogow und Theodor der Christ.
In Nowgorod gab es in der Mitte des 16. Jahrhunderts eine Singschule; einer ihrer bekannten Vertreter war Marzellus der Bartlose (der laut Legende den gesamten Psalter vertont hat). Meister aus Nowgorod brachten auch die Kunst, die popevkys der znamenny-Gesänge zu variieren, auf ein sehr hohes künstlerisches Niveau.
Die Geburt der Polyphonie
Viktor Belyaev, der die Kunst des alten Singens erforscht, hält es für möglich, dass polyphones Singen in Russland vor dem 12. und 13. Jahrhundert in der Form von heterophonen Episoden existiert haben könnte.
In Nowgorod und Pskow, in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, erklang an besonders ernsten Feiertagen im Morgen- und Abendgottesdienst ein besonderer Lobgesang-Hymnus, ein Sprechgesang mit Einschluss von unterstützenden Stimmen. Während er in Nowgorod und Pskow war, lenkte Iwan der Schreckliche Aufmerksamkeit auf diesen Faktor in der Musik, und 1551 verfügte er für die Moskauer Kathedrale, dass das polyphone Singen “überall in Moskau” statt zu finden hatte.
Es gibt eine Reihe Spielarten der alten russischen Kirchenpolyphonie. Die bekanntesten unter ihnen sind Stücke, bei denen ein Vorsänger jeweils eine Zeile solistisch vorträgt, die dann von Chor oder Gemeinde in mehrstimmiger Homophonie wiederholt wird [line singing], sowie die ausgesprochen ernste demesvenny Polyphonie, bei der dissonante Episoden von Augenblicken der Harmonie und des Wohlklangs unterbrochen werden.
Dank der Schöpferkraft der russischen Meister erhob sich das demesvenny polyphone Singen zu beachtlicher künstlerischer Höhe.
Mehrstimmige Lieder
Nachdem es eine kurze Zeit existiert hatte, ohne sich wirklich durchzusetzen, wurde “line singing’ [wie oben beschrieben] in der Kirche durch mehrstimmige Lieder verdrängt, die aus Polen und der Ukraine nach Russland kamen.
Brüderschaften in Südwesten gründeten Schulen in orthodoxen Klöstern, und kirchliches Chorsingen war in diesen Klöstern Pflichtfach. Das Chorrepertoire bestand aus einstimmigen Melodien im Kiew Stil, in Harmonisierungen für Chor nach westlichem Vorbild. Die Slawen Südrusslands beherrschten diese Praxis meisterlich, und als sie in den Staat Moskau umsiedelten, brachten sie eine neue Art des Chorsingens mit, die noch nie zuvor in Russland gehört worden war.
Dadurch, dass es eine Reihe Charakterzüge des “line singing” borgte, verlor das polyphone Singen in Russland die Strenge seines harmonischen Kontrapunktes (“Note gegen Note”). Es nahm auch nationale Eigenschaften auf – ein Stück begann mit dem einstimmigen Gesang, darauf trennten sich die Stimmen, wobei die Basslinie sehr im Vordergrund stand ,was dem Gesamtklang Fülle verlieh. Auch wenn die russischen Meister in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts westeuropäische Harmonien als Grundlage benutzten, so behielten sie doch Elemente ihres horizontal ausgerichteten Denkens bei und gaben den Methoden der russischen Polyphonie den Vorzug, mit Vorsänger und unterstützendem Chor.
Patriarch Nikon [1605-1681) trug ganz wesentlich zur Verbreitung des mehrstimmigen Lieds bei. Er liebte die Pracht der Gottesdienste, die für ihn ohne angemessene musikalische Begleitung unvorstellbar waren, und so führte er das mehrstimmige Lied auch in den Chor des Moskauer Patriarchen und in die Klöster ein.
Die Hofkapelle von St. Petersburg
Die höchstgeachteten Spitzenchöre und Ausbildungsstätten in Russland waren die Hofkapelle in St. Petersburg und der Synodalchor, Teil der Synodalschule, die in Moskau kirchliches Singen unterrichtete.
Die Geschichte des ersten Auftritts dieser Chöre geht auf die Herrschaft von Iwan III. zurück. Zu der Zeit (1497) wurde die Kathedrale der Auferstehung Marias in Moskau gegründet und ein Chor, der aus den singenden Klerikern des Monarchen bestand, ins Leben gerufen. 1589 entstand ein russisches Patriarchat, innerhalb dessen der Chor der Patriarchalkleriker gegründet wurde. Dieser Chor wurde später in Moskauer Synodalchor umbenannt, und der Chor der Kleriker des Monarchen wurde 1703 von Peter I. nach St. Petersburg verlegt und in die Hofkapelle verwandelt. Beide Chöre erwarben sich große Beliebtheit, vor allem bei Ausländern, und sie verblüfften ihr Publikum durch die Schönheit sowohl der Oberstimmen als auch der Bässe. Die Chöre genossen viele Privilegien und bekamen staatliche Zuschüsse.
Das Ziel der ersten Berufschöre bestand darin, an Hofgottesdiensten mit Musik und an anderen Darbietungen für den König bei festlichen Anlässen mitzuwirken, wo der Chor sogenannte “weltliche” Musik aufführte, nämlich russische Volkslieder.
In den 1730er Jahren begann die italienische Vokalmusik sich innerhalb Russlands auszubreiten. Zuerst führten Musiker, die aus Italien eingeladen worden waren, kleine Zwischenspiele auf, und ab 1737 brachten sie Opern zur Aufführung, an denen auch russische Chöre teilnahmen. Wegen ihrer großen Zahl und ihres voluminösen Klangs erfreuten sich diese Opern beim Publikum großer Erfolge.
Da die Ausbildung für das kirchliche Singen Menschen verschiedener sozialer Schichten offen stand, war es möglich, Sänger für Berufschöre auszuwählen. So ist es kaum überraschend, dass die Hofkapelle von Natur aus hochbegabte Sänger hatte. Die Kapelle nahm auch die stimmliche und musikalische Ausbildung sehr ernst. Die Sänger waren stimmlich so gewandt, dass sie, wenn nötig, durchaus mit Erfolg Solopartien in den italienischen Opern übernehmen konnten.
Die italienischen Meister stellten nicht nur Opernaufführungen auf die Beine, sondern sie unterrichteten begabte Hofkapellensänger im Gesang. F. Araya (1709 – ca. 1770), B. Galuppi (1706-1785), D. Sarti (1729-1802), und V. Manfredini (1737-1799) dienten alle als Kapellmeister.
Die Hofkapelle erzielte besonders hohe Leistungen unter der Leitung des bekannten Komponisten Dimitri Bortniansky (1751-1825). Aus zeitgenössischen Memoiren entnehmen wir, dass der Klang der Kapelle zu der Zeit sanft und gleichmäßig war, mit einer erstaunlichen Reinheit der Tongebung. Das eindrucksvollste Merkmal des Chorklangs war jedoch die Einbeziehung der Orgel, die in der Folgezeit zum Markenzeichen dieser Mannschaft wurde.
Vom 18. Jahrhundert an erwarb sich die Hofkapelle Ruhm in ganz Europa. Ausländer gaben zu, dass sie außerhalb Russlands noch nie etwas Ebenbürtiges gehört hatten, was Geschick, Klangreichtum und künstlerisches Niveau anging. Nach einem Besuch in St. Petersburg schrieb Hector Berlioz 1847: “Dies ist der beste Chor, den es gibt, oder vielleicht den es unter vergleichbaren Institutionen in Europa je gegeben hat”.
Die Entwicklung des Chorlebens im Russland des 19. Jahrhunderts
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts führten zunehmend starke Entwicklungen im Erziehungswesen in Russland zu einem bitteren Kampf gegen ausländische Vorherrschaft. Im Bereich des Chorsingens zeigten sich solche Entwicklungen in dem Versuch, die nationale Chortradition wiederherzustellen, und im Zuge dieser Bewegung breitete sich ein Netz von Chören für Privatleute, Studenten, Laien, einfache Bauern und sogar Fabrikarbeiter in der Mitte des 19. Jahrhunderts über das ganze Land aus.
Ab Ende des 19. Jahrhunderts gab es berühmte Chöre, die von adligen Gönnern unterstützt wurden, beispielsweise den Chor des Grafen Schermetew, an der Spitze die bekannten Chordirigenten Stepan Degriarew (1766-1813) und Gabriel Lomakin (1811-1885) und die Kapelle des Prinzen Golitzin.
Der Sieg 1812 des russischen Reichs über Napoleon führte zu einer neuen Blüte der Nation, und die Gründung einer nationalen Kompositionsschule trug aktiv zur Entwicklung des Chorgesangs bei.
Michael Glinka (1804-1857), Gründer der russischen “ernsten” Musik, verließ sich in seinem Werk auf Volkskunst und Kirchengesang. Darüber hinaus gewann Glinka die Überzeugung, dass die Harmonisierung russischer Kirchengesänge sowie Originalkompositionen für die Kirche nicht auf westlichen Kontrapunktregeln, sondern auf den uralten Kirchentönen beruhen sollte, und viele andere russische Komponisten des 19. Jahrhunderts wie Mussorgski, Tschaikowski und Rachmaninoff nahmen einen ähnlichen ästhetischen Standpunkt ein.
Die Erfahrung des Singens in russischen Schulchören diente als Voraussetzung für die Entwicklung der theoretischen Überlegungen auf dem Gebiet der stimmlichen Ausbildung. Diese Tatsache wird insbesondere durch eine Reihe Veröffentlichungen belegt, die während 30-40 Jahren im Verlauf des 19. Jahrhunderts erschienen, darunter Glinkas “Übungen” und Warlamows “Vollständige Singschule”, in denen die Verfasser eine Art Vokaltraining entwickelten, das auf unverkennbar russischen Volksliedmelodien basierte.
Im Jahre 1862 eröffnete Gabriel Lomakin, Leiter von Graf Scheremetews Chor, zusammen mit dem Komponisten Mily Balakirew (1837-1910) in St. Petersburg die Freie Musikschule als Ausbildungsstätte für Musiklehrer. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts wird von dem gemeinsamen Bedürfnis russischer Intellektueller gekennzeichnet, ihr Wissen, auf allen Gebieten der Wissenschaften und der Künste, in den edlen Dienst der Volkserziehung zu stellen. Der Chor der Freien Musikschule, zusammen mit kostenlosen Chorsingstunden in Moskau und St. Petersburg, brachte verschiedene Schichten der Bevölkerung in Kontakt mit Vertretern des hochgeschulten Chorsingens. Zu Ende des 19. Jahrhunderts erschienen ausgesprochen fähige Chöre unter den Laienchören, darunter der Chor von Archangelsk, der Chor der Pretschistenski Arbeiterkurse in Moskau, der Rukawischnow Chor in Nischni Nowgorod, der Kasotski Chor in Penza, Kasernenchöre und sogar der Chor der Hafenarbeiter in Archangelsk.
Gleichzeitig machten sich auch Entwicklungen in der Kunst des Volksliedersingens aktiv bemerkbar. Eine wichtige Rolle in der Geschichte der Entwicklung der russischen Volksliederchöre gebührt einem großartigen Bauernchor unter Leitung von Iwan Molchanow (1808-1881). Als begnadeter Lehrer bezog Molchanow Kinder in den Chor mit ein und lehrte sie gleichzeitig Musiktheorie und Notenlesen. Auf weniger anspruchsvollem Niveau entstand eine “Chorschule”, aus der ein wahrer Sternenhimmel russischer Volksliedsänger und Chorleiter hervorging. Andere erwähnenswerte Volksmusikchöre des 19. Jahrhunderts sind die von Dimitri Agrenew-Slawianski (1836-1908), Peter Jarkow (1875-1945) und Mitrofan Piatnitski (1864-1927).
Die Moskauer Synodalschule für Kirchenmusik
Die Moskauer Synodalschule für Kirchenmusik und ihr Synodalchor wurden zum größten Zentrum für Forschung im Bereich der Kirchenmusik und für die Ausbildung hochqualifizierter Gesangslehrer sowie Vorsänger. Ihre Organisatoren und führenden Kräfte, aus angesehenen geistlichen und kulturellen Zentren, waren prominente Gestalten im russischen Kulturleben wie Stepan Smolenski (1848-1909), Wassili Orlow (1856-1907) und Alexander Kastalski (1856-1926), die das kirchliche Erziehungswesen reformierten und mit dem Synodalchor eine neue, einmalige Form der vokalen Organisation schufen.
Wassili Orlow nahm die Aufgabe auf sich, die öffentliche Aufmerksamkeit vermittelst neuer kompositorischer Methoden und Techniken auf die Erfahrung der sich wieder belebenden russischen Chormusik zu lenken, und zu diesem Zweck wurden die besten Männer in Russland eingestellt, darunter Peter Turtschaninow, Peter Tschaikowski, Victor Kalinnikow, Alexander Gretchaninow und Sergei Rachmaninoff. Die Polyphonie innerhalb des russischen Kirchengesangs war lange mehrchörig gewesen, mit den Stimmen in zwei oder sogar drei Gruppen unterteilt, gelegentlich sogar 24 oder mehr. Stepan Smolenski schrieb an seinen Freund Nikolas Findizen: “Du wirst es kaum glauben, aber ich fand eine Liturgie für zwölf Chöre (in 48 Stimmen) und zwei Konzerte für diese Besetzung aus Jaroslawl, die aus dem 17. oder frühen 18. Jahrhundert stammen? Was für Leute waren diese Russen?!”
Diese Bemühungen um das mehrchörige Singen können auf das Bedürfnis nach ästhetischer Schönheit in der Klangfarbe des Chores zurückzuführen sein. Das Kennzeichen von mehrchörigen Kompositionen ist die Vielschichtigkeit der Texturen, so dass jede Vokalstimme ihren eigenen Rhythmus haben kann und verschiedene Klangfarben sich gegenüberstehen.
Wenn sie die künstlerischen Fähigkeiten der Kirchenchorsänger betrachteten, so sahen Smolenski und Orlow diesen Fortschritt als die Entwicklung des Chors in eine Art “chorisches Orchester”. Mit dem Ziel eines größeren Abwechslungsreichtums der Klangfarben nahm Orlow seinen Abschied von der üblichen Konstruktion eines Chores und unterteilte ihn in “leichte” und “schwere” Stimmgruppen, die ihrerseits weiter in sogenannte “Notenständergruppen” unterteilt wurden (wie im Orchester). Eine jede solche Gruppe vereinte vier oder fünf Sänger mit Stimmen ähnlicher Klangfarbe, was es dem Dirigenten ermöglichte, für jeden Abschnitt des Stückes die richtige Klangfarbe einzusetzen und somit die Farbpalette des Chors als Ganzes zu bereichern. Mit dieser Vielfalt der Klangfarben erzielte Orlow erstaunliche Klangwirkungen, die sein Publikum verblüfften.
Nach Orlows Tod wurde Nikolai Danilin (1878-1945) zum Nachfolger als Hauptdirigent ernannt, und der Synodalchor übertraf selbst seine früheren Leistungen. Unter Leitung von Danilin gab der Synodalchor die Uraufführung von Rachmaninoffs Vespern. Während einer der europäischen Reisen dieses Chors schrieb die deutsche Presse: “Der Charakter dieses wunderbaren orientalischen Singens ist echt russisch – eine einmalige Mischung von uralten, halb barbarischen Elementen mit einer gereiften Kultur … Großartige Stimmen allein könnten diese unnachahmlichen Wirkungen nicht erzielen, wenn es nicht auch die jahrhundertealten Traditionen gäbe, das perfekte Ausbildungssystem der Synodalschule, und einen Leiter wie Nikolai Danilin”. [Memory of NM Danilin Letters. Memories. Documents. Moscow, 1987. S. 40-43]
Ab 1917 …
Nach der Revolution von 1917 wurde Russland zu einem neuen Staat, dessen Lebensweise das geistliche Leben der Russen in vielerlei Hinsicht veränderte.
Die Chorkunst, als die verbreiteteste aller Künste, war besonders empfindlich, was die Ansprüche dieser Zeit angeht. Komponisten aus diesen Jahren – Alexander Davidenko, Reinhold Glière, Isaac Dunaewskii und andere – widmeten nun dem Lied der Massen, mit Themen, die sich mehr auf das gemeinschaftliche Leben bezogen, beträchtliche Aufmerksamkeit.
Viele der Chöre des alten Russlands lösten sich auf. Auch der Synodalchor schloss. Es bestand Bedarf an Chören, die ihr Repertoire auf demselben professionellen Niveau vortragen konnten, aber mit anderen Themen. So wurde 1936 beispielsweise der Staatschor der UdSSR ins Leben gerufen, ab 1937 unter Nikolai Danilin. Im Rückblick auf diesen hervorragenden russischen Chordirigenten schrieb einer seiner Jünger, Moses Nahimowski, selbst Meister der Laienchoraufführungen: “Ich weiß nicht, wie Nikolai Danilin mit der Oktoberrevolution fertig geworden ist, aber er konnte sich einfach kein Leben außerhalb Russlands und der russischen Chormusik vorstellen und konnte sich nicht ausschließen, auch wenn viel von dem, das geschah, sich nicht mit seinen Ansichten deckte … “. [Memory NM Danilin Letters. Memories. Documents. Moscow, 1987. S. 174]
Nikol’skaya-Beregovskaya Claudia Philippovna
(1922-2011) war Chordirigentin, Musikerzieherin, Forscherin zum Thema der russischen Chorkunst und Professorin. Sie studierte bei Nikolai Michaelowitsch Danilin, dem hervorragenden russischen Chordirigenten, Kantor des Moskauer Synodalchors und Leiter des Staatschors der UdSSR. Sie verfasste bekannte wissenschaftliche Veröffentlichungen und Lehrbücher über die Geschichte und die Theorie des solistischen und chorischen Singens.
Übersetzt aus dem Englischen von Irene Auerbach, England
Edited by Steve Lansford, USA and Irene Auerbach, UK