Ferhan Baran, Ehrenamtlicher bei der Choral Culture Association
Als weltweit einzige transkontinentale Durchfahrt ist Istanbul eine Stadt der Stimmen. Sie überbrückt die prachtvolle und betriebsame Bosporusstraße, wo der Schrei der Möwen das Pfeifen der Dampfschiffe in diesem schönen Land durchschneidet. Diese große türkische Stadt umarmt anatolischen und europäischen Boden, bereichert durch eine Vielzahl musikalischer Hintergründe aus zahlreichen Kulturen, die auch das gemeinschaftliche Singen des Landes formten.
Istanbul ist eine Museumsstadt, denn es diente drei Imperien als Hauptstadt (römisch, byzantinisch und ottomanisch), und seine reiche multikulturelle Geschichte ist alt und einzigartig. Für die meisten HistorikerInnen ist Istanbul mit seiner vielsprachigen und multireligiösen Identität das Zentrum globaler Zivilisation. In einer Atmosphäre, in der byzantinische Kyries zusammen mit muslimischen Gebeten erklingen, ist Istanbul in der einzigartigen Lage, eine Bruderschaft verschiedener Kulturen zu bieten. So können scheinbar unterschiedliche Standpunkte an einem Ort zusammengeführt und verbunden werden, so, wie so viele verschiedene Kulturen ein Heim in der Stadt gefunden haben, in dem sie nebeneinander koexistieren und gediehen.
Die Chortradition der Türkei reicht zurück bis in die ersten Jahre der Republik. Darüber hinaus ist die Türkei seit 2010 gesegnet mit zahlreichen Chorfestivals, verschiedenen Chororganisationen, international angesehenen Chören und einer deutlichen Zunahme an Ausbildungsaktivitäten für Chorleitung. Wenn wir auf die Vergangenheit blicken ist es offensichtlich, dass westliche Polyphonie und östliche mikrotonale Kultur sich in diesem Land der kulturellen Brücken verbinden.
Dies schließt figurativ an die gegenwärtige wichtige Diskussion über die Anerkennung und Einbeziehung verschiedener Volksüberlieferungen und Traditionen aller Musizierenden rund um den Erdball an. Es gibt in unserem Fach, wie auch auf vielen anderen Gebieten der Humanwissenschaften, einen Paradigmenwechsel, der uns dazu zwingt, unsere Horizonte zu erweitern, respektvolle Wege zur Schaffung von Integration und Inklusion zu finden. Gastgeber für das World Symposium on Choral Music zu sein in einer Stadt wie Istanbul bietet die perfekte Bühne, um dieses wichtige Ideal zu erforschen. Der zentrale Gedanke für das WSCM23 ist die vollständige Repräsentation aus und innerhalb aller Regionen der Welt, unter Einbeziehung von so vielen Stilen und Traditionen des Ensemblesingens wie möglich, sowie die menschliche Form des gemeinschaftlichen Singens zu ehren und zu feiern. Wenn türkische traditionelle und polyphone Musik gemeinsam in diesem herrlichen Stück Land erklingen, ist es die beste Voraussetzung, unser Ideal zu erreichen.
Zusätzlich wird das Symposium eine Plattform sein für Diskussionen über unsere aktuellen Themen wie den Einsatz von Technologien bei Proben und Aufführungen; Rasse und soziale Gerechtigkeit; verschiedene Arten des gemeinschaftlichen Singens und der westliche Chorkanon in seinem Verhältnis zum Repertoire von Gesangstraditionen; Gleichberechtigung und Zugang; monophones gemeinschaftliches Singen sowie die Bedeutung und die Philosophie des gemeinsamen Singens. Das alles sind Themen, die nicht nur die gegenwärtige Situation auf unserem Gebiet erörtern, sondern die Vision und Projektion dessen, wie gemeinschaftlichens Singen in naher und ferner Zukunft sein könnte. Istanbul mit seiner reichen historischen Musikalität könnte einer der besten Orte sein, um zusammen zu singen und die Wege zu unseren Zielen zu diskutieren.
HORIZONTE IM WANDEL spricht als Thema dieser Kette von Aktivitäten sowohl dieses besondere IFCM Leuchtturm-Ereignis als auch die globale Chorgemeinschaft auf mehreren Ebenen an. Es legt ein neues und breiteres Verständnis von Chormusik nahe, das Stile, Regionen und Traditionen des Ensemblesingens einschließt, die nicht direkt mit der konventionellen Definition von Chormusik erfasst waren. In diesen parallelen künstlerischen Audrucksformen ist ein riesiger kreativer Reichtum, der für die Chorgemeinschaft Auslöser werden kann, um wirklich alle Traditionen des gemeinschaftlichen Singens, alle Stimmformen und Praktiken zu umfassen. Den Horizont zu verändern bedeutet, unsere Kunstform zu nehmen und ihre Grenzen auszudehnen. Der Horizont begrenzt unsere eigene Sicht, aber Horizonte müssen nicht stagnieren; jenseits von ihnen wird es immer mehr zu entdecken geben. Die Ränder des Horizonts sind vergänglich, flüchtig und schön, wie die Erfahrung der Musik selbst.
Das WSCM 2023 wird das allerbeste zusammenbringen, was die Chorwelt an Chören, SängerInnen, Vortragenden, PräsentatorInnen, ChorleiterInnen, KomponistInnen und anderen zu bieten hat. In dieser neuen Ära der Horizonte im Wandel gibt es ständig Gelegenheit für uns alle, zu teilen, zu lernen und zu würdigen. Wir freuen uns darauf, die Chorwelt 2023 in der prachtvollen Stadt Istanbul zu begrüßen
https://www.wscmistanbul2023. com
Ferhan Baran wurde in Istanbul geboren, er ist Filmkritiker und Chorsänger. Er besucht das Lycée Saint Joseph und erwarb seine Bachelor- und Masterabschlüsse in Wirtschaftsverwaltung an der Boğaziçi University. Seine Musikausbildung begann er während seiner Grundschulzeit am Konservatorium in Istanbul. Von 2004 bis 2012 war er Vorsitzender des Verwaltungsausschusses des Istanbul European Choir. 2016 schloss er sich Rezonans an, dem international preisgekrönten Chor. Er ist immer noch einer der Bässe dieses Chors. Seit den 1990ern werden seine Filmbesprechungen in führenden türkischen Zeitungen und Fachzeitschriften veröffentlicht. Zwischen 2013 und 2016 unterrichtete er die Klasse für Filmindustrie an der Fakultät für kommunikative Künste der Istanbul University.
Übersetzt von Lore Auerbach, Deutschland