Uwe Wolf, Musikwissenschaftler
Die Marienvesper ist Bestandteil einer Sammlung, die 1610 unter dem Titel „Sanctissimae Virgini Missa senis vocibus, Ac Vesperae pluribus decantandae”1 erschien. Diese enthält zu Beginn die Missa In illo tempore, eine Parodie-Messe nach der gleichnamigen Motette von Nicolas Gombert, und im Anschluss daran eine Abfolge von Vesper-Kompositionen (Responsorium, die fünf Vesperpsalmen für Marienfeste, Hymnus und das Magnificat in zwei Vertonungen) sowie die zwischen die Psalmen eingestreuten Concerti (Nigra sum, Pulchra es, Duo Seraphim, Audi coelum) und die Sonata sopra Sancta Maria — die sogenannte Marienvesper.
Über die Entstehung der Marienvesper bzw. der sie enthaltenden Sammlung wissen wir nur sehr wenig. Erstmals beschrieben wird die Sammlung im Juli 1610 von Monteverdis Vize Don Bassano Casola (Lebensdaten unbekannt). In einem Brief an Kardinal Ferdinando Gonzaga, den jüngeren Sohn von Monteverdis Dienstherrn Vincenzo Gonzaga, schreibt Casola, dass Monteverdi gerade seine sechsstimmige „Messa da Cappella” über Themen aus Gomberts Motette „In illo tempore” drucken lasse. Zusammen mit der Messe würden Psalmen für eine Marienvesper („Salmi del Vespro della Madonna”) gedruckt werden. Diese bestünden aus abwechselnden und verschiedenen Einfällen und Harmonien und seien ganz über den canto fermo geschrieben. Monteverdi beabsichtige, im Herbst nach Rom zu reisen, um die Sammlung Seiner Heiligkeit zu widmen.2
Tatsächlich trägt der Druck eine Widmung an Papst Paul V., datiert auf den 1. September 1610. Es wird einhellig vermutet, dass Monteverdi sich mit der Sammlung dem Papst wie wahrscheinlich auch anderen potentiellen kirchlichen Arbeitgebern als Komponist empfehlen wollte. Der Charakter einer „Bewerbungsmappe” hat den Druck von 1610 in vieler Hinsicht ganz wesentlich geprägt und ist ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis der Sammlung. In ihm ist sicher auch die Ursache für die Kombination von Messe und Vespermusik in einer Sammlung zu sehen. Messen waren traditionell konservativ gehalten, während man in der Vesper modernen Strömungen nachging,3 ein Spannungsfeld, das Monteverdi nutzte wie kein anderer Komponist seiner Zeit.
Am 1. September, dem Datum der Dedikation, dürfte der Druck schon nahezu fertig gewesen sein, denn bereits kurz nach diesem Datum macht Monteverdi sich auf den Weg nach Rom, wo er bereits Anfang Oktober 1610 eintrifft.4 Hauptanlass der Rom-Reise waren Monteverdis Bemühungen, für seinen Sohn Francesco einen Freiplatz am Seminario Romano, dem päpstlichen Priesterseminar, zu erhalten. Die Reise verläuft allerdings wenig erfolgreich: Monteverdi gelingt es weder einen Platz für seinen Sohn zu sichern noch bekommt er eine Audienz beim Papst, um den Druck persönlich zu überreichen. Monteverdi war Papst Paul V. möglicherweise 1607 bereits in Mantua begegnet. Dies könnte erklären, dass Monteverdi im Responsorium und Magnificat seine in jenem Jahr in Mantua uraufgeführte Oper L’Orfeo zitiert.5
Die Absicht Monteverdis, nach Rom zu reisen, war wahrscheinlich auch Anlass für die — möglicherweise schon länger geplante — Veröffentlichung von Messe und Vesper; schon in der ersten Erwähnung der Sammlung durch Casola (s. o.) wird sie mit der Rom-Reise in Verbindung gebracht. Wahrscheinlich geschah die Veröffentlichung unter einigem Zeitdruck, da Casola im Juli die Arbeit an der Veröffentlichung als Neuigkeit mitteilte, die Dedikation auf den 1. September datiert ist und Monteverdi bereits kurz nach diesem Datum nach Rom aufbrechen musste. Ein solcher Zeitdruck könnte jedenfalls manche Ungereimtheit im Druck von 1610 erklären, vor allem die Existenz abweichender (mutmaßlich früherer) Fassungen etlicher Sätze in der Generalbass-Partitur (s. u.), aber auch eine größere Zahl an Druckfehlern.
Ob es vor der Drucklegung eine „Uraufführung” aller oder einzelner Sätze gegeben hat, ist unbekannt. Während es bei der Messe eher denkbar erscheint, dass diese speziell für das Publikationsvorhaben geschaffen wurde, lassen z. B. die sehr unterschiedlichen Instrumentalbesetzungen der drei Sätze mit obligaten Instrumentalstimmen (Responsorium, Magnificat und Sonata) vermuten, dass diese Sätze zumindest z.T. für unterschiedliche Anlässe mit auf die jeweiligen Aufführungsbedingungen zugeschnittenen Besetzungen komponiert wurden.6 Auch die Fassungsdifferenzen zwischen Generalbass und Vokalstimmen in immerhin fünf Sätzen lassen auf Überarbeitungen schon vorhandener Stücke schließen.
Kirchenmusik gehörte allerdings in Mantua nicht zu Monteverdis eigentlichen Dienstaufgaben, was nicht ausschließt, dass er bei wichtigen Festen auch an der Kirchenmusik mitgewirkt hat.7 Zahlreiche Thesen zu Anlass und Bestimmung der Kompositionen sind im letzten halben Jahrhundert vorgebracht worden, ohne dass sich allerdings auch nur eine bislang dokumentarisch stützen ließe.8 Auch aus Monteverdis venezianischer Zeit sind keine Aufführungen belegt (wenn aber zumindest für Einzelteile sicher anzunehmen). Als sicher kann hingegen gelten, dass bei Monteverdis Bewerbung auf die Position des maestro di cappella an San Marco in Venedig der Druck von 1610 ein wichtiges Argument war, Monteverdi diese Position auch tatsächlich anzuvertrauen.9
Der Druck von 1610
Der Druck von 1610 gehört — wie im Übrigen auch Monteverdis spätere Sammlung Selva morale e spirituale von 1641 – in die Gruppe der Repertoiredrucke, die Musik für die zwei wichtigsten Gottesdienste der Weltkirchen, Messe und Vesper, in einer Sammlung in sich vereinen. In der Tradition solcher Repertoiredrucke ist auch die Bogenkennzeichnung der Singstimmen in der Sammlung von 1610 zu sehen: „Messa & Salmi di Claudio Monte Verde”10 Wenn auch der Inhalt der Sammlung mit Messe, Psalmen, Magnificat und Motetten in etlichen solchen Repertoiredrucken Parallelen findet,11 so gibt es doch auch gewichtige Unterschiede zwischen Monteverdis Sammlung von 1610 und anderen zeitgenössischen Drucken dieser Art:
- Psalmen und Concerti stehen nicht in getrennten Abteilungen, sondern alternieren.
- Die beiden Magnificat der Sammlung sind Fassungen ein und derselben Komposition.
- Die Messe greift mit der Form der Parodiemesse eine sehr altertümliche Form auf.
- Psalmen und Magnificat folgen einem klar definierten — und auch benannten — gemeinsamen Prinzip.
Besonders über Punkt 1 ist viel diskutiert worden. Die These, es handele sich um eine Vesper und nicht bloß um eine Abfolge von Kompositionen für die Vesper, stützt sich maßgeblich und vor allem auf diese Tatsache. Nur eine weitere Sammlung mit einer solchen Durchmischung ist bekannt12 und zudem nicht wirklich vergleichbar.13 Nicht weniger rätselhaft — und die These, dass es sich um eine geschlossene Vesper handele, möglicherweise stützend — sind die beiden Magnificat (Punkt 2). Mehrere Magnificat sind in vielen Sammlungen enthalten, aber normalerweise unterscheiden diese sich sowohl im Typ als auch im zugrunde liegenden Psalmton, um eine Sammlung für möglichst viele Vespern, viele Gelegenheiten zu empfehlen.14 Das ungewöhnliche Vorhandensein zweier Fassungen desselben Magnificat — mit und ohne obligate Instrumente — hat zusammen mit den Ad-libitum-Ritornellen in Nr. 2 und der Falsobordone-Notation der Singstimmen des Responsoriums (siehe Faksimile [in der Notenausgabe]) — den Eindruck erweckt, man habe zwei Fassungen (mit und ohne obligate Instrumente) ein und derselben, zusammengehörigen Vesper vor sich, und eben nicht eine möglichst universelle Sammlung.15
Punkt 3 und 4 hingegen unterstreichen den ganz ungewöhnlich programmatischen Anspruch der Sammlung, in der Monteverdi mit hoher Konsequenz eine stilistische Vielfalt ausbreiten will. Die stilistischen Extreme sind mit der bewusst konservativen Messe und den hochaktuellen Concerti gegeben: beides hier extrem, aber beides für sich genommen nicht ungewöhnlich. Das wirklich Atemberaubende aber sind die Psalmen und das Magnificat. „Vespro della B. Vergine da concerto, composto sopra canti fermi” lautet der programmatische Zwischentitel in der Generalbass-Partitur16 und bezeichnet die gewagte Kombination der rückwärts gerichteten Technik der Cantus-firmus-Vertonung mit dem hochmodernen konzertanten Stil innerhalb derselben Kompositionen. Wie üblich variiert Monteverdi den Stil von Psalm zu Psalm, bleibt dabei aber immer dem gewählten Grundprinzip treu; auch Casola hatte in seinem Schreiben an Ferdinando Gonzaga diese Tatsache – ähnlich wie die Parodie-Form der Messe – als hervorstechendes Merkmal beschrieben: „Salmi dcl Vespro della Madonna, con varie et diverse maniere d’inventione et armonia, et tutte sopra il canto fermo”.17 Kann man auch über die liturgische Einheit streiten (s.u.), so ist schon allein mit dem ungewöhnlichen Zwischentitel die kompositorische, künstlerische Einheit bezeugt,
Möglicherweise ist dieser programmatische Entwurf der Sammlung von 1610 auch für die o. g. Punkte 1 und 2 verantwortlich. Die eingeschobenen Concerti und die Sonata folgen für sich genommen einer logischen, in der Besetzung aufsteigenden Reihenfolge, wie sie in vielen Sammlungen der Zeit Standard ist. Ihre Position zwischen den Psalmen verschärft den Kontrast und erhöht die Farbigkeit der Sammlung. Dass Motetten (zu denen die Concerti gehören) auch zwischen Vesper-Psalmen musiziert wurden, ist zudem belegt (s.u.). Somit wäre eine solche Anordnung auch unabhängig von einem liturgischen Gesamtzusammenhang sinnvoll, beispielgebend und programmatisch. Und so könnten auch die beiden Fassungen des Magnificat18 Monteverdis Willen geschuldet sein, seine Fähigkeit unter Beweis zu stellen, eine gleichwertige Komposition sowohl mit großem Instrumentalapparat als auch a cappella zu schreiben.
Bei allen Sätzen, die mit mehr Stimmen besetzt als Stimmbücher vorhanden sind (also 8 und mehr), nehmen einzelne Stimmbücher zwei Stimmen auf (rechte Seite / linke Seite); die Wendestellen sind abgestimmt.19 Die Verteilung der zusätzlichen Stimmen auf die vorhandenen Stimmbücher erfolgte von Komposition zu Komposition unterschiedlich; kaum ein Instrument ist bei den drei Werken mit obligaten Instrumentalstimmen zweimal derselben Singstimme zugeordnet (s.u.). Missa und Magnificat werden dabei als mehrsätzige Werke behandelt; in einem Einzelsatz pausierende Stimmen erhalten einen Tacet-Vermerk. Die übrigen Kompositionen aber stehen jeweils für sich als einzelne Werke (und werden in nicht beteiligten Stimmbüchern nicht erwähnt). Das großformatige Stimmbuch „Bassus Generalis” enthält zum Teil eine weitgehend unbezifferte Basso-continuo-Stimme, die häufig noch über weite Strecken als Basso sequente geführt ist. Die vier Concerti hingegen werden dort in voller Partitur gedruckt, wie es bei solcher Musik allgemein üblich war.20 Volle Partituren sind darüber hinaus noch zum Crucifixus der Messe wie zu den Nr. 13g und 13l vorhanden; zu anderen Sätzen enthält das Stimmbuch ein zwei- (Nr. 1) oder dreistimmiges Particell (Nr. 4 und 6). Wir sprechen daher im Folgenden von einer Generalbass-Partitur; bereits in der Bogenkennzeichnung wird diese übrigens als „Partitura del Monteverde” bezeichnet. In der Orgel-Stimme zur vorliegenden Edition greifen wir die Particellnotation auf und teilen die originalen Orientierungssysteme mit; im Gegensatz zur Generalbass-Partitur von 1610 sind dort allerdings die Vokalstimmen textiert.
Liturgische Probleme
Im monastischen Stundengebet besteht die Vesper im Kern (es kommen noch weitere, gelesene Teile hinzu) aus dem Responsorium, fünf Psalmen (die nach Art des Festes wechseln) und dem Magnificat. Psalm und Magnificat werden jeweils von Antiphonen umgeben (zu singen vor und zu wiederholen nach dem Psalm), die den Bezug zum jeweiligen Fest herstellen.21 Der Ton des Psalms richtet sich nach dem vorgegebenen Ton der Antiphon; verschiedene Schlussformeln (differentiae) der Psalmtöne erleichtern den Anschluss zur Antiphon. In der Literatur über Monteverdis Vesper wird seit langem beschrieben, dass es kein Marienfest gibt, dessen Psalmtonfolge mit derjenigen des Druckes von 1610 übereinstimmt; zahlreiche Thesen schließen sich an diesen Befund an — von der Annahme von Sonderliturgie22 über die Behauptung, dass man es mit dem tonartlichen Bezug zur Zeit Monteverdis nicht mehr ernst genommen habe bis hin zur heute vorherrschenden Verneinung der liturgischen Einheit.
Viele Indizien deuten allerdings tatsächlich auf einen freien Umgang zumindest mit den Psalmtönen, ohne dass bislang aber klar wäre, was dies im Einzelnen bedeutet. Offenbar waren die differentiae nicht mehr im Gebrauch,23 und es gibt Sammlungen, die vorgeblich für alle Sonntage und Feste des Jahres Material bieten und tatsächlich alle in Vespern Verwendung findenden Psalmen enthalten, aber nur in je einem Psalmton.24 Auch Monteverdi benutzt die Psalmtöne nur noch mit den offenbar einzigen übrig gebliebenen Standard-Schlussformeln und verwendet die liturgischen Töne zudem innerhalb der Kompositionen auf verschiedenen Tonstufen — auch am Ende auf einer anderen als am Anfang, was eine schlüssige Rückkehr zur Antiphon unmöglich macht.25 Adriano Banchieri gibt in einer Übersicht über die Vespern des Kirchenjahres nur für das Magnificat die von Fest zu Fest wechselnden Psalmtöne an,26 was zusätzlich die offenbar geringe Bedeutung der Psalmtöne (und damit der Antiphonen?) unterstreicht.
Die Position der Concerti zwischen den Psalmen wird meist dahingehend erklärt, dass diese als Antiphonsubstitute anstelle der Wiederholung der Antiphon musiziert wurden.27 Bestärkt wird diese Theorie durch Berichte von Vespern, bei denen zwischen den Psalmen Motetten musiziert wurden. Doch müssen diese nicht zwangsläufig als Belege für die Substitution von Antiphonen gewertet werden. Es kann sich um eine nicht im engeren Sinne liturgische Praxis in den fast konzerthaften Vespern des frühen 17. Jahrhunderts handeln. Dies würde die — beispielhaft — zwischen den Psalmen stehenden Concerti möglicherweise schlüssiger erklären als die These der Antiphonsubstitution.28 Im Grunde kann hier nur die mangelnde Erforschung der liturgischen Praxis bedauert, aber keine Lösung geboten werden.
Inzwischen wird mehrheitlich angenommen, dass es sich bei dem Druck von 1610 nicht um eine liturgische Einheit handelt und von keiner zeitgenössischen Gesamtaufführung ausgegangen werden kann.29 Vielmehr wird Monteverdi damit gerechnet haben, dass einzelne Teile in verschiedenen Kontexten zur Aufführung gelangen würden. Dass Monteverdi zusätzlich zur in Vesperdrucken üblichen Anordnung der Psalmen und des Magnificat in ihrer liturgischen Reihenfolge die Concerti nicht, wie sonst üblich, in einer eigenen Abteilung des Druckes, sondern zwischen den Psalmen platziert, könnte auf eine intendierte Aufführungsreihenfolge deuten, wobei diese aber wiederum exemplarisch und nicht als eine „Aufführungseinheit” zu verstehen wäre.
Überblick über die Editionsgeschichte
Die Marienvesper hat inzwischen wohl mehr Editionen erfahren als jede andere Komposition des 17. Jahrhunderts. Den Anfang machte Carl von Winterfeld30 mit einigen Beispielen. Die erste Neuausgabe der vollständigen Sammlung gab Gian Franceso Malipiero 1932 innerhalb der von ihm herausgegebenen Monteverdi-Gesamtausgabe heraus.31 Es ist keine wissenschaftliche Ausgabe im heutigen Sinn; ein Kritischer Bericht fehlt, nur wenige Fußnoten weisen auf gravierende Abweichungen zur Quelle hin, zahlreiche Fehler im Notentext sind teils auf Eingriffe des Herausgebers, mehr noch auf Missdeutungen des Überlieferungsbefundes zurückzuführen. Dennoch bildete seine Ausgabe den Ausgangspunkt für nachfolgende Ausgaben (die freilich häufig auch die Fehler von Malipiero übernehmen). Es folgen Ausgaben für die Musikpraxis, die zunächst von Eingriffen vieler Art geprägt sind: Uminstrumentierungen, Kürzungen, Umstellungen und aus heutiger Sicht aberwitzigen Übertragungen der späten Mensuralnotation. Gleichzeitig beginnen sowohl Weglassungen (Concerti) als auch Ergänzungen (Antiphonen) gegenüber dem Druck von 1610, jeweils mit dem Ziel einer liturgischen Vesper.32
Maßgeblich für die Musikpraxis war lange Zeit die 1966 vorgelegte Ausgabe von Gottfried Wolters mit dem kompletten Vesperteil des Druckes von 1610 (nur Magnificat a 7).33 Wolters Ausgabe ist die erste mit einem — wenn auch unvollständigen — Kritischen Bericht. Die Notenwerte und Taktarten sind auch noch in seiner Edition starken Veränderungen unterworfen. Während die Partitur nur die originalen Instrumentalstimmen enthält, hat Wolters die Vesper — wie viele andere Ausgaben auch — im Stimmenmaterial durchinstrumentiert, wenngleich hier weitgehend unter Beibehaltung des originalen Instrumentariums. Liturgische Ergänzungen (Antiphonen) teilt er in einem Anhang mit. Wolters Ausgabe hat wie keine andere die Rezeption der Vesper geprägt. 1986 setzt mit der Ausgabe von Clifford Bartlett (rev. 1990/2010)34 eine Reihe neuer quellenkritischer Ausgaben ein, die aber — geprägt durch problematische Thesen — den Notentext auch erneut verfremden (siehe z. B. unten zur Transposition und zur Übertragung der Triolen in der Sonata [im originalen Vorwort zur Edition; dieser Teil ist in dieser gekürzten Fassungen nicht enthalten) oder aber durch übertriebene Quellentreue Probleme des Drucks von 1610 nicht lösen, sondern an die Aufführenden weitergeben. Auch im 21. Jahrhundert sind bereits wieder drei Neuausgaben erschienen (die vorliegende ist die vierte). Unter den neuesten Ausgaben ist vor allem die 2005 erschienene Ausgabe in der neuen Monteverdi-Gesamtausgabe, hrsg. von Antonio Delfino, erwähnenswert; die erste (und bislang einzige) Ausgabe, die in der Aufarbeitung der Überlieferung und in der objektiven Wiedergabe des Notentextes heutigen Ansprüchen an eine kritische Ausgabe entspricht. Auf der anderen Seite stören an Delfinos Edition die nicht mehr zeitgemäß verkürzten (und in Sechser gewandelten) Dreiertakte; dies ist den veralteten Richtlinien der Monteverdi-Gesamtausgabe geschuldet.
Claudio Monteverdi: Vespro della Beata Vergine, herausgegeben von Uwe Wolf, Stuttgart (Carus) 2013. Abdruck mit Genehmigung des Carus-Verlages
(Gekürzt. Im originalen Vorwort folgen Abschnitte zu Notation und Aufführungspraxis).
Uwe Wolf studierte Musikwissenschaft, Geschichte und historische Hilfswissenschaften in Tübingen und Göttingen. Nach seiner Promotion 1991 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Johann-Sebastian-Bach-Institut in Göttingen. Ab 2004 arbeitete er am Bach-Archiv Leipzig. Dort leitete er eine der beidem wissenschaftlichen Abteilungen und war vor allem verantwortlich für die Neukonzeption des Bachmuseums. Außerdem entwickelte er das Online-Projekt Bach Digital. Seit Oktober 2011 ist er Chefherausgeber beim Carus-Verlag, Stuttgart. Er hat an verschiedenen Universitäten gelehrt und gehört außerdem Herausgebergremien mehrerer Gesamtausgaben an. E-Mail: uwolf@carus-verlag.com
- Vollständiger Titel siehe Kritischer Bericht [der Edition, siehe S. XY [[gemeint die letzte Seite mit Hinweis auf Quelle]].
- Im Wortlaut: „II Monteverdi fa stampare una Messa da Cappella a sei voci di studio et fatica grande, essendosi obligato maneggiar sempre in ogni nota per tutte le vie, sempre piü rinforzando le otto fughe che sono nel motetto, in illo tempore del Gomberti e fä stampare unitamente ancora di Salmi del Vespro della Madonna, con varie et diverse maniere d’inventioni et armonia, et tutte sopra il canto fermo, con pensiero di venirsene a Roma questo Autumno, per dedicarli a Sua Santitä.” Der Brief ist erstmals veröffentlicht bei Emil Vogel, „Claudio Monteverdi. Leben und Wirken im Lichte der zeitgenössischen Kritik und Verzeichnis seiner Werke”, in: Vierteljahrsschrift für Musikwissenschaft, 3. Jahrgang (1887), S. 430. Der Brief wird in der Literatur zur Vesper häufig zitiert.
- Siehe dazu Uwe Wolf, Notation und Aufführungspraxis. Studien zum Wandel von Notenschrift und Notenbild in italienischen Musikdrucken der Jahre 1571-1630, Kassel 1992, Bd. I, S. 44ff.
- Man bedenke, dass Musikdrucke damals nur an wenigen Orten ausgeführt werden konnten. Monteverdis Sammlung erschien im Zentrum des Notendrucks, in Venedig in einer der großen Offizinen (Riccardo Amandino). Von dort mussten die Exemplare erst zu Monteverdi gelangen.
- Jeffrey Kurtzman, The Monteverdi Vespers of 1610. Music, Context, Performance, Oxford 1999, S. 14. Der Papst hielt sich im Mai 1607 in Mantua auf; die Aufführung des Orfeo fand schon im Februar 1607 statt, könnte aber noch „Hofgespräch” gewesen sein.
- So lässt sich z. B. das Fehlen einer Stimme für den dritten Zink im Responsorium (die Stimme der Viola I ist wie geschaffen dafür) ebenso wenig erklären wie das Fehlen der Violen in Sonata und Magnificat.
- Siehe u.a. John Whenham, Monteverdi; Vespers 1610, Cambridge 1997 (Cambridge Music Handbook), S. 29ff.
- Zusammenfassend zu den verschiedenen Thesen Kurtzman 1999, S. 11ff.
- In einem venezianischen Dokument wird erwähnt, dass sowohl die von Monteverdi aufgeführten Probestücke als auch seine gedruckten Werke für seine Wahl sprächen; vgl. Whenham 1997, S. 40 und Kurtzman 1999, S. 52f. Es ist sehr davon auszugehen, dass allein geistliche Werke zu Rate gezogen wurden, und außer den frühen, dreistimmigen Sacrae cantiunculae von 1582 und dem Druck von 1610 hatte Monteverdi nichts Geistliches publiziert.
- Michael Praetorius verkürzt den Titel weiter und spricht von Monteverdis („Claudii de Monteverde”) „Psalm’ vespertini”, ebenfalls eine in jener Zeit geläufigen Titelformulierung (Syntagmatis Musici Tomus Tertius, Wolfenbüttel 1619, Reprint Kassel 1954 (Dokumenta musicologia, I:XV), S. 128; Praetorius beschreibt dort die Versfolge des Hymnus „Ave maris stella”).
- Einige wenige Beispiele: Giovanni Paolo Cima, Concerti ecclesiastici, Mailand 1610; Francesco Rognoni Taegio, Messa, salmi intieri et spezzati, Magnificat, falsi bordone & motetti, Mailand 1610; Valerie Bona, Messa e vespro a quattro chori, Venedig 1611; Tomaso Cecchino, Psalmi, missa, et alia cantica, Venedig 1619; Sigismondo Arsilli, Messa, e vespri della Madonna, Rom 1621.
- Paolo Agostini, Salmi della Madonna, Magnificat A 3. Voci. Hinno Ave Maris Stella, Antiphone A una 2. & 3. Voci. Et Motetti. Tutti Concertati, Rom 1619.
- Zum einen handelt es sich hier bei den Antiphonen tatsächlich um Antiphontexte, zum anderen sind diese zwar — beispielhaft? – zwischen den Psalmen notiert, im Inhaltsverzeichnis (Tavola) allerdings getrennt aufgelistet.
- Uwe Wolf, „Et nel fine tre variate armonie sopra il Magnificat. Bemerkungen zur Vertonung des Magnificats in Italien im frühen 16. Jahrhundert”, in: Neues Musikwissenschaftliches Jahrbuch 2 (1993), S. 39–54.
- Auch Manfred H. Stattkus, Claudio Monteverdi. Verzeichnis der erhaltenen Werke. Kleine Ausgabe, Bergkamen 1985, S. 50ff., sieht zwei Fassungen eines Werkes (SV 206, 206a).
- In der Generalbass-Partitur Kopftitel zum Responsorium.
- Siehe oben, Fußnote 2.
- Es wurde diskutiert, welche Fassung die ältere sei und ob es überhaupt Fassungen einer Komposition oder nur ähnliche Kompositionen seien; siehe Whenham 1997, S. 78f. und Kurtzman 1999, S. 264ff., dort auch eine Zusammenfassung der bisherigen Diskussion. Es spricht indes manches dafür, dass der Zusammenhang der beiden Magnificat komplizierter ist und sich nicht eindimensional mit „1. Fassung, 2. Fassung” beschreiben lässt, da man in beiden Kompositionen Stellen findet, die man mit guten Argumenten als die älteren ansehen kann. Wahrscheinlich gibt es Vorläufer, die sich wechselseitig befruchtet haben.
- Siehe im Einzelnen die Tabelle im Kritischen Bericht [der Edition], S. 143.
- Die Partitur ist nicht textiert, da ja— anders als bei der nur in Partitur erschienenen weltlich-monodischen Musik — eine separate Vokalstimme verfügbar ist.
- Zur Anlage einer Vesper nach den Reformen des Konzils von Trient siehe Whenham, S. 8ff.
- Bekanntestes Beispiel hierfür ist die These Graham Dixons, es handele sich eigentlich nicht um eine Marien-, sondern eine Barbara-Vesper, komponiert für S. Barbara in Mantua, die dabei der speziellen Mantuaer Liturgie folge („Monteverdi’s Vespers of 1610: ,della Beata Verginel?”, in: Early Music 15 (1987), S. 386-89). Dem muss v.a. entgegengehalten werden, dass eine Vesper der Mantuaer Liturgie kaum für eine Widmung an den Papst, ja nicht einmal für eine Publikation geeignet gewesen wäre.
- Whenham 1997, S. 22; Pietro Pontio, Ragionamento di musica, Parma 1588, Reprint hrsg. von Suzanne Clercx, Kassel etc. 1959 (Documenta Musicologica, I:XVI), S. 97f.
- So z. B. Giovanni Giacomo Gastoldi, Psalmi ad vesperas in totius anni solemnitatibus, Venedig 1588, 21592; Adriano Banchieri, Salmi festivi intieri, coristi, allegri, et moderni, Venedig 1613. Vgl. auch Whenham 1997, S. 15.
- Siehe im Einzelnen Whenham 1997, S. 60ff.
- Adriano Banchieri, L’Organo Suonarino, 1. Auflage Venedig 1605, Reprint Amsterdam (zus. mit den Ausgaben 1611 und 1638) o. J. (Bibliotheca Organologica, XXVII). In der „Norma a gli organisti”, S. 118ff. werden für die verschiedenen Feste nur der Hymnus und die Magnificat-Töne für beide Vespern genannt.
- Whenham 1997, S. 20. Auf Orgelspiel zwischen den Psalmen weist Banchieri hin (L’Organo Suonarino, 2. Auflage Venedig 1611, S. 45 in der Faksimile-Ausgabe, siehe Fußnote 25).
- Siehe dazu auch Whenham 1997, S. 19.
- Siehe dazu u.a. Whenham 1997, S. 2, und Kurtzman 1999, S. 39.
- Carl von Winterfeld, Johannes Gabrieli und sein Zeitalter, Berlin 1834, Reprint Hildesheim 1965, Band 111, S. 112f. (Dixit Dominus) und S. 114f. (Deposuit aus dem Magnificat a 7).
- Monteverdi Opere, Bd. XIV, Teilband 1 und 2.
- Claudio Monteverdi, Vesperae beatae Mariae virgini. Marien-Vesper 1610, hrsg. von Gottfried Wolters, Wolfenbüttel und Zürich 1966.
- Monteverdi, Vespers (1610), revised editions 1990 und 2010, hrsg. von Clifford Bartlett, Huntingdon 1990 bzw. 2010.
- So sind z. B. viele Unstimmigkeiten in der Ausgabe Claudio Monteverdi, Vespro della beata Vergine da concerto, composto sopra canti fermi SV 206, hrsg. von Jerome Roche, London etc. 1994, stehen geblieben, wie rhythmische Differenzen zwischen Bass und Bc oder divergierende Mensur-/Taktzeichen.
- Claudio Monteverdi, Missa da capella a sei. Vespro della Beata Vergine, editione critica di Antonio Delfino, Cremona 2005 (Claudio Monteverdi: Opera Omnia. Edizione nazionale a cura della Fondazione Claudio Monteverdi, Volume nono).