Anatoly Kiselev, Komponist
Im Sommer 1955 kamen über fünfhundert Jungen aus Städten der gesamten Sowjetunion zum Vorsingen ins Staatliche Chorkollegium in Moskau. Das Kollegium stand unter der Leitung von Alexander Sveshnikov (1890-1980), dem prominenten russischen Chordirigenten und Rektor des Moskauer Konservatoriums, deshalb das hohe Niveau des Wettbewerbs. Ich hatte das Glück, damals zu den zwölf Gewinnern zu gehören und nach einer strengen Prüfung in das berühmte Zentrum der Chorkunst in Russland aufgenommen zu werden.
Die ersten professionellen Chöre in Russland – angestellte Sänger der Herrscher und Patriarchen – bestanden nur aus Männern und wurden erst später mit Jungen vervollständigt, die eine besondere Ausbildung erhielten. Die späteren berühmten russischen Chöre – der Synodalchor in Moskau und die Hofkapelle in St. Petersburg – vereinten ebenfalls Aufführungen (Gottesdienste und Konzerte) mit pädagogischen Aktivitäten. Das über Jahrhunderte hinweg entwickelte Doppelsystem für Sänger und Kantoren endete 1917 mit der gleichzeitigen Auflösung des Synodalchors und der Synodalschule (1918).
In dem schweren Kriegsjahr 1944 gründete Alexander Sveshnikov das Moskauer Staatliche Chorkollegium (MSCC), das heute nach ihm benannt ist. Er lud führende Professoren des Moskauer Konservatoriums sowie drei Absolventen der Moskauer Synodalschule (A.Sergeev, A.Grebnev, N.Demianov) ein, dort zu unterrichten. Damit sicherte er den Fortbestand der russischen Vokal- und Chortradition. Sveshnikov hatte eine direkte Verbindung zur Synodalschule, denn er war dort von dem berühmten Kantor Nikolai Danilin unterrichtet worden, der als erster Rachmaninows Vespermesse (Ganznächtliche Vigil, oder auch Das Große Abend- und Morgenlob) aufgeführt hatte; er hatte dort sein Studium als externer Student absolviert.
Nach und nach wurde die Struktur des Chorkollegiums komplexer: Es wurde umfassender und schloss ein Primarstufe für siebenjährige oder ältere Jungen ein, so dass die Schüler nicht nur eine musikalische Sekundarausbildung bekamen, sondern auch eine Grunderziehung. Der historische Wachstumsprozess dieser einzigartigen pädagogischen Institution wurde abgeschlossen mit der Gründung der Chorakademie im Jahre 1991 durch Professor Victor Popov (1934-2008), einem Absolventen des MSCC. Die rein männliche Chorakademie umfasst eine Grund- und Sekundarstufe (elf Jahre) und eine höhere Stufe (5 Jahre) für die Berufsausbildung. Die höhere Stufe ist auch für Mädchen zugänglich.
Anders als die meisten vorrevolutionären Chöre in Russland und die dazu gehörigen Schulen ist die Chorakademie eine weltliche Musikschule. Ihr Repertoire ist jedoch nicht auf weltliche Musik beschränkt, sondern umfasst auch klassische geistliche Musik.
Das Chorkollegium und später auch die Akademie entwickelten sich zu einer wahren Quelle für musikalische Talente. Es studierten dort berühmte Chorleiter und Pädagogen, wie Alexander Yurlov, Vladimir Minin, Viktor Popov, Andrey Kozhevnikov und Boris Kulikov sowie Komponisten wie Rodion Shchedrin, Alexander Flyarkovsky, Rostislav Boyko, Vladislav Agafonnikov, Valery Kikta und Eduard Artemyev. In der Chorakademie entwickelte sich über die Zeit eine starke Vokalschule, aus der viele prominente Sänger hervorgegangen sind, die auf der ganzen Welt auftreten, darunter Dmitry Korchak, Vasily Ladyuk, Nikolai Didenko, Ekaterina Lekhan, George Vasiliev und viele andere.
Zusätzlich zu der sehr gründlichen Ausbildung gehört zu einer vollständigen Musikerziehung auch das Konzertieren. Schon früh gaben die Akademiechöre (Knaben-, Jugend-, Männer- und gemischte Chöre) hervorragende Chorkonzerte und Solistenauftritte und nahmen an großen chorsinfonischen Aufführungen unter Begleitung von führenden russischen und ausländischen Orchestern teil.
Zu den wichtigsten Leistungen der Akademiechöre gehört ihre häufige Teilnahme an internationalen Musikfestivals: Bregenzer Festspiele (Österreich 1995, 1996), Festival de Colmar (Frankreich, regelmäßig seit 1998), Rheingau Musikfestival (Deutschland, jährlich seit 1994) und natürlich in Moskau (Moskauer Frühling, Moskauer Osterfestival, Kirschbaumwald, Mocertiana u.a.m.). Chöre der Akademie haben an einer Reihe von Welturaufführungen teilgenommen: Leben und Tod unseres Herrn Jesus Christus von Edison Denisov in der Alten Oper in Frankfurt (1994, Ltg. A. Katz) und die Hymne an den Heiligen Daniel, Fürst von Moskau von Krzysztof Penderecki (Moskau 1997), die viele Male in Russland und im Ausland aufgeführt worden ist. Ebenfalls vielfach in Russland und im Ausland aufgeführt: Sergej Rachmaninows Vesper, Gustav Mahlers Dritte und Achte Symphonie, Verdis Requiem, Leonard Bernsteins Chichester Psalms, Stravinskys Psalmensinfonie und viele andere Werke. Ich bin stolz darauf, dass meine eigenen Kompositionen Liturgie und Vesper zu Lebzeiten von Victor Popov zu den Uraufführungen des Akademiechors zählten, wie auch eine Reihe von Chorkonzerten.
Seit Beginn des 21. Jahrhunderts hat die Akademie mit Erfolg eine Reihe von einzigartigen kreativen Projekten initiiert: das Internationale Kinderchorfestival ‚Kinder unseres Planeten sind Freunde‘, das russische Knabenchorfestival, das Festival ‚Junge Stimmen Russlands‘, den Moskauer Wettbewerb für Chordirigenten sowie weitere bedeutsame kulturelle Veranstaltungen.
Anatoly Ivanovich Kiselev
(geb. 18.02.1948) ist ein russischer Komponist, Präsidiumsmitglied der Union russischer Komponisten und als ‚Arbeiter der Künste‘ in Russland geehrt. Von 1975 bis 1988 war er künstlerischer Leiter des Instrumentalensembles Dobry Molodtsky. Er hat Sinfonien, Kammer- und Instrumentalmusik, Vokal- und Chormusik, Theater- und Filmmusik sowie geistliche Chormusik komponiert. 2006 wurde er zum ‚Nationalen Schatz‘ ernannt. Er ist Eurovisionspreisträger mit einer Nominierung für die Goldene Antenne (Fernsehmusik für Kinder). Email: kisseleai@mail.ru
Übersetzt aus dem Englischen von Jutta Tagger, Frankreich
Edited by Laura Clarke, UK