Alexander Pullinger, London, UK
Alexander Pullinger, wohnhaft in London, Kontratenor, Gesanglehrer und Fürsprecher für die LGBTQ+ Gemeinschaft, wurde von der karitativen Organisation für Jugendmusik Sound Connections [Tonverbindungen] beauftragt, ein brennendes Thema innerhalb der E-Musik zu untersuchen, ein Thema von grundlegender Bedeutung sowohl für das gemeinsame Singen als auch für die Gesellschaft als Ganzes. Der folgende Artikel ist eine Zusammenfassung seines Vortrags “Facilitating the empowerment of transgender voices through singing: a case for the removal of cisgendered expectations in western classical singing, and the creation of trans-positive singing spaces” [Wie erleichtern wir die Eingliederung von Transgender-Stimmen in unser Singen: ein Aufruf für die Abschaffung von cis-gender Erwartungen im Bereich des westlichen Singens in der E-Musik, und für die Schaffung einer Umgebung mit positiver Einstellung für das trans-positive Singen].
Das Kernvokabular
- cisgender (oder “cis”)” alle, die nicht transgender sind (vom Lateinischen “cis” = gleich)
- transgender (oder “trans”): alle, deren Selbstidentifikation nicht mit der Identifikation übereinstimmt, die ihnen bei der Geburt zugeteilt wurde (vom Lateinischen “trans” = auf der anderen Seite von)
- Geschlecht: bezieht sich oft auf den Körpertyp oder die Anatomie und kann die hormonale Situation beschreiben
- Gender: eine individuelle Erfahrung des Männlichseins, des Weiblichseins, einer Kombination von beiden, etwas vollkommen anderes, oder keiner der hier vorgeschlagenen Begriffe
- Bei der Geburt zugeteilt: die Entscheidung eines Arztes in Bezug auf das Geschlecht eines Säuglings auf der Grundlage von dessen äußeren Geschlechtsteilen (die übliche Definition von Geschlecht)
- nicht binär: alle, deren Gender nicht ausschließlich männlich oder weiblich ist
- Gender-Darstellung: wie Menschen ihr Gender zum Ausdruck bringen (z. B. Kleidung, Frisur, Schminken, Angewohnheiten, usw., abhängig vom sozialen oder kulturellen Kontext)
- Stimmtypus: “Eine Gruppe von Stimmen mit ähnlichem Stimmumfang, dazu befähigt, in ähnlicher Stimmhöhe zu singen, und mit ähnlichen Schaltstellen”, zumeist das Ergebnis der Sexualhormone
Es ist eine bekannte Tatsache, dass das Singen positive Auswirkungen hat in Bezug auf die seelische Gesundheit, soziale Isolierung und auf das Gefühl, nicht im Einklang mit dem Körper zu stehen. Menschen aus der Transgendergruppe sind über Gebühr von diesen Schwierigkeiten betroffen. In meiner Arbeit als freiberuflicher Sänger habe ich gesehen, dass Transgender-Menschen beträchtliche Hindernisse zu überwinden haben, um beim Singen zugelassen zu werden, in erster Linie wegen der eingefleischten cis-gender-Erwartungen in Bezug auf den Stimmtypus (“Männer singen tief, Frauen singen hoch”). Im Chorsingen hören wir beispielsweise von “Männerstimmen” (Tenöre und Bässe) und “Frauenstimmen” (Soprane und Alti). Diese Erwartungen führen zu einer Atmosphäre im Singen, die stark vom gegenderten und/oder cis-gegenderten geprägt ist, einer Atmosphäre, in der die Stimmen sowohl je nach Gender zugeteilt sind, und wo darüber hinaus erwartet wird, dass sie mit einem bestimmten Körpertypus übereinstimmen. Der Stimmtypus ist jedoch weitgehend ein Produkt der Sexualhormone und nicht vom Geschlecht bestimmt, und so ist der Versuch, Stimmen ein Geschlecht zuzuteilen, unlogisch – selbst wenn es so am einfachsten erscheinen mag. Als Ergebnis dieser Erwartungen bleibt eine Tätigkeit, von der Transgender-Menschen wirklich profitieren könnten, vielen von ihnen weitgehend unzugänglich. Die, die es wenigstens schaffen, am Singen teilzunehmen, empfinden die Umgebung oft als ablehnend oder gefährlich – was oft dazu führt, dass sie die Gruppe verlassen und nicht zurückkehren.
Es gibt außerordentlich erfolgreiche Sänger, die kein Geheimnis aus ihrer Transgender-Identität machen, aber sie sind die Ausnahme. Vor kurzem beschrieben die Nachrichten in der BBC den Transgender-Opernsänger Adrian Angelico als “einen der wenigen transgender Opernsänger in der Welt”. Er teilte mit, dass die Oper ihm dabei half, sich darüber klar zu werden, dass er transgender ist (https://www.bbc.co.uk/news/av/uk-57275103).
Dies bezeugt die unbegrenzten Möglichkeiten des Singens, Transgender-Menschen bei der Erfüllung ihres Potentials zu unterstützen. Die Tatsache jedoch, dass wirklich prominente Sänger in der E-Musik, die offen transgender sind, sehr selten sind, zeigt uns, zusammen mit den verfügbaren Beweisen, dass es sowohl im Publikum als auch in den Institutionen, die sich mit Singen befassen, noch sehr an allgemeiner Akzeptanz mangelt. Eine beträchtliche Zahl derer, die Erfolg erzielt haben, wie Adrian Angelico, outeten sich erst, als sie schon etabliert waren. Bis dahin wurden sie von den Instituten, in denen sie ausgebildet wurden, als “cis” betrachtet. Er sowie andere transgender Opernsänger wie Lucia Lucas und Holden Madagame erinnern sich noch an ihre Bedenken, dass der Übergang das Ende ihrer Karrieren hätte bedeuten können.
Dies betont den ausschlaggebenden Punkt: die Tatsache, dass viele Transgender-Menschen sich aus Furcht vor Diskriminierung oder Angriff nicht als solche zu erkennen geben. Es gibt vermutlich also in unseren Chören und unter unseren Gesangsstudenten viele transgender Menschen, die sich nicht in der Lage sehen, offen darüber zu sein, wer sie eigentlich sind – und das ist nur zu verständlich. Es ist offensichtlich, dass Erwartungen, die von cis-gender Vorstellungen geprägt sind, möglicherweise und auch in der Tat einen wesentlichen Einfluss darauf haben, ob transgender Sänger fühlen, dass sie arbeiten können, ohne mit negativen Folgen konfrontiert zu werden. Diese Erwartungen halten auch vermutlich eine ganze Reihe transgender Menschen davon ab, in den früheren Stadien des Übergangs Gesangstunden zu nehmen, sich dem Vorsingen zu stellen und überhaupt am gemeinsamen Singen teilzunehmen, Anlässe, aus denen die Unterstützung und Erfahrung gesammelt werden könnte, die nötig ist, um höchstes Niveau zu erzielen. Es ist unmöglich, nur durch Anschauen festzustellen, ob jemand transgender ist oder nicht; deshalb müssen Einrichtungen, wo gesungen wird, trans-inklusiv sein, ganz unabhängig von Annahmen, wer anwesend sein wird. Dadurch wird nicht nur der Zugang von trans Menschen verbessert, sondern es ergibt sich – durch die Lockerung der Erwartungen in Bezug auf Gender – auch ein positiver Eindruck auf die cis Sänger.
Es folgen ein paar praktische Vorschläge, wie man das Singen trans-inklusiver gestalten kann.
- Gesanglehrer und Musikdirektoren werden sich der Lage stärker bewusst
Es ist unabdingbar, dass Gesanglehrer und Musikdirektoren sich der trans Situation stärker bewusst werden, und dass sie Trans-Studenten oder -Kollegen nicht mit der Aufgabe belasten, ihre Gender-Identität zu erklären. Das beste vorhandene Hilfsmittel dazu ist The Singing Teacher’s Guide to Transgender Voices [Transgender-Stimmen: ein Leitfaden für Gesanglehrer], erschienen bei Jackson Hearns and Kremer. Der hohe Preis dieses Buches (etwa €120) dürfte viele Einzelpersonen vom Kauf abschrecken, aber Institutionen sollten es als ihre Pflicht betrachten, es für ihre Bibliotheken anzuschaffen. - Sprachgebrauch
Das Benutzen von gender-geprägten Ausdrücken in Proben entscheidet sofort über die Einstellung der Gruppe zu Stimmtypen. Wenn cis-gender Sänger mit höheren Stimmen als “Damen” bezeichnet werden, so merken die, die sich also solche identifizieren, das vermutlich überhaupt nicht. Aber für die, die das nicht tun, beispielsweise transgender Männer, kann das zutiefst verletzend sein und sie im Gefühl ihrer Daseinsberechtigung untergraben. Das gilt auch für transgender Frauen mit tieferen Stimmen, wenn sie als “Männer” bezeichnet werden. Wenn Chöre sich als “für Männer” oder “für Frauen” beschreiben, kann das möglicherweise nicht nur nicht-binäre SängerInnen total abschrecken, sondern auch solche, die einen Stimmtypus besitzen, der weitgehend vom jeweils anderen Geschlecht erwartet wird. All dies kann vermieden werden, indem man die SängerInnen als Stimmtyp oder -gruppe anredet, z. B. S/A/höhere Stimmen/tiefere Stimmen, usw.. - Konzertkleidung
Richtlinien für Konzertkleidung unterscheiden meist nach binären, gender-geprägten Richtlinien (z. B. schwarze Hosen und Jacken für Männer, schwarze Röcke und Blusen für Frauen). Das kann für viele Transgender-Menschen, die unter Umständen nicht den cis-Gender-Erwartungen entsprechen, Kummer und Entfremdung bringen; zweigleisige Kleidungsrichtlinien, die sich nach Gender richten, schließen die aus, deren Identität nicht binär ist, und die sich weder in Kleidern noch in Hosen wohl fühlen. Eine Lösung besteht darin, dieselbe Wahl zu stellen, aber ohne dabei anzugeben, welche Kombination für Männer und welche für Frauen bestimmt ist. Das gibt den SängerInnen die Freiheit, Kleidung zu wählen, die angemessen und bequem ist, ohne die Vorschriften zu verletzen. - Vorsingen
Das Vorsingen findet heutzutage weitgehend unter der Annahme statt, dass Kandidaten mit einem bestimmten Stimmtypus auch zu einem bestimmten Geschlecht gehören. Das ist möglicherweise ein Hindernis für transgender Menschen, die oft einen Stimmtypus besitzen, den das Prüfungskomitee vielleicht nicht erwartet. Wie C N Lester vorschlägt – Mitglieder des Prüfungskomitees können auch Vorurteile gegen transgender Menschen absorbiert haben, wie sie in der weiteren Gesellschaft gängig sind. Um die Auswirkungen dieser Vorurteile auf ein Mindestmaß zu beschränken, bestünde ein positiver erster Schritt darin, die erste Runde des Vorsingens hinter einem Vorhang abzuhalten (https://www.nationaloperastudio.org.uk/news/taking-to-the-stage-life-as-a-trans-opera-singer). Ich möchte betonen, dass die Umgebung für das Singen von Vorneherein so eingerichtet werden muss, dass transgender Menschen sich willkommen fühlen, nicht erst, nachdem sie ermutigt worden sind, sich zu bewerben. Sonst könnte es darauf hinaus laufen, dass eine gutgemeinte Offenheit in Bezug auf transgender Anwärter sie versehentlich in eine Umwelt einlädt, die trans-feindlich und möglicherweise gefährlich ist, genau die Umwelt, der die Anwärter aus dem Weg gehen wollten.
Für manche mag die Vorstellung extrem erscheinen, das gesamte Singen in der E-Musik total umzukrempeln, nur, um das Leben einer kleinen Minderheit zu verbessern. Wir profitieren aber alle, wenn bedrückende Einschränkungen auf die verwundbarsten Mitglieder unserer Gesellschaft beseitigt werden. Das Resultat ist eine Vielfalt der gelebten Erfahrungen – und das bereichert die musikalischen Darbietungen – und die Empathie wird gefördert. Letzten Endes gewährt dies uns allen die Freiheit zur Selbstdarstellung, ohne an strikte Gender-Normen gebunden zu sein in Bezug auf das, was wir anziehen, wessen Stimmen zu Gehör kommen und wessen Lebenswege anerkannt werden dürfen.
Der vollständige Vortrag ist hier zu finden.
Eine gekürzte Fassung ist hier erhältlich.
Alexander Pullinger war von 2007 bis 2010 Chorstipendiat im New College Oxford, wo er auch der LBGT Obmann war. Er schloss 2014 seinen Master in Gesang am Trinity Laban College London ab, und seitdem wirkt er freiberuflich im Vereinigten Königreich sowie im Ausland. Im Lauf seiner Gesangskarriere fiel Alexander auf, dass seine trans und nicht-binären Kollegen und Zöglinge wesentliche Hindernisse in Bezug auf Zugang zu gemeinsamem Singen, Gesangsunterricht und zum Singen als Beruf zu überwinden hatten. Er hat sich darum bemüht, das Bewusstsein darüber innerhalb von Institutionen zu erhöhen (BBC Sinfonie-Chor, Guildhall School of Music and Drama, Verband der Kathedral-Organisten und andere mehr), und er setzt viel Energie ein für praktische Verbesserung in der Welt des Singens in der E-Musik. Er fungierte als Stimmberater für einen Film über das Singen beim Übergang von einem Geschlecht zum anderen (Down there the Seafolk live, BFI Flare 2020). Kürzlich hielt er einen Vortrag “Wie erleichtern wir die Eingliederung von jungen Transgender-Stimmen durch das Singen?” (September 2021), auf der Basis seines vorangegangenen Forschungsauftrags für Sound Connections. www.alexanderpullinger.co.uk — Instagram: @alex_pullinger
Übersetzt aus dem Englischen von Irene Auerbach, UK