Die Komponistenschmiede

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Alberto Grau, Komponist, Chorleiter, Lehrer, Venezuela

Der Hauptzweck einer Schulungsmethode für Chormusiker ist es, jungen Komponisten dabei zu helfen, neue Wege und Ausdrucksmittel zu finden, um interessante und ansprechende Gruppenwerke zu schaffen, die geeignet sind, die Liebe für musikalische Aktivitäten zu wecken, was lange akademische Studien erspart. Für diesen Artikel habe ich einige Passagen aus meinem Buch La Forja del Compositor (frei übersetzt: Die Komponistenschmiede) ausgewählt, deren Inhalt ich als grundlegend für die Ausbildung von Komponisten halte.
Poesie und Musik 

Poesie und Musik sind mehr als nur verwandte künstlerische Sprachen, eher sind sie ein und dieselbe Sprache. Das Sprechen an sich ist schon eine Form des Singens, denn wenn wir sprechen, erzeugen wir harmonische Klänge, die unser Timbre festlegen, und unsere Sprache, ganz gleich welche, erzeugt immer melodische Linien, wenn wir z.B. große Bewunderung äußern oder eine bewegte Frage stellen. Aber schon das ruhige Erzählen hat Melodie und Rhythmus. Von Augenblick zu Augenblick sind wir Protagonisten unserer eigenen Lebensoper. Jedes Mal, wenn wir das Wort ergreifen, singen wir auch. 

Und was gibt uns die Poesie? Sie vermittelt uns ausdrucksstarke, inhaltsreiche Bilder voller Intelligenz, Empfindsamkeit und Gefühl.

In der Poesie findet der Komponist die Grundlage dessen, was er musikalisch mitteilen möchte, ob es sich nun um Li Taipó, den großen romantischen Dichter der Tang-Dynastie handelt, mit dem uns Gustav Mahler bekannt gemacht hat, oder um Federico García Lorca in der Musik von George Crumb.

Oft genug hat die Musik geholfen, das Werk eines nur noch wenig gelesenen Dichters wiederzuentdecken oder aufzuwerten. Im deutschsprachigen Kulturraum haben uns Franz Schubert ebenso wie Robert Schumann oder Hugo Wolf die Gedichte von Eduard Mörike, Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Rückert in Erinnerung gebracht.

Jeder Musiker wird in der Poesie eine Quelle der Inspiration, der Eingebung und der Anregung finden, um dem Gedicht neuen Ausdruck zu geben und die Musik, die in diesem Gedicht liegt, in eine Partitur zu gießen und zu offerieren.

Text und Rhythmus

Wenn die Musik, wie in der Chormusik üblich, von einem Text begleitet wird, muss der Komponist genau auf die zwischen Text und Rhythmus bestehenden Beziehungen achten.

Häufig kann man festzustellen, dass sich die Energie, die zu klimatischen Punkten führt, aus den Worten speist. Sobald man die Poesie erfasst hat, muss man ergründen, welche Art von Rhythmus dem Text innewohnt. Man muss die den Sätzen innewohnenden Rhythmen erkennen, um die Botschaft im geeigneten Moment auf genaueste Weise vermitteln zu können.

Eine Theorie der Klangideen und ihrer Abfolgen sowie ein rationales Notationssystem müssen sich hauptsächlich auf Phänomene rhythmischer Ordnung stützen. Sprachen oder sprachliche Äußerungen – ob primitiven oder gelehrten Ursprungs – haben immer eine rhythmische Struktur. Es ist ganz sicher und unumstritten, dass es eine Verbindung zwischen dem Sprechen und dem Rhythmus gibt. Das Wort und sein spiritueller Gehalt sind das, was die gesungene Musik prägen sollte.

Die „Rhythmischen Einheiten“ sind unteilbare Gruppen von zwei oder drei Noten, die wir im folgenden “Fuß” nennen wollen. Die Kenntnis dieses Sachverhalts, der sich auf die rhythmische Organisation bezieht, ist Grundlage für die Ausbildung des Komponisten.

Wenn eine Abfolge regelmäßiger Artikulationen unser Bewusstsein erreicht, erfahren sie ihre erste Verarbeitung.

Betrachten wir das folgende Beispiel, in welchem wir eine Gruppe rhythmisch inkohärenter Noten sehen:

Der Verstand beginnt zu ordnen, und dazu bildet er Akzente, die es ihm ermöglichen, die Klangempfindungen zu beherrschen. Die Akzentuierung – alle zwei oder drei Noten – hat eine durchschnittliche Geschwindigkeit von ungefähr 50 “oder 60” Schlägen pro Sekunde, so dass das vorherige Beispiel wie folgt aussehen könnte:

 

Oder auch so:

Durch diese erste mentale Ordnungsmaßnahme bekommen die zusammenhanglosen Töne der Reihe, die zunächst undifferenziert erscheinen, wie von selbst auch eine Hierarchie bezüglich ihrer Intensität. Einige erlangen größeres Gewicht, andere hängen nur locker aneinander. Dabei sind Gewichtigkeit und Lockerheit aufeinander bezogen, denn keine Note kann gewichtig sein, wenn es neben ihr keine anderen gibt, die ihr dieses Gewicht verleihen. Die Verbindung dieser beiden Eigenschaften ist Grundlage jeder musikalischen Wahrnehmung.

Beispiele für Kreationen „Rhythmischer Formeln“, basierend auf folgendem Text:

La paloma (Die Taube)

  • Text: Eduardo Polo (1938-2008)
  • Lied: Alberto Grau (1937)

Aufgabe:

Erstellen Sie mit kleinen Rhythmuswechseln rhythmische Formeln für die folgenden Verse:

La paloma loma vuela Die Taube aube fliegt
con destino tino al mar in Richtung ichtung Meer
veleros leros le buscan Segelboote oote suchen sie
por verla verla pasar. um sie vorbeifliegen fliegen zu sehen.
No descansa cansa en viaje Sie pausiert siert nicht unterwegs
soñando ñando llegar träumt träumt von ihrer Ankunft
un palomo lomo espera eine Taube aube hofft
de copete pete albar. mit weißem eißem Schopf.
Con chaleco leco fino Mit feiner Weste este
vestido tido de frac und Frack rack bekleidet
cubierto bierto de joyas mit Juwelen elen bedeckt
en la iglesia glesia está ist sie in der Kirche irche
contando tanto las horas und zählt die Stunden unden
para para se casar. bis zu ihrer Hochzeit ochzeit.

Diese Rhythmen können auf der Basis der Zellen einzelner Verse oder unter Berücksichtigung der vollständigen Strophen geschaffen werden.

Erste rhythmische Zelle — Zweite rhythmische Zelle

 

Rhythmen und Texte, die bis zum Ende der ersten Strophe fortgeführt werden.

eine andere Möglichkeit ist die Nutzung der Silben oder Wörter, um Sätze oder Kehrreime mit Lautmalerei zu formen, die aus der Poesie abgeleitet wird.

Aufgrund dieser Formel „Rhythmus Text“ können wir eine Melodie mit zwei Noten bilden.

Wir könnten eine eurythmische Formel hinzufügen, um diese Melodie aus zwei Tönen zu begleiten:

Ch. d = mit den Fingern schnippen    M.C.P  = Hände gegen Beine

(Musikbeispiele kopieren S. 38-39-40, Auszüge aus dem Buch La Forja del Compositor Alberto Grau))

Verschiedene Chorarten

Es sei daran erinnert, dass wir uns, wenn wir von guten Chören reden, im allgemeinen auf Personengruppen beziehen, die aus Amateuren, also nicht aus Profis, bestehen, unabhängig davon, ob es sich um gemischte Chöre, Chöre mit gleichen Stimmen, Kinderchöre, Jugendchöre oder berufsgebundene Chöre handelt. Zum Beispiel hat der Chor eines Armenviertels mit geringer Infrastruktur und knappen Ressourcen ebenso viel Verdienst wie eine Chorgruppe, die unter besten Bedingungen aller Art arbeiten kann. Was zählt, ist das gemeinschaftliche und kulturelle Ergebnis, das sie aufgrund der ihnen zur Verfügung stehenden Mittel erzielen. Zu definieren was ein “guter Chor” ist, ist genauso schwierig wie die Beschreibung des Wesens einer anderen Realität in irgendeinem schriftlichen Rahmen. Der zufriedenstellende Zustand eines Chores ist das Ergebnis einer Summe von Elementen, wobei subjektive Wertschätzungen eine Rolle spielen, die aber genauso wenig quantifizierbar sind wie der ästhetische Wert eines musikalischen Kunstwerks. Es sollte nicht vergessen werden, dass, wenn eine gehörige Anzahl positiver subjektiver Bedingungen zur Grundlage genommen wird, das Ergebnis, weil es aus einer größeren Menge an Beobachtungen gewonnen wird, tendenziell immer objektiver wird.

Dies sind einige der Ideen, die ich als Komponist gerne mit meinen Schülern teile und die ich somit aufgrund meiner Erfahrung ermutige, Schöpfer neuer Klangfarben und rhythmischer Kombinationen zu werden, welche junge Sänger ermutigen, mit Freude, Humor und Begeisterung in die wunderbare Welt des Chorgesangs einzutauchen.

 

Als angesehener Komponist und Lehrer hat sich Alberto Grau (Vic, Katalonien, 1937) einen Ehrenplatz unter den besten zeitgenössischen venezolanischen Musikern verdient. Alberto Grau, der wegen seiner Karriere als Chorleiter bekannt ist, hat sich darüber hinaus zu einem der führenden Chorkomponisten Lateinamerikas entwickelt. Viele seiner Werke wurden von Verlagen in den USA und Europa veröffentlicht. Dreimal gewann er den Nationalen Musikpreis “José Angel Montero” (1967, 1983, 1987), und er bekam weitere wichtige internationale Auszeichnungen. 2014 wurde er von der „International Federation for Choral Music“ mit demLife Achievement Choral Award“ ausgezeichnet. 1967 gründete er die Schola Cantorum von Caracas, 1974 gewann den ersten Preis beim  Internationalen Wettbewerb Guido D’Arezzo  in Italien. Mehr als 30 Einspielungen bezeugen seine feinfühlige Musikalität und seine umfangreiche Kenntnis des internationalen Chorrepertoires. Er war Gründungsdirektor des Simón Bolívar Universitätschors und des Ave Fenix Chores;  Mitglied des Verwaltungsrats der Staatlichen Stiftung für Kinder- und Jugendorchester Venezuelas (El Sistema), musikalischer Leiter des Teresa Carreño Theaters in Caracas und Vizepräsident der Internationalen Föderation für Chormusik in Lateinamerika. Außerdem war er Berater und Professor des Sozialen Aktionsprogramms für Musik des CAF.  Über mehr als 35 Jahre war er Professor für Chorleitung am Universitätsinstitut für Musikstudien und der Universität Simón Bolívar sowie Direktor der symphonisch-chorischen Produktionen von EL Sistema. Er wurde zu vielen wichtigen Kongressen und Festivals eingeladen, wie z.B. den Convenciones der ACDA, den World Choir Symposien, und den Europa und America Cantat Festivals. Derzeit ist er ständiger Berater und Komponist in Residence des Small Singers Programms der Schola Cantorum Foundation von Venezuela und erhält kontinuierlich neue Aufträge aus der ganzen Welt. E-Mail: mariaguinand@gmail.com

 

Übersetzt aus dem Spanischen von Reinhard Kißler, Deutschland

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