Gergely Fazekas, Musikologe, Professor der Franz-Liszt-Musikakademie in Budapest
György Ligeti, einer der größten Komponisten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wurde vor 100 Jahren geboren und ist nun Namensgeber einer Budapester Straße. Bei der Straßenumbenennung, in Anwesenheit seiner Witwe und seines Sohnes, hielt sein 97-jähriger Komponistenkollege György Kurtág eine feierliche Rede, es wurden Ligeti-Stücke auf der Drehleier gespielt sowie eine 500-jährige Schildkröte durch Blechbläser porträtiert.
Am 28. Mai 2023 wäre der weltberühmte Komponist György Ligeti 100 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass wurde die nach ihm umbenannte Straße in Budapest von seinem alten Freund, ebenfalls einem weltberühmten ungarischen Komponisten, György Kurtág, mit einer leidenschaftlichen Rede eingeweiht. Nach der Rede zog der an einer Schnur an der Hauswand des Budapest Music Centre (BMC), so dass ein kleiner Vorhang aufging und das Straßenschild mit dem neuen Namen sichtbar wurde. Wenn es einen perfekten Ort für eine Ligeti Straße in Budapest (oder gar auf der Welt) gibt, dann ist er dieser, an dem das BMC steht, das wichtigste Zentrum für zeitgenössische Musik in Ungarn, das im Rahmen eines Festivals um Ligetis Geburtstag sogar eine ganze Woche seiner Kunst widmete.
Anwesend bei der Feier waren neben Ligetis Witwe (Vera Ligeti) und Sohn (Lukas Ligeti) auch einige Künstler:innen aus dem internationalen Staraufgebot des Vorabends, wie die amerikanische Bratschistin Kim Kashkashian, der britische Cellist Steven Isserlis, der isländische Klavierspieler Víkingur Ólafsson sowie viele große Namen der ungarischen Musikszene. Und, natürlich, György Kurtág, der seit Jahren im BMC wohnt, nachdem er 2015 mit seiner inzwischen verstorbenen Frau Márta aus Frankreich zurück nach Ungarn gezogen war.
Bislang hieß die kleine, etwa 150 Meter lange Gasse im Budapester 9. Bezirk Imre utca (dt. Emmerich Straße). An dieser Stelle möchte ich mich bei allen Imres entschuldigen, die sie als ihr Eigentum betrachtet hatten (sollte der Straßenname auf den heiligen Prinzen Emmerich, Sohn des ersten ungarischen Königs aus dem 11. Jahrhundert, zurückgehen, gilt meine Entschuldigung auch ihm), aber als Musikliebhaber bin ich der festen Überzeugung, dass Budapest durch diese Namensänderung zu einem besseren Ort geworden ist. Ähnlich kann es den Liszt-Fans ergangen sein, als der Platz vor der Budapester Musikakademie, der ab 1850 zur Gyár utca (dt. Fabrik Straße) gehört hatte, in Franz-Liszt-Platz (ung. Liszt Ferenc tér) umbenannt wurde. Zudem gibt es in Ungarn viele Straßen, die Imre heißen, aber – bislang – nur eine einzige, die den Namen von György Ligeti trägt.
In seiner Rede ließ Kurtág die Weihnachtszeit 1957 Revue passieren, als er seit einigen Monaten schon in Paris gewohnt hatte, jedoch am Heiligabend von Ligeti eine Stadtführung bekam, der die Straßen in- und auswendig kannte, obwohl er die französische Hauptstadt noch nie zuvor besucht hatte. „Er hatte einen perfekten Orientierungssinn und fand sich überall zurecht“, erinnerte sich Kurtág. „Sowohl auf der Karte als auch in den Partituren. Er hatte eine besondere Affinität zu Straßen. Auch seine Partituren sahen aus wie Karten von Städten mit einem komplexen Straßennetz aus Parallelen, Vertikalen, Horizontalen, Diagonalen und Serpentinen. Er wusste immer, wo es langging und zeigte auch den Weg. Wenn ich ihm nicht folgen konnte, war das mein Fehler, meine Schwachstelle.“
Kurtág rief auch in Erinnerung, wie sich Ligeti auf das Testament von Béla Bartók bezogen hatte, in dem stand, in Ungarn dürfe kein Platz oder keine Straße seinen Namen tragen, solange es öffentliche Räume gebe, die Hitler oder Mussolini heißen. „Es war sein Wunsch, nichts nach ihm zu benennen, und wenn es doch dazu käme, sollte der Name György-Ligeti-Irrweg [ung. Ligeti György tévút] gegeben werden“, erklärte Kurtág. Da aber die ungarische Verwaltung keine Irrwege kennt (zumindest was die Namensgebung von Straßen anbelangt), konnte Ligetis Wunsch nur durch ein Sonderschild mit dem Zusatz „Irrweg“ an der Hauswand des BMC erfüllt werden. „Ich bin heilfroh, dass ich die mir verbleibende Zeit in einem Gebäude in der Ligeti Straße verbringen kann“, beendete Kurtág seine Rede.
Bei der Einweihung trug der französische Drehorgelspieler Pierre Charial, der an mehreren Werken mit Ligeti zusammengearbeitet hatte, Stücke aus dem Klavierzyklus Musica Ricercata auf seinem spektakulären Instrument vor. Ligeti hatte mit einer kindlichen Begeisterung für Musikmaschinen und Klangautomaten Charials Drehorgel sehr bewundert, so dass für seine gesammelten Werke auch Drehorgelaufnahmen gemacht wurden. Ich bin mir sicher, dass es ihn freuen würde zu wissen, auf dem nach ihm benannten Irrweg ertönte als Erstes dieses wunderbare Instrument.
Als Abschluss der Feier spielten die Blechbläser des Modern Art Orchestra das kurze Ligeti-Stück Große Schildkrötenfanfare über das Südchinesische Meer, im Arrangement von Kornél Fekete-Kovács, dem künstlerischen Leiter des Ensembles. Aus dem kurzen Satz entstand 1985 ein selbständiges Solostück für Trompete, ursprünglich war er aber 1949 für eine Puppentheateraufführung komponiert worden, über die die Tageszeitung Népszava am 9. Oktober 1949 berichtete, in ihr würden das heroische chinesische Mädchen Frühlingsblume, der tapfere Hirtenjunge Treuherz, eine 500 Jahre alte Schildkröte, ein weiser Drache sowie Maurer, arme Bettler, Hofschmeichler und der chinesische Kaiser vorkommen. „Hilf anderen, so hilfst du dir selbst“, lehre der weise Drache, dessen enigmatische Worte das unterdrückte chinesische Volk dann verstehe, sich anschließend zusammentue und den Kaiser vertreibe, und als der Morgenstern am Himmel erscheine, erschalle das Lied der Freiheit von den Lippen der befreiten Menge. Obwohl die Musik von György Ligeti sehr abstrakt scheinen mag, war er politisch sehr engagiert – was man auch am Beispiel dieses kurzen Stückes sieht, das eine wichtige Botschaft aus der Vergangenheit vermittelt. Eine Botschaft, die heute wichtiger ist denn je.
Gergely Fazekas (PhD) ist ein ungarischer Musikwissenschaftler. Er studierte Literatur und Philosophie an der Eötvös Loránd Universität und Musikwissenschaft an der Liszt Academy, an der er als außerordentlicher Professor Barockmusik und zeitgenössische Musik lehrt. Zwischen 2012 und 2017 war er Cheflektor des 1850 gegründeten Verlagshauses Rózsavölgyi & Co. Er sammelte und übersetzte alle Schriften und Interviews Debussys ins Ungarische (veröffentlicht 2017), und sein Buch über Bach und die Musikalische Form erschien 2018. Im akademischen Jahr 2017–18 lehrte er als Fulbright Gastprofessor Musikgeschichte am Bard College, NY, USA. Seine Rezension von György Kurtágs Oper Fin de partie wurde vom Verband der ungarischen Chefredakteure im Dezember 2018 zum “Besten Artikel des Monats” erklärt. Er ist musikalischer Berater für die Dokumentation über György Kurtág, deren Premiere für den Herbst 2014 vorgesehen ist.
Übersetzt aus dem Englischen von Katalin Veress, Ungarn