Heterophonie als vokale Musizierübung: Erweiterter Klang vor Notation

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Raymond Reimer Uy Jr.; Chorleiter und Sänger

Musiklehrer überlegen, wie alle Pädagogen, wie sie ihre Studenten auf die Anwendbarkeit des Unterrichtsstoffes auch außerhalb des Klassenzimmers vorbereiten können. Ein geltendes Ziel ist zum Beispiel Notenlesen und -schreiben, auch wenn diese Fertigkeit an sich noch keine umfassende Musikerziehung darstellt; in Wirklichkeit sind sogar manche diesbezüglichen Lehrmethoden alles andere als musikalisch. Musikalisches Können und Denken müssen deshalb auch betont werden. Die durch musikalische Aufführungstraditionen erworbenen Fähigkeiten können diesem Können Nahrung geben. Mehr noch, orale Traditionen gewähren Musikern oft eine Flexibilität, die sie dazu befähigt, Musik nicht nur wiederzugeben, sondern zu erfinden, zu erneuern und neue, individuelle musikalische Gedanken und Variationen hinzuzufügen. Ein Weg, diese Flexibilität und Kreativität in einem choralen Umfeld einzubringen, besteht darin, Heterophonie einzuführen und die Annäherung über Klang vor Notation zu nutzen.

Was ist Heterophonie, und wozu brauchen wir sie?

Heterophonie, auch polyphone Schichtung genannt, beinhaltet Variationen einer einzigen Melodie durch mehrere Ausführende zur gleichen Zeit. Ein Chor, in dem die einzelnen Sänger gleichzeitig eine Melodie auf verschiedene Weise singen, erzeugt eine heterophone Textur.

In der Musik von Bach bis Boulez sind geplante heterphone Texturen zu entdecken; spontane Heterophonie ist allerdings häufiger bei nicht-westlichen Musikensembles zu finden. Um eine aktuellere Referenz anzugeben: Ray Charles gibt uns eine klare Demonstration von heterophonen Entscheidungen in der Linie für das Schluss-fadeout bei „We are the world“. 

Die Varianz von Klang und musikalischen Gedanken sind ein wesentlicher Bestandteil der spontanen Heterophonie. Ein oberflächlicher Betrachter einer heterophonen Chorprobe könnte individuelle musikalische Unterschiede mit musikalischen Fehlern verwechseln. Aber im Gegenteil,  diese heterophonen Variationen zwischen den Sängern werden erwartet und ermutigt.

Heterophonie ist insbesondere passend bei der Arbeit mit moderner Musik. Tatsächlich sollten Chorleiter, die Popsongs nur in einer einheitlichen und präzisen Weise einüben, überlegen, ob ihre Interpretation mit dem Musikstil, den sie lehren, übereinstimmt.

Die Fertigkeiten, die für heterophone Musik von Nöten sind, sind gut in die moderne Musik zu übersetzen. In der Popmusik sind vokale Verzierungen und Ausschmückungen (meist Runs und Riffs genannt) vorgesehen, aber selten exakt reproduziert von einer Aufführung bis zur nächsten. Für Sänger sind die aktuellen Melodien nur ein Gerüst, das sie mit ihrer eigenen Interpretation ausstaffieren. Studenten, die an aktueller Musik interessiert sind, können daher viele wertvolle und wichtige stimmliche Werkzeuge in einem heterophonen choralen Milieu entwickeln.

Spontane Heterophonie im Unterricht: Klang vor Notation

Den Schlüssel, um spontane Heterophonie zu unterrichten, können Chorleiter in nicht-westlichen Musikkulturen finden. In der ganzen Welt gibt es reichlich Beispiele von Improvisation und oraler Komposition, unter anderem Kaluli spontane Kompositionen, Koreanische Sanjo, Fulani Praise-songs und Arabische Nawbaor Wasla (Blum 2001). Musikerzieher, die ausschließlich in der westlichen Musiktradition groß geworden sind, übersehen vielleicht diesen Ansatz, aber sie können nicht die historische Bedeutung und den Einfluss der weitverbreiteten oralen Traditionen igniorieren. Etwas näher am Bekannten sind die reichlich vorhandenen Beispiele für improvisierende Genres aus dem 20. Jahrhundert, wie z. B. die Bluesmusik mit ihren Vorläufern und Derivaten. In jedem dieser Beispiele sind auditive Fertigkeiten essentiell. Darüber hinaus sind laut Green (2002) das Hören und Nachahmen  der erste Weg, wie Studenten populäre Musik lernen, die Notation kommt erst danach (S. 69).

Musik ist in erster Linie eine auditive Erfahrung, keine visuelle. Auf dieser fundamentalen musikalischen Wahrheit gründeten sich Philosophien zur Musikerziehung lange vor der Formalisierung der amerikanischen Musikerziehung im 19. Jahrhundert. Im 18. Jahrhundert glaubte z. B. schon Rousseau, dass sensorische Erfahrungen (Klang) im Gegensatz zu ihren Repräsentanten (Notation) den Lernenden prägen (Benedict 2010). Wie Pestalozzis (1801) Abfolge von Sprechen vor Lesen (S. 84) beeinflusste die Herangehensweise „Klang vor Notation“ auch Masons (1834) bahnbrechendes Handbuch zur Musikerziehung.

 Um nach dieser Philosophie heterophones musikalisches Können zu erwerben, sollten Chorleiter die Sänger mit unzähligen Hörbeispielen von verschiedenen melodischen Interpretationen versorgen, um ein großes musikalisches Vokabular aufzubauen. Diese Herangehensweise imitiert die orale Tradition der nicht-westlichen Musikkulturen.

Im Gegenzug dazu begrenzt Notation, so sie vor der Aufführung gedruckt ist, künstlich die musikalischen Möglichkeiten. Auch wenn Notation ein nützliches Werkzeug bleibt, insbesondere für Komponisten, die ihre Musik an Aufführende weitergeben möchten, sollte sie nie zu einer  Krücke werden, die die Kreativität der aufführenden Musiker behindert. 

Wie man anfängt: eine Skizze

Auf dem Weg zu einer heterophonen Annäherung an ein neues Stück teilt der Chorleiter keine Noten aus. Stattdessen benutzt er ein Multi-Modell für den auditiven Ansatz. In der ersten Probe hören die Teilnehmer wenigstens drei verschiedene Versionen des selben Songs. Diese Versionen beinhalten das Original und Cover anderer Künstler, ebenso Studio- und Live-Aufnahmen. Während des Hörens schreiben die Studierenden Notizen zu den Stärken und Schwächen jeder Version. Es gibt kein Richtig oder Falsch bei dieser ersten Aktion; das Ziel ist einfach, die Teilnehmer zum intensiven Hören und Nachdenken über Musik zu bringen. Der Chorleiter ermöglicht anschließend den Studenten eine Diskussion über jedes Modell. Am Ende wird eine Demonstrations-Performance als weiteres Modell angeboten. Die Studenten singen dann schon mit, und die hieraus erwachsende Heterophonie ergibt eine organische Textur zur Musik.

 In der folgenden Probe beginnt der Chorleiter mit einer anderen Performance-Demonstration, diesmal mit anderen melodischen Entscheidungen. Die Studenten, die mitsingen, unterbrechen und zögern, wenn sie eine neue Entscheidung gewahr werden, um die Veränderung zu untersuchen und festzustellen, ob sie eine Wahl oder einen Fehler gehört haben. Der Leiter bestätigt diese neue Entscheidung nicht, um eine Kultur heranzuziehen, in der musikalische Entscheidungen ohne Wertungen entgegengenommen werden. Während des ganzen Probenprozesses fährt der Chorleiter damit fort, mit der Melodie zu spielen und zu experimentieren, und die Studenten wissen nicht, dass sie auf die Heterophonie hinarbeiten. Das Label ist einfach nicht eingeführt. In der frühen Phase ahmen die Studenten einfach die musikalischen Entscheidungen nach, die sie vorher gehört haben. Aber nach einer Zeit werden sie immer mutiger und unabhängiger, wenn das Vertrauen in das eigene melodische Vokabular wächst. Wenn in späteren Phasen neue oder überraschende musikalische Entscheidungen von den Studenten ausgehen, werden sie mit einem befriedigten und wissenden Lächeln quittiert.

 

Schulung der Kreativität über die Reproduktion hinaus

Wie oft bitten wir junge Schreiber, nicht nur zu zitieren, sondern die Gedanken weiter zu verfolgen und in ihre eigenen Worte zu fassen. Warum sollten wir dasselbe nicht mit Musik tun? Musikerzieher können ein melodisches Grundgerüst bereitstellen, aus dem dann die Schüler mehr erschaffen können als es nur zu wiederholen. Die Ermutigung und Kultivierung der heterophonen Kreativität hat weitere Bedeutung, die über die Chor- und Popmusik hinausgeht. Gemäß den erforderlichen Fertigkeiten für das 21. Jahrhundert „erfordern die Probleme der heutigen Zeit das volle Ausmaß an kreativen Fähigkeiten“ (S. 14). Heterophonie benötigt Kreativität, Innovation, Zusammenarbeit (eine auf Zusammenarbeit eingestellte Eigenständigkeit) und spontane Entschlusskraft in einem sich schnell ändernden Umfeld. Wenn uns diese Fähigkeiten bekannt erscheinen, dann, weil sie lebensnotwendig sind, mehr denn je zuvor. Heterophones musikalisches Denken ist das essentielle Denken des 21. Jahrhunderts, und Chorleiter können dazu beitragen, bei den jungen Sängern eine Einstellung zu entwickeln, die sie auf unsere dynamische Welt vorbereitet.

Raymond Reimer Uy Jr. ist Chorleiter in Hanover Township, NJ.  Er ist eingetragen im Who’s Who unter Amerikas Top-Lehrern und war 2017 im Viertelfinale für den Grammy Music Educator Award. Als angesehener Operntenor hat er große internationale Aufführungserfahrung. Darüber hinaus hat er in vielen Projekten mitgewirkt, darunter Auftritte mit den Chören von Westminster und Orchestern wie dem New York Orchestra, Philadelphia Orchestra und New Jersey Orchestra. Raymond Uy ist zur Zeit Doktorand an der Universität Boston und hat einen Masterabschluss in Musik an der Eastman School of Music sowie einen Bachelorabschluss mit Summa cum laude am Westminster Choir College. E-Mail: raymonduy@gmail.com 

Literatur

  • Benedict, C. (2010). Curriculum. In H. F. Abeles & L. A. Custodero (Eds.), Critical issues in music education: Contemporary theory and practice (pp. 143-166). New York, NY: Oxford University Press.
  • Blum, S. (2001). Composition, In Grove Music Online. Oxford Music Online, Retrieved January 22, 2016, from http://www.oxfordmusiconline.com.ezproxy.bu.edu/subscriber/article/grove/music/06216
  • Green, L. (2002). How popular musicians learn: A way ahead for music education. Burlington, VT: Ashgate Publishing.
  • Mason, L. (1834). Manual of the Boston Academy of Music for instruction in the elements of vocal music, on the system of Pestalozzi. Boston, MA: Carter, Hendee, & Co. Partnership for 21st Century Skills. (2007). The intellectual and policy foundations of the 21st century skills framework. Retrieved from http://www.21stcenturyskills.org/route21/images/stories/epapers/skills_foundations_final.pdf
  • Pestalozzi, J. H. (1801). How Gertrude teaches her children (L. E. Holland & F. C. Turner, Trans.). London: Swann Sonnenschein & Co.

 

Übersetzt aus dem Englischen von Heide Bertram, Deutschland

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