Unregelmäßige Metren in der südosteuropäischen Volksmusik

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Unregelmäßige Metren in der südosteuropäischen Volksmusik

Von Theodora Pavlovitch, Chorleiterin und Professorin

Südosteuropa ist eine ganz besondere Region des Alten Kontinents. Mit der Lage am Schnittpunkt zwischen Europa und Asien ist es eine Wiege von Kulturen und war immer eine der farbigsten Regionen der Welt. Der multikulturelle Austausch zwischen den ethnischen Gruppen, Nationen und Ländern ist in diesem Gebiet vom Altertum bis heute ein ständiger Prozess, und besonders auf dem Gebiet der Musik kann man viele gleiche oder ähnliche Phänomene finden.

Eines der besten Beispiele für die Mischung und den gegenseitigen Einfluss musikalischer Traditionen war die Musik von John Koukouzel, auch bekannt als Joahnis Koukouzeles (1280 – 1360?) – der berühmteste mittelalterliche Komponist, Reformer und Sänger der Region. Geboren von einer bulgarischen Mutter und einem unbekannten Vater (wahrscheinlich Albaner) in Durras (Durazzo) im Oströmischen Reich, heute auf dem Gebiet von Albanien, wurde er in Konstantinopel in den besten Traditionen der byzantinischen Musik erzogen– es ist wirklich unmöglich, seine Nationalität und seinen Hintergrund zu definieren. Wegen seiner Mutter bestehen die Bulgaren darauf, dass er Bulgare war, weil in Albanien geboren war, bestehen die Albaner darauf, dass er Albaner war, und die Griechen bestehen darauf, dass er Grieche war, weil er in Konstantinopel aufwuchs und ausgebildet wurde … eine endlose Diskussion!

Ein Dokumentarfilm mit dem Titel “Whose is that song?” [Wem gehört jenes Lied?] von Adela Peeva (2003) ist ein anderes Beispiel für starke musikalische Einflüsse in der Region. Sie begann die Geschichte mit ihren Worten: “Ich war mit Freunden aus Balkanländern in Istanbul – ein Grieche, ein Mazedonier, ein Türke, ein Serbe und ich – eine Bulgarin. Dort hörte ich das Lied, dessen Geschichte ich in diesem Dokumentarfilm erzähle. Sofort, nachdem wir das Lied gehört hatten, fing jeder von uns an, es in der eigenen Sprache zu singen. Und jeder bestand darauf, dass es ein Lied aus seinem Land war. Und so begann die Diskussion – wem gehört dieses Lied?”. Später nahm sie mit ihrer Kamera Interviews in allen Ländern der Region auf, und jede interviewte Person war sich sicher, dass das Lied zu seiner/ihrer Nation gehörte. Mit unterschiedlichen Texten, unterschiedlichem Inhalt und Bedeutung, aber mit der gleichen Melodie – dieses Lied existierte überall! Dieser Dokumentarfilm gewann bei internationalen Festivals in verschiedenen europäischen Ländern, in den USA und Asien ein Dutzend Preise.

Beim Betrachten der Traditionen der Volksmusik werden wir der gleichen Situation in Hinblick auf die Melodien, die Verzierungen und vor allem die Rhythmen und Metren begegnen.  Die Encyclopaedia Britannica erklärt Metren: “Metre, auch Meter geschrieben, in der Music, rhythmisches Muster, gebildet aus der Gruppierung von grundlegenden zeitlichen Einheiten, genannt Schläge, in regelmäßige Maßeinheiten oder Takte; in westlicher Notation ist jede Einheit von den benachbarten durch Taktstriche getrennt. Eine Taktangabe (oder Metrum) am Anfang eines Musikstückes zeigt die Zahl der Schläge in einem Takt an und den Wert des grundlegenden Schlages. Zum Beispiel hat der 3/4-Takt drei Viertelnoten pro Takt. Die Taktangabe impliziert, dass auf dem ersten Schlag eines Taktes regelmäßig ein Akzent stattfindet. Einfache Metren sind zweifach (z.B. 2/2, 2/4), dreifach (3/4, 3/8) oder vierfach (4/4, 4/8). Zusammengesetzte Metren sind auch zweifach (6/8, 6/16), dreifach (9/8) oder vierfach (12/8), haben aber Taktangaben die anzeigen, dass die Anzahl der Schläge ein Mehrfaches von drei sind. So sind also z.B. im 6/8 beide Schläge der grundlegenden Zweifachteilung in drei Untereinheiten teilbar, was sechs ergibt. Einige seltenere Metren sind oft weder zweifach noch dreifach (5/4, 7/4) können aber als Kombination von zweifachen und dreifachen Metren angesehen werden — so wie 2/4+3/4 oder 3/4+2/4+2/4.” (https://www.britannica.com/art/metre-music)

Wir können Definitionen über unregelmäßige Metren in verschiedenen Quellen finden. “Unregelmäßige Metren (auch asymmetrische Metren genannt) schaffen ein regelmäßiges Muster aus einer asymmetrischen Sequenz von Zweifach- oder Mehrfachtaktangaben. Eine 5/8-Angabe wird zum Beispiel zumeist verstanden als die Summe zweier einfacher Metren 3/8 + 2/8 oder 2/8 + 3/8. Die Betonungshierarchie ist in unregelmäßigen Metren, genauso wie in regelmäßigen Metren, entweder einfach (Teilung in zwei gleiche Teile) oder zusammengesetzt (Teilung in drei gleiche Teile). Die Taktangabe 15/16 jedoch entspricht dem zusammengesetzten Metrum 5/8. Zusammengesetzte Metren schließen nur solche Taktangaben ein, deren Numerus ein Vielfaches von drei ist.

Asymmetrische Metren treten auf der ganzen Welt häufig in verschiedenen Volksmusiktraditionen auf, sie werden oft als stilistische Eigenart balkanischer Musik aus Südosteuropa angesehen. In der klassischen Musik wurden asymmetrische Metren vor dem 20. Jahrhundert sporadisch verwendet. Es wird häufig auf den zweiten Satz von Tschaikowskis Sechster Sinfonie (1891-93) hingewiesen als eines der ersten Beispiele eines ausschließlich in einem asymmetrischen Metrum (5/4) geschriebenen Werks. Unregelmäßige Metren können auf unterschiedliche Weise dargestellt werden. Der ungarische Komponist Béla Bartók (1841-1945) schrieb zum Beispiel Sechs Tänze im Bulgarischen Rhythmus unter Verwendung von Taktangaben, welche die entsprechenden Ergänzungen angaben, wie 4+2+3/8, 2+2+3/8, 3+2+3/8 (auch ein ungleichmäßig geordnetes 4/4 genannt), 2+2+2+3/8”. (http://www.thesoundstew.com/2010/04/irregular-meters-irregular-meters.html)

In der wissenschaftlichen Literatur findet man die Bezeichnungen: Taktangaben unregelmäßiger Metren oder additiver Rhythmus, geteilte Rhythmen, ungleichmäßige Schläge, asymmetrische Takte, unregelmäßige Zeiten –  sie alle betreffen das gleiche Phänomen.

Die in Südosteuropa verbreiteten unregelmäßigen Rhythmen sind:

5/8 und 5/16:             in Bulgarien, Rumänien, Serbien

7/8 und 7/16:              in Bulgarien, Mazedonien, Griechenland;

8/8 und 8/16:              in Bulgarien, Kroatien;

9/8 und 9/16:              in Bulgarien, Serbien;

10/8 und 10/16:         in Bulgarien;

11/8 und 11/16:          in Bulgarien, Serbien und Mazedonien;

12/8 und 12/16:         in Bulgarien;

13/8 und 13/16:          in Bulgarien;

15/8 und 15/16:          in Bulgarien;

17/8 und 17/16:         in Bulgarien.

           

Alle diese Metren existieren in verschiedenen Kombinationen der metrischen Gruppen, und sie sind in der Regel mit entsprechenden Tänzen verbunden. Deswegen wurden die meisten Metren nach den Tänzen mit Namen “horo” in Bulgarien, “kolo” in Serbien und Kroatien, “χορός”, (horos) in Griechenland, “oro” in Mazedonien benannt – Gemeinschaftstänzen, die tief verwurzelt sind in den für die Region spezifischen Metren.

For instance, the meters 7/8 and 7/16 exist in several combinations of metric groups as follows:

Die Metren 7/8 und 7/16 zum Beispiel existieren in mehreren Kombinationen metrischer Gruppen:

2+2+3:  genannt Rachenitsa , eines der populärsten bulgarischen Metren und Tänzen;

3+2+2: meist in mazedonischen Regionen in Griechenland, Nordmazedonien und Bulgarien (deutlicher Einfluss zwischen den Traditionen der ethnischen Gruppen, die aufgrund vieler historischer Ereignisse über verschiedene Länder verteilt waren).

2+3+2: selten in Bulgarien.

Viele andere Beispiele für unterschiedliche Kombinationen können wie folgt gezeigt werden:

5/8     (2+3) oder (3+2)

8/8     (3+2+3) oder (2+3+3)

9/8      (2+2+2+3), (2+2+3+2),(2+3+2+2), (3+2+2+2)

10/8   (3+2+2+3),(2+2+3+3)

11/8   (2+2+3+2+2), (2+2+2+2+3) , (3+2+2+2+2) – genannt Kopanitsa.

12/8   (3+2+2+2+3), (3+2+2+3+2), (2+3+2+2+3) – genannt Petrunino horo.

13/8   (2+2+2+2+2+3)

14/8   (2+3+2+2+3), (2+2+3+2+3)

15/8   (2+2+2+2+3+2+2), (2+2+2+2+2+2+3) (15/16 wird buchimish genannt und existiert in der thrakischen Region von Südbulgarien) – https://www.youtube.com/watch?v=xeGgdjY5oXI
)

Heterometrisch:

17/8 (2+2+2+2+2+2+2+3) oder  17/16  ( Pferdegalopp- horo)

18/8 (3+2+2+2+2+3+2+2) oder  18/16  (Yovino horo)

22/8 (2+2+2+3+2+2+2+3+2+2)  oder  22/16  (Sandansko horo)

25/16 (3+2+2+3+2+2+2+2+3+2+2)   kann auch als 7+7+11/16  gezählt werden (Sitting

                                                                                                            Donka horo)

Diese Vielfalt und der Reichtum an unregelmäßigen Metren ist mit das wertvollste kulturelle Erbe der südosteuropäischen Länder. Niemand kann sagen, wann genau alle diese Lieder und Tänze geschaffen wurden. Am Ende des 14. Jahrhunderts attackierten die türkischen Armeen Südosteuropa, und bald stand es vollständig unter ottomanischer Herrschaft. In den anschließenden fast 500 Jahren wurden die nationalen Kulturen schwer beschädigt. Einer der wichtigsten Faktoren bei der Bewahrung des Nationalgeistes während der Zeit der Besetzung war die Musik– reiche Volksmusiktraditionen und die alten orthodoxen Gesänge, die in Klöstern gesungen wurden. Leider wurde das meiste des dort verborgenen reichen kulturellen Erbes durch häufige Raubzüge und Brände zerstört. Aber der Austausch zwischen orthodoxen Gesängen und Volksliedern war wegen der besonderen historischen Verhältnisse sehr intensiv, und eine große Zahl an anonymen orthodoxen Gesängen mit Volksliedelementen können noch heute in der Liturgie gefunden werden.

Bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde alle diese Musik anonym von unbekannten talentierten Menschen ohne jegliche Musikausbildung komponiert. Etwa um die Mitte des 19. Jahrhunderts begannen einige Leute, in verschiedene Länder zu gehen um Musik zu studieren, und das war der Anfang des professionellen Musiklebens in den Ländern der Region. Dutzende Menschen aus Bulgarien, Serbien, Griechenland usw. gingen nach Mailand, München, Prag, Moskau, St. Petersburg oder an die nationale Musikuniversität in Bukarest (gegründet 1863), um eine hochrangige Musikausbildung zu erhalten.

Die ersten Generationen von Komponisten in den südosteuropäischen Ländern erhielten und entwickelten die Musiktraditionen, indem sie viele unregelmäßige Metren in ihren Arbeiten verwendeten, während sie parallel dazu neue Kompositionen im europäischen Stil schufen. Sie wurden die ersten professionellen Komponisten und Dirigenten in der Region und begannen, die nationalen Kompositionsstile in ihren eigenen Ländern zu entwickeln. Neue Kompositionen oder Arrangements existierender Volkslieder waren ein Trend ihrer Kreativität, und die meisten ihrer Werke werden bis heute sehr oft aufgeführt.

Unregelmäßige Metren und andere Elemente der Volksmusik wurden auch von den nächsten Generationen von Komponisten intensiv verwendet; sie entwickelten ein höheres Niveau der Chormusik und setzten sie sogar in ihren sinfonischen Werken ein. Diese Tendenz besteht bis heute und beweist die Kraft der kreativen Energie, die in Volkstraditionen und unregelmäßigen Rhythmen bewahrt ist – eines der spektakulärsten und lebendigsten Phänomene der Musik der Welt.

Theodora Pavlovitch ist Professorin für Chorleitung und Leiterin der Dirigierabteilung an der Bulgarian National Academy of Music. Sie ist auch Leiterin des Vassil Arnaoudov Sofia Chamber Choir und des Classic FM Radio Choir (Bulgarien). 2007/2008 leitete sie den World Youth Choir und wurde von der UNESCO in Anerkennung des Erfolgs des WYC als Plattform für internationalen Dialog durch Musik mit dem Titel Artist for Peace ausgezeichnet. Prof. Theodora Pavlovitch wird häufig als Jurymitglied zu prestigeträchtigen internationalen Chorwettbewerben eingeladen sowie als Chorleiterin und Referentin zu internationalen Veranstaltungen in 25 europäischen Ländern, den USA, Japan, Russland, China, Hong Kong, Taiwan, Südkorea und Israel. Seit 2012 vertritt T. Pavlovitch Bulgarien im Weltchorrat. Email: theodora@techno-link.com

Übersetzt aus dem Englischen von Lore Auerbach, Deutschland

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