Die Abteilung für Chorleitung an der lettischen Jāzeps Vītols Hochschule für Musik (JVLMA) blickt auf eine Tradition des Chorsingens und der Chorleitung zurück, die mehr als ein Jahrhundert zurück reicht. Im Rahmen dieser Tradition veranstaltet sie vom 22.-26. October 2019 in Riga den 6. Internationalen Jāzeps Vītols Chorleiter-Wettbewerb.
Diese Veranstaltung findet regelmäßig in Lettland statt: jeweils fünf Tage lang finden sich junge Dirigenten aus der ganzen Welt zusammen, um sich vor einer Jury, die aus bekannten internationalen Experten besteht, in der Arbeit mit Berufschören miteinander zu messen. Das besonders hohe künstlerische Niveau wird durch die Zusammenarbeit mit drei hervorragenden Chören garantiert – den Staatschor Latvija, den Chor des lettischen Rundfunks und den Rigaer Kammerchor Ave Sol. Ebenfalls beteiligt sind der gemischte Chor und das Sinfonieorchester der JVLMA .
Unter den Preisträgern bei Wettbewerben aus vergangenen Jahren finden sich viele international bekannte Künstler unserer Tage, darunter Mārtiņš Ozoliņš (Lettland), Modestas Pitrenas (Litauen), Stefan Vanselow (Deutschland), Alexander Humala (Weißrussland), Ainars Rubiķis (Lettland), Dmitry Matvienko (Weißrussland/Russland), und Martynas Stakionis (Litauen).
In Fortsetzung der Tradition des Chorleiter-Wettbewerbs der baltischen Staaten, die auf die 1970er Jahre zurückgeht, und zur 75-Jahr-Feier der Abteilung für Chorleitung an der JVLMA, bestätigt der 6. Internationale Jāzeps Vītols Chorleiter-Wettbewerb das hohe Niveau der Chorkultur in Lettland sowie die weltweit bekannten Leistungen von Chorleitern aus unserem Land. Mit diesem Wettbewerb feiern wir darüber hinaus den 100. Jahrestag der Gründung der lettischen Jāzeps Vītols Hochschule für Musik.
Awarding ceremony of 5th International Jāzeps Vītols Choral Conductors Competition – two 1st prize winners Martynas Stakionis (on the left), Head of Jury Stojan Kuret and Dmitry Matvienko – © Eduards Kapša
Jāzeps Vītols
Jāzeps Vītols (1863-1949) gilt als Urvater der Musik in Lettland. Die Kraft seiner Persönlichkeit grenzt ans Legendäre: mehr als ein halbes Jahrhundert war er die Leitfigur der lettischen Musik, Komponist, Lehrer, Kritiker, eine Gestalt des öffentlichen Lebens von unangefochtener Autorität. Während seiner mehr als 30 Jahre am Konservatorium von St. Petersburg hegte er den Traum einer akademischen Institution für Musikerziehung in Lettland. Dieser Traum wurde schließlich wahr: nachdem die Republik Lettland 1918 ausgerufen worden war, wurde 1919 das lettische Konservatorium (heute Jāzeps Vītols Hochschule für Musik) gegründet, und sie dient bis an den heutigen Tag den Zwecken und Grundsätzen, die ihr Gründer ihr mitgegeben hat.
Leben und Schöpfungskraft von Jāzeps Vītols wurden viel stärker von weltweiten Entwicklungen in der Musik beeinflusst als die Karrieren seiner Zeitgenossen. Sein Weg kreuzte sich mit dem prominenter Musiker wie Nikolai Rimsky-Korsakov, Alexander Glazunov, Anatoly Lyadov, Igor Stravinsky, Sergei Prokofiev, Vincent d’Indy, Karol Szimanovsky und Erkki Melartin, weil er Mitglied vieler internationaler Organisationen war und an zahlreichen Konferenzen und Treffen teilnahm.
Der Kern von Jāzeps Vītols Persönlichkeit beruhte in seiner Schöpfungskraft. Seine Musik ist klar, hat Tiefgang und ist menschlich; der Komponist strebte nach Harmonie, und durch seine musikalischen Texturen hindurch leuchtet das Urteil einer vielseitigen und gerundeten Persönlichkeit in Bezug auf den Menschen und die Welt.
Jāzeps Vītols und das Chorlied
Es gibt zwei Arbeitsbereiche, die Jāzeps Vītols, Gründer und erster Rektor (1919-1944) des lettischen Konservatoriums, mit dem Chorlied verbinden. Im einen zeigt sich der Professor als Komponist und Schöpfer von Chorliedern, im anderen als Dirigent, Veranstalter und Interpret seiner Werke. Es mag sein, dass die Waagschale auf der Seite der Komposition wesentlich schwerer wiegt, wesentlich bedeutender, mit über hundert frei komponierten Chorliedern, etwa hundert Volksliedbearbeitungen sowie Kantaten und anderen vokalen und instrumentalen Stücken sowie Chorälen und weiteren Bearbeitungenen für Chor. Darüber hinaus finden wir unter den frei komponierten Stücken eine Reihe von Liedern, ohne die das heutige reiche Erbe der klassischen lettischen Chorlieder unvorstellbar wäre.
Wenn wir aber die historischen Belege etwas genauer untersuchen, dann wird uns klar, dass – ohne die praktische Erfahrung als Chorleiter – das Gewicht der anderen Waagschale niemals so reich und so wertvoll geworden wäre, denn Vītols hatte während seiner gesamten Zeit in St. Petersburg, wo er als Professor am Konservatorium wirkte, sozusagen “von innen” gelernt, wie ein Chor funktioniert.
Das Chorlied im weitesten Sinn des Wortes begleitete Vītols durch sein gesamtes schöpferisches Leben: die ersten zwei entstanden als Aufgabe im Kompositionsunterricht bei Nikolai Rimsky-Korsakov, während das letzte dem Männerchor “Goldschmied” unter Roberts Zuika gewidmet war und dem Dirigenten am letzten Lebenstag des Professors überreicht wurde. Wir dürfen nie übersehen, dass selbst die ersten, frühen Stücke “Birke im Moor” und “Gebet” schon viele der Kennzeichen enthalten, an denen wir den Stil von Vītols auf dem Höhepunkt seiner lebens-harmonischen Reinheit, dem Reichtum der Klangfarben, der so außerordentlichen Beweglichkeit der Stimmführung zusammen mit einer lebhaften Entwicklung der Konstruktion eines jeden Liedes erkennen. Diese Eigenschaften sind in all unseren Lieblingsliedern zu finden, wenn es auch Unterschiede gibt, je nachdem, ob es sich um Balladen (“Der Dichter von Beverīna”, “Die drei heiligen Eichen”, “Das Lichtschloss”, usw.), dramatische Stücke (“Die Tochter des Königs”, “Dies irae”, usw.), romantische (“Der Tag bricht an”, “Das Fest der Sonne”, “Der See im Wald” usw.) oder nationale handelt (“Herbst”, “Ich habe in Riga ein graues Pferd gekauft”, usw.). Aus ihnen besteht das “goldene Repertoire” unserer Chöre, denn was den musikalischen Ausdruck angeht, so sind sie verhältnismäßig einfach.
Aber im Verlauf der Zeit änderten sich sowohl das, was der Komponist in einem Chorlied für nötig hielt, als auch das Aufführungsniveau der Chöre. Wir können nur mit Bedauern Vītols Urteil zustimmen, wenn er 1933 zugab, dass seine Lieder zu kompliziert für die Chöre dieser Zeit geworden waren. Das bedeutete aber, dass Vītols seine Kompositionen in den blühenden Strom der lettischen Chorlieder eingegliedert hatte, der im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts reiche Frucht brachte und bis heute am Leben ist. Das ist ein Kapitel der lettischen Chorliteratur, das den Chor als ein technisch unabhängiges, starkes und kraftvolles Instrument betrachtet. Diese Stücke sind nicht in Reichweite eines jeden Laienchores. Komponisten besitzen das Recht, sich jeglicher Sprache zu bedienen, aber niemand darf je die Logik der Musik vernachlässigen! Diese Worte eines Meisters können mit gleichem Recht auf die Kunst der Komposition wie auf die der Interpretation angewandt werden.
Die Chorleitungs-Traditionen in Lettland
Der 6. Internationale Jāzeps Vītols Chorleiter-Wettbewerb wird 2019 stattfinden, wenn die Abteilung für Chorleitung ihren 75. Gründungstag feiert. Seit Gründung der Abteilung, und so der Gründung einer Ausbildungsstätte für hauptamtliche Chorleiter, konnten bemerkenswerte Erfolge verzeichnet werden, und mehr als 700 Chorleiter haben ihr Abschlussexamen am lettischen Jāzeps Vītols Staatskonservatorium und seinem Nachfolger, der JVLMA, bestanden. Die lettische Chorkunst und die Abteilung für Chorleitung erfahren weltweite internationale Anerkennung bei Chor- und Chorleitungs-Wettbewerben und Festivals. Der Chor des lettischen Rundfunks, der Staatschor Latvija, der Rigaer Kammerchor Ave Sol sowie eine Reihe führender lettischer Laienchöre nehmen an Konzerten teil, die von professionellen Veranstaltern und Agenturen in der ganzen Welt organisiert werden. Wahre Generationen von hervorragenden Dirigenten von Berufschören wie Teodors Reiters, Imants Kokars, Ausma Derkēvica, Edgars Račevskis, Sigvards Kļava, Kaspars Putniņš, Andris Veismanis, Māris Sirmais, Aira Birziņa, Mārtiņš Ozoliņš, Ainārs Rubiķis, Kaspars Ādamsons, Jānis Liepiņš und Jānis Ozols haben zur Kontinuität und Entwicklung der Tradition der “Feier des lettischen Liedes” beigetragen, und daneben – mit künstlerisch einfach großartigen Programmen – ihre eigene weltweite Identität konsolidiert.
Das Niveau der hauptamtlichen Dirigenten ist die Wurzel der Tradition der “Feier des lettischen Liedes”, d. h. die Sicherstellung des mehrstimmigen, unbegleiteten Chorsingens. Dieses Niveau, und die Entwicklung dorthin, sind nur möglich, wenn professionelle Erwartungen im Allgemeinen gestellt werden, und besonders im Bereich der Musikerziehung. Die Rolle der Chorleiter und Musiklehrer in der lettischen Kultur kann gar nicht zu hoch eingeschätzt werden, denn sie bringt der lettischen Kultur und Musik weltweite Anerkennung.
Der Zweck des 6. internationalen Jāzeps Vītols Chorleiter-Wettbewerbs besteht darin, die Kultur des Chorsingens in Lettland und die Tradition der “Feier des lettischen Liedes” in der ganzen Welt bekannter zu machen, und die ungebrochene Tradition des lettischen und europäischen Chordirigierens sowie das professionelle Ansehen dieses Berufsstandes zu verstärken. Die Tradition der “Feier des lettischen Liedes” hat sich zum wesentlichsten modernen nationalen Markenzeichen von Lettland entwickelt. Dies ist weitgehend den offiziellen hohen beruflichen Maßstäben zu verdanken, die seit der Gründung der Abteilung für Chorleitung 1944 auch in der Praxis eingesetzt werden.
Der Wettbewerb
Der Wettbewerb spielt sich in drei Runden ab.
Runde I
Dirigieren zum Klavier
Arbeit mit dem gemischten Chor der Musikhochschule
Runde II
Probe und Konzert mit dem Chor des lettischen Rundfunks und dem Rigaer Kammerchor Ave Sol
Runde III
Probe und Konzert mit dem Staatschor Latvija, dem gemischten Chor und dem Sinfonieorchester der Musikhochschule
Das Repertoire des Wettbewerbs umfasst sowohl lettische als auch westeuropäische Musik. Da wir lettische Komponisten in den Vordergrund rücken möchten, ist ein Chorlied von Jāzeps Vītols in der ersten und zweiten Runde Pflicht. Das Repertoire von Runde II besteht aus acht unbegleiteten Liedern von den besten lettischen Komponisten unserer Zeit. In Runde III und dem Galakonzert müssen die Teilnehmer Werke für Chor und Orchester von Johannes Brahms und von zeitgenössischen lettischen Komponisten aufführen. Darüber hinaus stehen auch Werke von Josef Gabriel Rheinberger und Francis Poulenc im Programm.
Junge Chorleiter jeglicher Staatsangehörigkeit, die nicht vor 1989 geboren wurden, sind herzlich eingeladen, sich bis zu 1. Juni 2019 zum Wettbewerb anzumelden!
Einzelheiten finden Sie, bitte, auf www.vitolakonkurss.lv
Die Tatsache, dass der akademische Lehrkörper der Abteilung für Chorleitung so viel Erfahrung besitzt, in der eigenen beruflichen Arbeit wie in der Veranstaltung von Chorleiterwettbewerben, sowie die künstlerischen Erfolge, die Sieger der vorangegangenen Ausgaben dieses Wettbewerbs inzwischen errungen haben, lassen keinen Zweifel, dass dieser Wettbewerb innerhalb der wenigen Wettbewerbe, die es auf der ganzen Welt nur für Chorleitung gibt, als Ereignis von hohem künstlerischen Rang gilt.
Aira Birziņa dirigiert seit 2000 den Mädchenchor TIARA der Kathedrale von Riga. Sie ist eine der hervorragendsten Dirigentinnen in Lettland und arbeitet in erster Linie mit Frauenchören. Sie unterrichtet Chordirigieren an der Jāzeps Vītols Hochschule für Musik in Lettland. Sie ist schon viele Jahre im Amt als Hauptdirigentin der berühmten lettischen Frauenchöre DZINTARS (Riga) und RASA (Ogre). Aira Birziņa ist auch eine der Dirigentinnen bei der “Feier des lettischen Liedes und Tanzes” (XXIII, XXIV, XXV, XXVI). Sie veranstaltet zahlreiche Workshops, nimmt an Konferenzen teil und wirkt als Mitglied der Jury bei internationalen Wettbewerben in Lettland und im Ausland. Ihr sind eine Reihe Preise verliehen worden: 2018 die Anerkennung des Kabinetts der Minister der Republik Lettland, 2015 der Orden der drei Sterne und der Kulturpreis “Weißer Spatz” der Stadt Riga, 2017 und 2018 der jährlich vergebene Kulturpreis der Stadt Ogre und 1999 der Preis des Kulturministeriums für Volkskunst. E-mail: ccc@jvlma.lv
Übersetzt aus dem Englischen von Irene Auerbach, Vereinigtes Königreich