Von Arthur Shahnazaryan, Dirigent, Komponist, Musikwissenschaftler
EINLEITENDE BEMERKUNGEN
Komitas ist der Gründer der armenischen Schule für Komposition und Musikwissenschaften. Er erreichte ganz allein für die armenische Musik, was zahlreiche Musikwissenschaftler, Komponisten und Ethnologen auf dem Gebiet der europäischen Musik gemacht haben. Komitas hat dem armenischen Volk seine Identität, seine Seele und seinen wahren Charakter zurückgegeben, die in den Tiefen seiner tausendjährigen Geschichte verschüttet lagen.
Er transkribierte mehr als 1.500 Volkslieder, die aus den verschiedenen Gegenden des historischen Armeniens stammen. Es sind die Juwelen des armenischen musikalischen Erbes, die er vor dem endgültigen Verlust bewahrte. Seine Transkriptionen zeugen von außergewöhnlicher Meisterschaft und enthalten auch alternative Fassungen der verschiedenen Stücke.
Die Lieder schildern so gut wie alle Sitten des täglichen Lebens der Armenier. Die von ihm gesammelten Melodien sind in Kategorien unterteilt wie rituelle Gesänge, Arbeitslieder (zum Pflügen, Brotbacken, Aussähen, Ernten, Wagenbau, Dreschen, Mehlmahlen, zu verschiedenen Hausarbeiten, Tischlerarbeiten, zum Ziegenmelken, Wiegenlieder usw.), epische Lieder, lyrische Lieder, Lieder an die Natur, Flüchtlingslieder, Klagelieder, Kinderlieder, Scherzlieder, Tanzlieder, Schlachtgesänge, heidnische Lieder, Tanzmelodien alter liturgischer Praxis und viele andere.
Auf der Grundlage des von ihm transkribierten Materials schrieb Komitas außergewöhnliche musikwissenschaftliche Studien. Er untersuchte die natürliche Umgebung, in der ein Lied entstanden war, und die Lebensumstände der Leute, die es sangen; er erstellte beispiellose Analysen, indem er ein Lied „sezierte“, um seine Struktur offenzulegen, das Gerippe, welches seine Muskeln, sein Blut und filigranste Sehnen formt; er entwirrte die Besonderheiten seines idiomatischen Dialekts und seiner Intonation; er erläuterte die Muster und Regeln seiner musikalischen Metrologie; er entdeckte allgemeine Grundzüge und enthüllte die besonderen, für die armenische Musik relevanten Regeln; er kodifizierte die musikalische Grammatik des armenischen musikalischen Ausdrucks. Seine Sondierungen waren in der Tat außergewöhnlich und beispiellos. In der Welt der Musikwissenschaften kann man kaum etwas finden, was einer so akribischen Analyse wie der seines „Das Pfluglied von Lori“ vergleichbar wäre. Mit seiner einzigartigen musikwissenschaftlichen Methodologie erforschte er die Struktur und Regeln der volkstümlichen und sakralen Musik.
Darüber hinaus schuf er Tabellen, um all diese Parameter klar und sichtbar zu machen. Hier nur ein Beispiel einer solchen Tabelle:
I. AMANAK (CHRONOS, DAUER)
a. Zeitliche, allgemein benutzte Werte
b. Zeitliche Interpunktionswerte in der Melodie
buth = stumpf (entspricht dem Doppelpunkt)
storaket = Komma
mijaket = Mittelpunkt (entspricht dem Semikolon)
verjaket = Endpunkt (entspricht dem Punkt)
c. Zeitwerte der Betonung
shesht = Akzent
harts = Fragezeichen
yerkar = lang
d. Verzierung
antsik = verklingender Ton
kankhik = Vorwegnahme
hapaghik = Aufhebung
shaghkap = Haltebogen (Alternation)
shegh = Alternation
e. Rhythmus
taghachaputiun = Prosodie (Metrik: 3/4, 2/4 usw.)
chap = Tempo (breit usw.)
II. MELODIE
- sahman = Spanne
- qarunak = Tetrachord
- kazm = Struktur
Eröffnungsmuster
Tonika (der Melodie)
Phrasen: Rezitationsphrasen, Kadenzphrasen, Schlussphrasen
Interpunktion
Betonung
Verschönerungen
Disjunktsprünge
Grundmuster der Melodie
Variationen der Grundmuster
Grundlagen der Melodie
III. VOGI, HAGAG (PNEUMA, GEIST)
a. Die Arten der Emotion
b. Die Rolle, die sie beim emotionalen Ausdruck spielen
- Dauer, mit ihren konstituierenden Bestandteilen
- Melodie, mit ihrer gesamten Struktur
Komitas machte sich mit erstaunlicher Bewusstheit nicht nur mit der armenischen sondern mit der östlichen Musik im allgemeinen bekannt. Während seines Studiums in Berlin tauchte er auch tief in die europäische Musik ein. Dort sahen hervorragende Musikwissenschaftler und Professoren im Studenten Komitas einen Kollegen. Er wurde Gründungsmitglied der neuen Internationalen Musikgesellschaft Berlins, deren Vorsitzender der prominente Musikwissenschaftler Oscar Fleischer war. Bald erlangte diese Gesellschaft überall in Europa großes Ansehen. Sie war Veranstalter internationaler Symposien, veröffentlichte wissenschaftliche Aufsätze und organisierte Konzerte und Lesungen, an denen sich auch Komitas beteiligte. Oscar Fleischer und Max Zeifert (Geschäftsführer der Gesellschaft) schrieben in Bezug auf die Vorträge von Komitas:
„Ich erachte es als meine Pflicht, Ihnen im Namen der Internationalen Musikgesellschaft Berlins überaus herzlich zu danken für die Bereitwilligkeit, mit der Sie durch Ihre Vorträge über armenische Musik die Ziele unserer Gesellschaft gefördert haben. Ihre gelehrsamen und tiefschürfenden Vorträge haben uns tiefe Einblicke in diese Musik gegeben, die wir bisher kaum kannten und uns Europäer vieles lehren kann. Die Arbeit, die Sie unternommen haben, ist alles andere als leicht, und ich kann im Namen aller, die Ihre Vorträge gehört haben, nur betonen – wenn ich es etwas feierlich sagen darf -, dass Ihre aufwendige Arbeit und Anstrengung nicht vergeblich sind. Wenn Sie Ihre Arbeiten veröffentlichen würden, würden Sie der gegenwärtigen Wissenschaft einen großen Dienst erweisen, und es wäre mir ein Vergnügen, Ihnen dabei behilflich zu sein.
Mit größter Hochachtung,
Oscar Fleischer.“
“Die große Sachkunde, mit der Sie uns in die Gewalt einer hochentwickelten und uns bisher unbekannten, noblen Kultur eingeführt haben, Ihre erstaunlich gelehrsame Darstellung dieser Tradition, die von wahrhaft überzeugendem Wert für ein schlüssiges Verständnisses unserer frühen westlichen Kultur ist, Ihre große Fertigkeit im Vortrag und im Gesang, all dies könnte uns in Erstaunen versetzt haben, aber es wird auch lebhaft im Gedächtnis Ihrer Zuhörer bleiben. Mit dieser Darbietung haben Sie nicht nur die Anerkennung unserer Gesellschaft verdient, sondern auf jeden Fall auch die definitive Würdigung der großen kulturellen Rolle, die Ihre Nation gespielt hat.
Ich füge hiermit den Ausdruck meines großen Respekts zum oben Gesagten hinzu und habe die Ehre, ehrwürdiger Priester, diesen Brief zu unterzeichnen.
Mit größter Hochachtung,
Dr. Max Zeifert,
Geschäftsführer der Internationalen Musikgesellschaft, Berlin“
Des Weiteren wiederbelebte Komitas – soweit möglich – die armenische Kirchenmusik vom fünften bis zum fünfzehnten Jahrhundert, eine Tradition, die ihre Wurzeln in der vorchristlichen Zeit hatte, da die armenische Kirche die Melodien alter Traditionen in ihre Liturgie aufnahm. Ab dem neunten Jahrhundert wurden kirchliche Melodien ins armenische Notensystem, welches khaz hieß, transkribiert. Allerdings gerieten gegen Ende des sechzehnten Jahrhunderts diese Symbole allmählich derart in Vergessenheit, dass niemand sie mehr lesen konnte. Fast 300 Jahre lang wurden die Lieder dann mündlich tradiert, wodurch sie Perversionen und fremden Einflüssen ausgesetzt waren (vor allem solchen, die östlichen Musikstilen ähnelten). Zunächst säuberte Komitas diese Lieder von unangemessenen, überflüssigen Schwankungen und Verzierungen und gab ihnen ihren ursprünglichen, einfachen aber prächtigen Stil zurück. Zwanzig Jahre lang beschäftigte er sich damit, die verlorengegangene Kunst des mittelalterlichen khaz (Neume) zu entziffern und entdeckte den Schlüssel, um ihre einfachsten Symbole und Figuren zu lesen. Leider machte der drohende Erste Weltkrieg und der Völkermord an den Armeniern vom Jahr 1915 dem schöpferischen Leben Komitas´ ein Ende.
Komitas gilt als Gründer der armenischen Kompositionsschule. Während seiner Studienjahre in Berlin versicherte Richard Schmidt, sein Lehrer, dass Komitas einen völlig neuartigen Stil der nationalen Kompositionskunst geschaffen habe. Schmidt sagte:
“Sie schufen einen edlen und einzigartigen Stil, der sich wie ein roter Faden glänzend durch die Gesamtheit Ihrer Schriften und Kompositionen zieht. Ich bezeichne diesen Stil als den armenischen, da er eine Neuigkeit in der Welt unserer musikalischen Erfahrung darstellt.“ Er wird auch so zitiert: „Komitas war ein glühender Ostländer, bereit, für jede einzelne Note Blut zu vergießen.“
Komitas steckt auch hinter der Gründung einer neuen nationalen Kompositionsschule, mit harmonischen und polyphonen Arrangements armenischer Lieder. Seine Wiedergaben entsprangen den besonderen Konfigurationen der armenischen Monodie. Monodie blieb im Zentrum seiner polyphonen Wiedergaben, da die Parameter der armenischen Monodie sich von den europäischen unterscheiden. Zum Beispiel: Den armenischen Modi liegt nicht die europäische Oktavstruktur zugrunde, sondern ein System einer verketteten Zusammenfassung von Tetrachorden, bei der das vierte Glied des ersten Tetrachords gleichzeitig das erste Glied des nächsten Tetrachords ist. Durch die Verkettung von Tetrachorden entsteht ein verminderter Heptachord, dessen Tonika dadurch in die Mitte geriet. Es gibt sechs Arten von Tetrachorden, aus deren verschieden verketteten Kombinationen verschiedene Modi und Melodietypen entstehen. Ein anderer Faktor nationalen Charakters ist die Textur. Komitas gelangte zum Beispiel zur Textur seiner Klavierwerke, indem er das besondere Aufführungspotential unserer Folkloreinstrumente studierte.
Komitas sagt:
“Wir Armenier müssen unseren eigenen Kompositionsstil kreieren und darauf selbstbewusst aufbauen. …ich werde mein Ziel erreichen, selbst wenn ich ihm mein ganzes Leben widmen muss.“ Er schreibt: „Von uns armenischen Musikern wird eine gründliche und umfassende Vertrautheit mit dem Wesen und den Anforderungen der klassischen europäischen Musik erwartet. Nachdem ich die Bedeutung dieser Tatsache unterstrichen habe, muss ich aber gleich hinzufügen: Wehe uns armenischen Musikern, wenn wir die Grundlagen der klassischen westlichen Musik meistern, ihre Entwicklungsgesetze und Leitlinien kennen, uns aber nicht bewusst bleiben, dass auch unsere nationale Musik ihre Besonderheiten hat mitsamt den Regeln und Erfordernissen, die sich daraus ableiten. Unsere Modelle wahllos durch die europäischen zu ersetzen, wäre das größte Vergehen, das an diesem Beginn unserer musikalischen Renaissance schon des öfteren verübt wurde, und ich fürchte, dass das so weitergeht.“
Nach dem Studium der Werke Komitas´ schrieb Thomas Hartmann: „Die Werke Komitas´ sind keine Kompositionen im üblichen Sinne, sondern Stilkreationen.“
Auf der Basis des volkstümlichen Gesangs und der Einzigartigkeit des Timbres der armenischen Stimmen gründete Komitas auch die nationale Singschule. Da er selbst ein außergewöhnlicher Sänger war, wurde er ihr vornehmster Vertreter (Musterbeispiele seines Gesangs sind auf alten Aufnahmen noch bewahrt).
Außer seiner kreativen Tätigkeit widmete sich Komitas noch einer Reihe erzieherischer Aufgaben. Er hatte zahlreiche Schüler und war sogar bei Vorschulprogrammen behilflich; er unterrichtete in Erziehungseinrichtungen und entwickelte Musikcurricula für künftige Studenten. Er gründete und leitete auch Chöre, die zahlreiche Konzerte gaben (bemerkenswert unter seiner Leitung war der Chor der Mutterkathedrale des Heiligen Ejmiatzin und sein beispielloser 300-Mitglieder-starker Chor in Konstantinopel). Komitas hielt Vorträge in den Städten Armeniens, in Georgien und quer durch Anatolien, in Ägypten, Jerusalem, Berlin, Paris, Zürich, Genf, Lausanne und Venedig.
Er hielt seine letzten Vorlesungen 1914, in Paris, während eines Symposiums der Internationalen Musikgesellschaft (zu der Zeit hatte sich die Organisation, die in Berlin entstanden war, sehr weit verbreitet, und auch 400 Vertreter der internationalen Musikwissenschaften gehörten ihr an).
Danach, im Jahr 1915, wurde Komitas, zusammen mit Hunderten armenischer Intellektueller, von der Jungtürkenregierung in die Tiefen Anatoliens verbannt, wo er Augenzeuge der Greueltaten wurde, welche die Türken an seinem Volk begingen. In der Zeit wurden eineinhalb Millionen Armenier massakriert. Wie durch ein Wunder diesem Gemetzel entkommen, verbrachte Komitas noch zwanzig fruchtlose Jahre in psychiatrischen Einrichtungen, bevor er 1935 verstarb.
Arthur Shahnazaryan wurde am 16. Juli 1958 im Dorf Vahagni in der Lori Region Armeniens geboren. 1986 machte er sein Examen in Komposition und Dirigat an den Musikinstituten des staatlichen Komitas Konservatoriums von Yerevan. Von 1988 bis 1994 leitete er das staatliche Konservatorium für Volkskunst von Yerevan. Von 1995 bis 1997 war er Leiter der Abteilung für Programmatik und Methodologie des Kultusministeriums der Republik Armenien. 2016 nahm er die Stelle als künstlerischer Leiter des ethnographischen Ensembles des Kultusministeriums der Republik Armenien an. Shahnazaryan gehört der Leitung der Komponistenvereinigung Armeniens an und veröffentlichte mehrere wissenschaftliche Arbeiten über die armenische mittelalterliche khaz Notation, ihre Kultur, Ethnographie, Volkskunst und Erziehung. Er ist Autor musikalischer Kompositionen und Experte für Komitas. Er lehnt jedwede Art von Auszeichnungen und Preisen ab. Er war Vorsitzender der Jury bei vielen Festivals und Wettbewerben und hat in allen staatlichen Konzertsälen Yerevans viele Konzerte und musikalische Aufführungen organisiert. Er hat Konzertvorträge gehalten und Erziehungsprojekte in Rumänien, Ungarn, den USA, Frankreich, Deutschland, Dänemark und Norwegen geleitet. Email: alschoir@gmail.com
Übersetzt aus dem Armenischen ins Englische von Vatsce Barsoumian (Dirigent, Musikdirektor der „Lark Musical Society“ von Glendale, Kalifornien, USA)
Übersetzt aus dem Englischen von Reinhard Kißler, Deuutschland
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