Von Oscar Escalada, Komponist, Arrangeur, Chorleiter und Musikwissenschaftler
Wenn von lateinamerikanischer Musik die Rede ist, denkt man sofort an beschwingte, rhythmisch betonte, synkopierte Musik. Das ist vielleicht auch gar nicht so falsch, aber es ist nicht immer so. Die Musik Amerikas ist das Ergebnis einer Verschmelzung dreier großer Kulturen: der einheimischen, der europäischen und der afrikanischen. Das hat dieser Musik ein einzigartiges Flair und eine breite Palette diverser Rhythmen und Stile beschert, wie Jazz, Tango, Salsa oder Bossa Nova, die allesamt sehr unterschiedlich sind.
Forscher nennen diese Mischung „indianische Kultur“ aufgrund der irrigen Annahme, dass die ersten spanischen Eroberer den Weg zum östlichen Indien gefunden hatten. Nachdem Amerigo Vespucci entdeckt hatte, dass es nicht das östliche Indien war, sondern eine gänzlich „neue Welt“, veröffentlichte 1507 der deutsche Geograph Martin Waldseemüller in seiner Cosmographiae Introductio eine Karte mit der von Vespucci entworfenen geographischen Aufteilung. Er nannte dieses neue Land Land von Americo. Weil alle übrigen Kontinente aber Namen mit weiblichen Endungen trugen, wurde das Land von Americo bald zu Amerika. Von daher gesehen ist es abwegig, die Vereinigten Staaten von Amerika Amerika und ihre Einwohner Amerikaner zu nennen, da dies die anderen amerikanischen Länder von Kanada bis Südamerika einschließlich deren Bevölkerungen außer Betracht lässt. Alle anderen Länder Amerikas wären hocherfreut, wenn die Bürger der Vereinigten Staaten diesen Irrtum einsehen und ihrem Land einen Namen ihrer Wahl geben würden, nicht aber „Amerika“ (siehe Abbildung).
Das tut jedoch nichts zum Ursprung und der Entwicklung der indianischen Kultur, die die westliche Hemisphäre auf vielfältige Weise stark beeinflusst hat.
Man kann die musikalischen Elemente, die eine jede dieser Kulturen mit all ihren Auswirkungen in die neue Welt eingebracht hat, kurz so beschreiben: Europa lieferte Tonarten und Tonleitern, Afrika synkopierte Rhythmen, und die Einheimischen steuerten tritonische und pentatonische Tonleitern bei. [Die tritonische Tonleiter hat nur drei Töne entsprechend einem Durdreiklang in der europäischen Tradition, vermutlich gegründet auf den Obertönen der einheimischen Blasinstrumente und ohne die harmonische Funktion eines Dreiklange. Anm. der engl. Übersetzerin nach Rücksprache mit dem Verfasser] Aus Afrika kamen alle Arten von Trommeln, aus Europa Saiten- und Blasinstrumente. Die Einheimischen benutzten nur einige meistenteils monochordische Saiteninstrumente, die nicht zu melodischen Zwecken, sondern als Rhythmusinstrumente eingesetzt wurden, wie z.B. die brasilianische Berimbau. Allerdings hatten sie auch eine Reihe aërophoner und Schlaginstrumente wie z.B. Idiophone. Die Chordophone passten sich nach und nach den verschiedenen Regionen an, und so entstanden auf der Basis von Vihuela bzw. Gitarre die Charango, die in Peru, Ecuador, Bolivien, Chile und Argentinien benutzt wird, oder die Cuatro in Venezuela. (siehe Abbildung)
Die indianische Kultur ist in zwei Einflussbereiche unterteilt: das Gebiet des ternären, im Dreiertakt gehaltenen Liedguts im westlichen, und das des binären, im Zweiertakt gehaltenen Liedguts im östlichen Teil des amerikanischen Kontinents. Die Spanier übten ihren Einfluss in den westlichen Regionen durch die beiden wichtigsten kulturellen Zentren Mexiko und Hochperu aus, während der östliche Teil seine Einflüsse direkt aus Afrika bezog.
Der Einfluss des ternären Liedguts erstreckte sich auf die ländlichen Gebiete von Mexiko bis Argentinien. Die Ähnlichkeiten in ihren Rhythmen, wie die Überlagerung und/oder das Nebeneinander von 3/4 und 6/8, sind typisch für einen Großteil der lateinamerikanischen Länder.
Das im östlichen Teil vorherrschende binäre Liedgut war dagegen städtischer und ist das in der übrigen Welt bekanntere. Der Einfluss der schwarzen Musik war derartig stark, dass man ohne weiteres behaupten kann, dass es in der amerikanischen Musik nicht eine Note gibt, die von ihr nicht beeinflusst worden wäre.
Hanaqpachap
Die erste polyphone Komposition der Neuen Welt, die uns überliefert ist, ist die Hanaqpachap. Sie wurde 1631 in Cusco, Peru, veröffentlicht und vom Priester Don Juan de Bocanegra in San Pedro de Andahuailillas aufbewahrt. (siehe Abbildung)
Hanaqpachap ist ein gutes Beispiel für kulturellen Synkretismus, da sie im Renaissance-Stil, aber auf Quechua, der Sprache der Inkas, geschrieben wurde (siehe Abbildung).
(Click on the image to download the full score)
Obwohl der Komponist unbekannt ist, wurde sie meiner Meinung nach vielleicht von einem eingeborenen Lehrling geschrieben, denn sie enthält unübliche Parallelismen sowie plötzlich auftauchende dissonante Techniken, was zu der Zeit ungewöhnlich war. (1)
Die Musik in Argentinien
Folkloristische Musik
Ähnlich wie in vielen lateinamerikanischen Ländern teilt sich auch die Musik Argentiniens in ternäre und binäre Muster auf. Entsprechend den oben vorgestellten Karten stand zu Zeiten des Vizekönigreichs Rio de la Platas die westliche Region, von Hochperu ausgehend, unter spanischem Einfluss. Die „Silberstraße“ zog sich von Nordwesten nach Südosten quer durch das Vizekönigreich und endete am Hafen von Buenos Aires, um von dort aus den Ozean in Richtung Spanien zu überqueren.
Das rhythmische Grundmuster dieser Region ist das Nebeneinander sowie die Überlagerung von 3/4 und 6/8, wie in folgender Figur zu sehen:
Folkloristische Rhythmen wie chacarera, gato, zamba, cueca etc. benutzen dieses Muster. Sie können je nach Stilart schneller oder langsamer sein. Die Zamba ist langsamer als chacarera, gato oder cueca. Der Unterschied zwischen diesen Liedern beruht auf der Form.
Sie ist zu beizubehalten, weil es sich um Tänze getrennter Paare mit jeweils spezifischer Choreographie handelt. Man kann sagen, dass gato und chacarera den gleichen Rhythmus haben. Der Unterschied liegt in der Form, was mit der Choreographie zu tun hat.
Unabhängig von diesem ternären Muster finden sich auch binäre Rhythmen, wie z.B. der carnavalito.
Tango
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts und zwischen den beiden Weltkriegen gab es in Uruguay und Argentinien große und wichtige Einwanderungswellen, die einen enormen Einfluss auf tango, candombe und milonga hatten, die drei urbanen Rhythmen binären Musters aus dieser Region. Aber auch der Beitrag der schwarzen Musik war von großer Bedeutung, vor allem für den candombe. Allerdings taucht das Grundmuster dieser Rhythmen auch in anderen Musikstilen auf, die wir entlang der Atlantikküste Amerikas, vom Mexikanischen Golf bis zum Rio de la Plata, vorfinden. Dieses Muster hat je nach dem Land, wo es sich entwickelt hat, verschiedene Bezeichnungen: Habanera in Cuba, Maxixe in Brasilien, Tango in Argentinien, Candombe in Uruguay, etc. Wir finden es sogar auf dem Gebiet der USA wieder, in frühen blues und ragtime wie dem St. Louis Blues von W.C. Handy oder dem Solace von Scott Joplin.
In jeder dieser Regionen machte das Muster eine besondere Entwicklung durch. Als Beispiel wollen wir einen Blick auf den Tango werfen.
Meiner Ansicht nach hat das Wort Tango seinen Ursprung in der Quechua-Vokabel tanpu, was „Treffpunkt von Leuten“ bedeutet. Die Spanier formten dieses Wort zu tambo um, da das Spanische nicht über die Lautfolge ‘np’ verfügt. Später wurde es dann zu tango. (2)
Um 1870 unterschied sich der Tango-Rhythus kaum von habanera, candombe und milonga, abgesehen davon, dass der Candombe einen Akzent auf dem letzten Achtel jeden Taktes hat und die milonga auf jedem betonten Schlag.
Die Candombe festigte sich in Montevideo, Uruguay, und machte eine andere Entwicklung durch als die milonga, die sich in der Provinz von Buenos Aires hielt, wenngleich sie auch noch im Stadtgebiet von Buenos Aires anzutreffen war, wo sie jedoch mehr oder weniger im Tango aufging.
Um 1940 wurde der Tango unter dem Einfluss des Krieges und der Militärregierungen als eine Art Marsch (*) mit folgendem Rhythmus gespielt:
Gegen 1960 wurde der Rhythmus durch den Einfluss Astor Piazzollas allmählich zu:
(*) Der Geiger und Bandoneon-Spieler Emilio Balcarce(1918-2011), Gründer des Orquesta Escuela de Tango von Buenos Aires, erwähnte dies in seinen Klassen. Maestro Balcarce starb im Alter von 92 Jahren und war Zeuge der Geschichte dieses Genres.
Das Verhältnis zwischen klassischer und populärer Musik
Klassische Komponisten wie Alberto Ginastera in seinem Ballett Estancia oder Carlos Guastavino in seinen Indianas für Klavier und gemischtes Vokalquartett (3), oder Ariel Ramirez in seiner Misa Criolla (4), sowie viele andere benutzten folkloristische Rhythmen als Inspirationsquelle für ihre Werke, die bei einigen subtil eingebaut waren, während andere sie unverändert übernahmen.
Andererseits haben Tango-Komponisten aber auch Ideen der klassischen Musik übernommen, wie z.B. Astor Piazzolla, der Kompositionsformen wie die Fuge benutzt, während er in seinen “Jahreszeiten von Buenos Aires” auf die “Vier Jahreszeiten” von Vivaldi zurückgriff (5). Diese Suite Piazzolas besteht aus Sommer, Herbst, Winter und Frühling in Buenos Aires (6). Invierno stellt eine Art Homage Piazzollas an Vivaldi dar, da er am Schluss eine charakteristische harmonische Sequenz benutzt.
Abschließend lohnt es sich darauf hinzuweisen, dass große Dichter wie Jorge Luis Borges an Texten für Tango-Lieder mitgearbeitet haben, woran man die Bedeutung ablesen kann, die die Argentinier ihrer nationalen Musikform beimessen.
Einige Herausgeber und Links zur argentinischen und lateinamerikanischen Musik:
Lateinamerikanische Chormusik – (Latin American Choral Music)
www.latinamericanchoralmusic.org
Lateinamerikanische Chormusikreihen – (Latin American Choral Music Series)
http://www.kjos.com/sub_section.php?division=2&series=109
Ediciones GCC –
Porfiri & Horvath Publishers (Los cantares de América Latina) –
Earthsongs –
Anmerkungen
1) – Oscar Escalada. Hanaqpachap, the first published work (and composed?) in the New World, Forschungen für die Universität von La Plata, veröffentlicht im Choral Journal, herunterzuladen in www.oescalada.com.ar
2) – Oscar Escalada. Origen de la voz tango. ibíd.,
3) – Oscar Escalada. Carlos Guastavino, ibid. Veröffentlicht im International Choral Bulletin, herunterzuladen in www.oescalada.com.ar
4) – Oscar Escalada. Misa Criolla, ibid., veröffentlicht im Choral Journal
5) – Oscar Escalada. Astor Piazzolla, ibid.
6) – Die komplette Suite für SATB und Klavier wurde von Neil A. Kjos im Musikverlag in San Diego, California, veröffentlicht.
Oscar Escalada ist Professor, Komponist, Arrangeur, Chorleiter sowie Publizist und Herausgeber von Chormusik. Außerdem ist er Vizepräsident des Argentinischen Verbands für Chormusik, “America Cantat” (AAMCANT). Dieser Verband gründete 1992 das America Cantat Festival und bereitet zur Zeit für 2013 das siebte Festival in Kolumbien vor. Er ist Gründer des Kinderchors des “Teatro Argentino de La Plata”, des Opernhauses der Provinz von Buenos Aires, der Kammerchorgruppe „Coral del Nuevo Mundo“, des Jugendchors der Musikabteilung des „Gymnasiums für Schöne Künste“ an der Universität von La Plata und des Seminar-Chors des Konservatoriums von La Plata. Escalada wurde zu Vorträgen, zur Durchführung von Workshops und Seminaren sowie als Jurymitglied eingeladen in Argentinien, den USA, in Venezuela, Cuba, Ecuador, Spanien, England, Frankreich, Griechenland, Italien, Mexico, Deutschland und Südkorea. Er war Gastdozent beim 5. Welt-Symposium für Chormusik der IFCM in Rotterdam; bei der ACDA National Convention in Chicago und Detroit. Beim 9. Welt-Symposium für Chormusik, IFCM, in Puerto Madryn wird er Koordinator der Komponistentreffen sein. Er ist Leiter der von Neil A. Kjos, Music Co. in San Diego, USA, herausgegebenen Lateinamerikanischen Chormusikreihe sowie Berater der Herausgeber Porfiri & Horvath in Deutschland. Seine Kompositionen und Arrangements werden in den Vereinigten Staaten, in anderen Ländern Amerikas und verschiedenen europäischen and asiatischen Ländern häufig aufgeführt. Email: oscarescalada@mac.com
Aus dem Spanischen übersetzt von Reinhard Kißler, Deutschland
Edited by Diana Leland, USA and Irene Auerbach, England