Mit den Augen hören - SING&SIGN e.V.

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Susanne Haupt, Singer, Germany

SING&SIGN in einem Satz beschrieben

Der gemeinnützige Leipziger Verein SING&SIGN e.V. [Singen und Zeichen geben] macht mit seinem inklusiven Ensemble, bestehend aus hörbehinderten, mehrfachbehinderten und hörenden professionellen sowie semiprofessionellen Musiker*innen, vor allem Vokalwerke von J.S. Bach auch der Gebärdensprachgemeinschaft zugänglich, indem hörende und hörbehinderte Mitwirkende mit Gebärdensprache musizieren.

Intention 

Für hörbehinderte Mitwirkende oder Konzertbesucher*innen ist Bachs Musik, die einen wesentlichen Teil unserer Kultur ausmacht, kaum zugänglich. Besonders im Bereich der klassischen Musik fehlt oft noch der Teilhabegedanke. Johann Sebastian Bach hat gesagt: „Mit aller Musik soll Gott geehrt und die Menschen erfreut werden.“ Um dem gerecht zu werden, alle Menschen zu erfreuen und niemand zu exkludieren, ist eine Intention dieses Projektes das Verbinden der Kultur der klassischen geistlichen Musik und der Gebärdensprachkultur, die meist nebeneinander, statt miteinander leben.

Ensemble

Das Ensemble wurde 2017 von der Sopranistin Susanne Haupt gegründet und steht unter der Schirmherrschaft des Thomaskantors i.R. Prof. Gotthold Schwarz, des Intendanten des Leipziger Bachfestes Prof.Dr. Michael Maul und des Leiters des CI-Zentrums des Universitätsklinikums Leipzig Prof. Dr. Michael Fuchs.

Es besteht inzwischen aus etwa 50 hörbehinderten, mehrfachbehinderten und hörenden Akteur*innen, überwiegend junge Erwachsene, und vereint mehrere Gruppen:

    • Die Berufsmusiker*innen des Ensembles sind namhafte freiberufliche Gesangssolist*innen und Instrumentalist*innen, die ein Barock-Ensemble bilden.
    • Der Gebärdenchor setzt sich zusammen aus semiprofessionellen Vokalist*innen und Menschen mit verschiedenen Behinderungen wie Hörbehinderung, Sehbehinderung, Tourette Syndrom, AVWS oder Lernbehinderung, Autismus, Körperbehinderung.
© Joerg Singer Photography
Regional und überregional

In der bekannten Musik- und Bachstadt Leipzig werden innerhalb des Kirchenjahres neben wöchentlichen Bach-Kantaten des Thomanerchores jährlich jeweils rund 30 Bachsche Weihnachtsoratorien und Passionen erarbeitet und aufgeführt. Von Hörenden für Hörende und damit nicht barrierefrei. Um dem meist unbeachteten Publikum der Hörbehinderten auch eine Möglichkeit zu bieten, regelmäßig an dieser Tradition teilzuhaben, wird durch das Ensemble jährlich je eine audiovisuelle, teils interaktive und szenische, barrierefreie Aufführung dieser Werke innerhalb des Kirchenjahres angeboten: in der Adventszeit Kantaten des Weihnachtsoratoriums und in der Passionszeit die Johannes-Passion, dazwischen ausgewählte Kantaten oder Motetten und ein Kinder-Mitmachkonzert. Die Johannes-Passion hatte im April diesen Jahres ihre Premiere. In Planung ist, ab Dezember 2023 in Kooperation mit der Taborgemeinde jedes Jahr eine Kantate des Weihnachtsoratoriums barrierefrei aufzuführen, bis alle 6 Kantaten erarbeitet sind. Diese Konzerte sollen einen festen Platz in den Konzertkalendern innerhalb und außerhalb Leipzigs finden. Die Gebärdensprachgemeinschaft wird mit einem Teil der Konzerteinnahmen unterstützt. Damit ist Leipzig die erste Stadt in Deutschland, die mit diesem Pilotprojekt regelmäßig barrierefreie Bach-Werke aufführt. Andererseits soll dieses innovative, bisher einzigartige Projekt, in anderen Städten vorgestellt werden, um auch dort Hörbehinderte zu erreichen. Teils in Kooperation mit anderen Ensembles und Institutionen, um möglichst viele mit dem Thema dieser Inklusion zu erreichen und etwas in der Richtung zu bewegen.

© Joerg Singer Photography
Inklusion Braucht Kultur — Kultur Braucht Inklusion

Das Erlernen der DGS von Hörenden und das Einbeziehen von Hörbehinderten in die musikalische Arbeit ist ein Schritt in Richtung einer kleineren, aber besonderen Kulturgemeinschaft. Denn die Mehrheitsgesellschaft sollte nicht aus der Überlegenheit der Masse heraus erwarten, dass andere Sprach- und Kulturgemeinschaften ihre Sprache verstehen und sich dieser vollständig anpassen.

Die übliche Praxis, in welcher Dolmetscher*innen oder Hörbehinderte neben und nicht mit den Musizierenden gebärden, ist beispielsweise für das Ensemble ein Bild der Trennung und nicht des Verbindenden. Denn dabei kommunizieren Hörende und Hörbehinderte größtenteils wieder nur unter sich. Aus diesem Grund kommunizieren die hörenden Sänger*innen des Ensembles mit Hilfe der Gebärden mit der Gehörlosengemeinschaft im Bereich Musik direkt, aus Respekt für diese Kultur, auch wenn sie Sprachanfänger sind. Dabei wird die Musik sicht- und greifbar und gibt damit etwas an diejenigen zurück, von denen sie die Sprache lernen. Auch die Hörbehinderten gebärden die Musik mit den Hörenden gemeinsam und gewinnen so Einblicke in die Welt der Musik. So kann zwischen den Kulturen ein Austausch fließen, von dem beide profitieren.

Neben den Texten der musikalischen Werke lernen die Hörenden die Grundlagen der Gebärdensprache, damit sie sich mit den Hörbehinderten austauschen und Gemeinschaft leben können.

© Joerg Singer Photography
Einblick in den Ablauf

Zunächst werden die biblischen Texte in Zusammenarbeit mit Hörbehinderten, Theolog*innen und Gebärdensprachdolmetscher*innen in die Deutsche Gebärdensprache (DGS) übersetzt und verschriftlicht. Anschließend werden sie per Video als Lernhilfe für die Sänger*innen visualisiert. Da sich die Gebärdensprache in Satzbau und Stellung von der Grammatik der Lautsprache unterscheidet, gibt es zwei Übersetzungen. Eine in DGS für die hörbehinderten und eine DGS-nah für die hörenden Sänger*innen. In wöchentlichen Ensembleproben lernen dann alle Sänger*innen Gebärden und Musik auswendig: die Hörenden lassen die Vokalmusik erklingen und gebärden dazu unter Anleitung DGS- nah, die Hörbehinderten gebärden in DGS im Metrum der Musik, gemeinsam mit den Hörenden, ebenso unter Anleitung. Es gibt also eine musikalische Leitung, eine Gebärden-Leitung für die Hörenden und eine für die Hörbehinderten. Begleitet von einer/m Dolmetscher*in. Da das noch niemand versucht hat, wurde hierfür ein Konzept erarbeitet und stetig weiterentwickelt. Durch die zum Teil mehrfachen Behinderungen der hörbehinderten Mitglieder ist zudem eine intensive methodisch-didaktische und sozialpädagogische Arbeit erforderlich. Ebenso für die szenische Umsetzung, deren Proben auf die musikalischen Gebärdenproben folgen und in die dann auch die Solist*innen und das Orchester eingebunden werden. Hierbei visualisieren die Sänger*innen auch instrumentale Motive mit Gebärden, um einen Großteil der gesamten Musik abzubilden. Sämtliche Organisation wie Verwaltung, Regie, Veranstaltung, Probenarbeit, Öffentlichkeitsarbeit, Akquise, Finanzierung, Konzepte, Vereinsarbeit, Programmatik…wird bisher ausschließlich vom inklusiven Ensemble bewerkstelligt und bietet allen Entwicklungschancen.

© Joerg Singer Photograph
Ziele

Durch die gemeinsame Pflege geistlicher Vokalmusik, insbesondere des Bachschen Erbes, durch und für Hörbehinderte und Hörende, werden gemeinsam kulturelle Traditionen und Werte gelebt. Mit der Konzertreihe „Mit den Augen hören“ widmet sich das Ensemble neben Bach zudem auch anderen Komponist*innen. Es werden dabei Schranken und Berührungsängste zwischen Hörenden und Hörbehinderten abgebaut. Die Inklusion Behinderter an Musik-Freizeit und Bildung, sowie soziale, kulturelle Teilhabe ist das wesentliches Anliegen des Projektes und trägt zur Stärkung und öffentliche Wahrnehmung dieser Minderheit bei. Im Fokus steht dabei das gemeinsame Wirken und Erleben von Hörbehinderten und Hörenden. Von der Projektentwicklung, über die Organisation bis zur Umsetzung.

Zielgruppe 

Ein Konzert soll ein Gewinn für hörendes und hörbehindertes Publikum sein, so wie es auch innerhalb des Ensembles der Fall ist.Hörbehinderte Menschen, egal ob sie von Geburt an taub, an einer auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung leiden (AVWS), erst mit der Zeit schwerhörig oder ertaubt sind, können Musik nicht oder nur eingeschränkt wahrnehmen, teilweise über Vibrationen im Raum, Hörgeräte, Hörimplantate oder das verbleibende Hörvermögen. Sie bekommen Unterstützung beim Einordnen von wahrgenommenen Klängen wie die Unterscheidung von hohen und tiefen Tönen oder die Zuordnung der Instrumente und Stimmgruppen.

Hörende werden durch die Visualisierung mittels Gebärden werden sie im differenzierten Hören der einzelnen Stimmen unterstützt. Die Gebärden lassen die Mehrstimmigkeit sichtbar werden und geben der Musik somit eine zusätzliche Erlebnisdimension und emotionale Tiefe.

Bisherige Erfolge

2022 konzertierte das Ensemble neben dem Bachfest und dem Deutschen Chorfest in Leipzig bei den Thüringer Bachwochen in Erfurt. Es gastierte beim Heinrich-Schütz Musikfest in Dresden, Gera und Weißenfels, zum Chorfest Magdeburg mit dem Konzertprogramm „Schütz-mit den Augen hören“.

Außerdem im Theater Iserlohn zusammen mit dem Delian Quartett mit Bachs Kunst der Fuge. Es wurde zu verschiedenen Workshops auf Tagungen eingeladen, beispielsweise zur Fachtagung des Deutschen Gehörlosenbunds nach Berlin. Durch diese im Klassiksektor einzigartigen und emotional berührenden Aktivitäten sind u.a. der Deutsche Gehörlosenverbund oder die New York Times auf das Ensemble aufmerksam geworden.

Beim vom MDR ausgelobten Wettbewerb „Freie Sendezeit für freie Künstler“ konnte das Ensemble einen der Gewinnerplätze belegen. Ebenso gewann es mit „Beethoven- mit den Augen hören“ einen Gewinnerplatz des vom Bundesmusikverband Chor und Orchester e.V. ausgeschriebenen Videowettbewerbes „Beethoven…anders“.

 

Die Sopranistin Susanne Haupt, aufgewachsen in Kairo, Berlin und Dresden, studierte an der Leipziger Musikhochschule klassischen Gesang. Sie wirkte als Gast in verschiedenen Inszenierungen der Oper Leipzig und der Musikalischen Komödie mit. Im Zentrum ihres künstlerischen Schaffens steht das Singen Alter Musik. Sie konzertiert mit verschiedenen Soloprogrammen unterschiedlicher kammermusikalischer Besetzung. Als Konzertsolistin wird sie vor allem im Oratoriengesang engagiert, wobei sie mit renommierten Dirigent*innen und Klangkörpern zusammenarbeitet. Die große Leidenschaft der Sängerin gilt den Werken von Johann Sebastian Bach. Um auch hörbehinderte Menschen an seiner Musik teilhaben zu lassen, gründete die Sopranistin das inklusive Ensemble „SING&SIGN“, mit dem sie innerhalb der von ihr konzipierten Konzertreihe „BACH-mit den Augen hören“, das viele seiner geistlichen Vokalwerke mit Gebärdensprache zur barrierefreien Aufführung bringt. Als Gesangspädagogin gibt sie ihr Wissen als Stimmbildnerin weiter. Sie arbeitete als Kinderstimmbildnerin der Oper Leipzig und derzeit beim Projekt „Singt euch ein“ der Musikschule „Johann Sebastian Bach“ Leipzig. E-Mail: singandsign@web.de

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